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Der Bettelkönig

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Allein der Titel klingt majestätisch, machtvoll, ja irgendwie magisch: Filmzar von Los Angeles. Man muss dabei sofort an Yul Brynner in „Anastasia“ denken, an Michael Jayston in „Nicholas and Alexandra“ oder an Maximilian Schell in „Peter the Great“. Es ist eine Aufforderung an das Gehirn, ein großartiges Bild zu zeichnen von einem Mann, der zufrieden sein Königreich betrachtet, während gerade über dem Pazifik die Sonne untergeht.



Der neue Filmzar soll Hollywood vor dem Verfall retten

Ken Ziffren trägt diese wunderbare Bezeichnung seit wenigen Wochen, er sieht nicht aus wie Yul Brynner oder Michael Jayston oder Maximilian Schell. Er schaut ein bisschen aus, als würde er in Fernsehserien den schrulligen Onkel verkörpern, den alle mögen und der in jeder Folge durch weise Worte, ein nettes Geschenk oder ein spontanes Fest für ein glückliches Ende sorgt. Wenn er grinst, schiebt er den Unterkiefer nach vorne, hinter der randlosen Brille sind die Augen eines Schelms zu erkennen, seine Stimme ist tief und ruhig. Eine Krawatte oder Fliege trägt er bei öffentlichen Auftritten nur dann, wenn es nicht anders geht.

Ziffren ist 73 Jahre alt, bei seiner Vorstellung am 10. Februar durch Bürgermeister Eric Garcetti trug er eine blaue Krawatte, er grinste nicht. Dieser Filmzar von Los Angeles ist in Wirklichkeit arm dran, denn er ist der Bettelkönig von Hollywood. Seine Aufgabe: Er soll dafür sorgen, dass nicht noch mehr Filme und Fernsehserien außerhalb Kaliforniens produziert werden. Dazu muss er die Politiker im Bundesstaat davon überzeugen, mehr Geld zu investieren.

Wer Ziffren zuhört, der bekommt vom Gehirn ein neues Bild geliefert: von einem Mann, der am Mulholland Drive steht und sieht, wie die Stadt unter ihm langsam absäuft. Wie Menschen flüchten. Wie das Y des Hollywood-Zeichens trostlos am Hügel baumelt und im nächsten Moment einfach hinunterplumpst.

„Es ist ein kritischer Moment für unsere Industrie und die gesamte Wirtschaft“, erklärt Ziffren. Und: „Wenn wir uns jetzt nicht wehren, dann sind diese Arbeitsplätze für immer verloren. Es geht hier um Jobs für Tischler, Elektriker, Maskenbildner. Arbeitsplätze, die es einem erlauben, am Ende des Monats etwas für die Rente und die Ausbildung der Kinder zurückzulegen. Wir können es uns nicht leisten, Tausende dieser Jobs zu verlieren, die die Unterhaltungsindustrie kreiert.“

Der Filmzar von Los Angeles ist also nicht der Verwalter eines glamourösen Imperiums, er ist ein Krisenmanager – der nicht einmal anständig bezahlt wird. Ziffren bekommt exakt einen Dollar Jahresgehalt, mehr wolle er gar nicht. Auf diese Weise könne er der Stadt, der er so viel zu verdanken habe, etwas zurückgeben: „Der Bürgermeister war so nett mir zu sagen, dass ich die Fähigkeiten dazu habe und dass er mir vertraut. So ist das also gekommen, jetzt bin ich begeistert und freue mich darauf.“

Ziffren ist erst der dritte Zar in der Geschichte Hollywoods. Im Jahr 1922 beschlossen die Filmstudios nach zahlreichen Skandalen, dass es sich lohnen könnte, jemanden anzustellen, der aufräumt und das ramponierte Image wieder aufbessert. Sie bezahlten William Hays ein damals unglaubliches Jahresgehalt von 100000 Dollar, offiziell war er Präsident der Motion Picture Producers and Distributors of America, inoffiziell wurde er einfach Filmzar genannt.

In einer Karikatur in der Pittsburgh Sun von 1922 wurde die Aufgabe von Hays damals klar dargestellt: Er sollte eine in Laster, Mord und Sünde ertrinkende Filmindustrie retten. Hays ließ sich Drehbücher zuschicken, äußerte Änderungsvorschläge, verlangte Kürzungen. Im Jahr 1930 trat der Motion Picture Production Code in Kraft, der bis zum Jahr 1968 galt und Regeln enthielt wie etwa, dass „ausschweifendes und lustvolles Küssen zu vermeiden sei“. Hays war 25 Jahre lang Filmzar, danach gab es erst einmal keinen mehr. Es wurde keiner gebraucht, alles lief prächtig.

Doch die aktuelle Krise in Hollywood (siehe Text rechts) ist eine andere, sie hat weniger mit expliziten Filmszenen zu tun, sondern vielmehr damit, dass kaum noch Szenen gedreht werden in dieser Stadt. Besonders deutlich wird das bei der Verleihung der Academy Awards am kommenden Sonntag werden. Natürlich kommen sie an diesem Tag alle gerne nach Los Angeles: Schauspieler, Regisseure, Produzenten. Sie werden über den Roten Teppich vor dem Dolby Theatre flanieren und die besten Filme dieses Jahres feiern. Nur: Diese Filme werden kaum noch in Los Angeles gedreht. „Gravity“ etwa, der Favorit auf die Auszeichnung zum besten Film des Jahres, entstand in Großbritannien und im amerikanischen Bundesstaat Arizona. Der Außenseiter „Her“ ist das einzige in dieser Kategorie nominierte Werk, das tatsächlich in Hollywood produziert worden ist.

Wie schlimm es gekommen ist, zeigt eine Karikatur in der Los Angeles Times. Eine blonde Frau im goldenen Kleid beschwert sich, dass niemand zu ihrer Poolparty gekommen sei: „Wo sind die nur alle?“ Die Antwort ihrer Assistentin: George Clooney filmt in New York, Brad Pitt in Vancouver, Meryl Streep in Louisiana. So sieht sie aus, die bittere Wahrheit für Los Angeles und Kalifornien: 40 Bundesstaaten locken die Produzenten mittlerweile mit üppigen Förderungen und Steuererleichterungen. New York etwa verfügt über ein Budget von 420 Millionen Dollar pro Jahr, gerade erst wurde der Umzug der „Tonight Show“ von Los Angeles nach New York mit 20 Millionen Dollar gefördert. In China wird gerade für acht Milliarden Dollar das größte Filmstudio der Welt gebaut, zur Grundsteinlegung reisten John Travolta, Catherine Zeta-Jones und Leonardo DiCaprio an.

Bereits im Oktober rief Garcetti deshalb den Notstand aus. Er ernannte Tom Sherak, ehemals Präsident der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences, zum Filmzaren. Er wurde dringend gebraucht. Sherak, der vor mehr als zwölf Jahren an Krebs erkrankt war, starb am 28. Januar. Als seine Ärzte ihm mitgeteilt hatten, dass ihm nicht mehr viel Zeit bliebe, rief er Garcetti an und erklärte ihm eine Stunde lang seinen Plan, wie die Filmindustrie in Kalifornien zu retten sei. Zwei Wochen später ernannte Garcetti Ziffren zu Sheraks Nachfolger. „Es ist einschüchternd, in die Fußstapfen einer derart bemerkenswerten und beliebten Person zu treten“, sagt Ziffren. Doch er ist genau der richtige Mann für diesen Job.

Denn: Ziffren ist kein Selbstdarsteller. Er ist ein Beruhiger, ein Schlichter, ein Kompromissfinder. Er ist derjenige, der zwei Streitenden auf die Schulter tippt, sie in ein Hinterzimmer bittet und eine Stunde später mit ihnen wieder herauskommt. Die beiden Kontrahenten haben beide das Gefühl, diesen Streit gewonnen zu haben. Das ist die große Qualität von Ziffren, die er von seinem Vater Paul vermittelt bekommen hat. Der war einer der prominentesten Anwälte der Vereinigten Staaten, agierte auch politisch stets im Hintergrund und war maßgeblich daran beteiligt, dass Los Angeles die Olympischen Spiele 1984 ausrichten durfte.

Ken Ziffren ist ebenfalls Anwalt, zu den Klienten seiner Kanzlei Ziffren Brittenham gehören Oprah Winfrey, Jay Leno und Ben Affleck. In der Filmindustrie machte er sich im Jahr 1988 einen Namen, als er den Zwist zwischen der Gewerkschaft der Drehbuchschreiber sowie den Film- und Fernsehstudios beendete – und so einen fünf Monate dauernden Streik. Er war der Mediator, als die nordamerikanische Footballliga NFL mit Fernsehsendern über einen milliardenschweren Deal verhandelte.

Ziffrens Rezept: „Wir müssen energisch mit anderen Bundesstaaten und Ländern konkurrieren“, und „es geht darum, wettbewerbsfähig zu bleiben und die Industrie dort zu lassen, wo sie hingehört“. Es gibt auch schon einen Plan: Am vergangenen Mittwoch wurde ein Gesetzesvorschlag vorgestellt, demzufolge der Staat Kalifornien die Filmindustrie auch in den kommenden fünf Jahren mit 100 Millionen Dollar pro Jahr fördert. Dem Vorschlag zufolge sollen sich dann auch Fernsehserien mit einer Stunde Laufzeit pro Folge und kostspielige Filmproduktionen um Unterstützung bewerben dürfen. TV-Serien, die von einem anderen Bundesstaat nach Kalifornien zurückkehren, sollen eine Steuererleichterung von 25 Prozent erhalten.

Im Gesetzesvorschlag wird noch keine Summe genannt, Garcetti sprach jedoch bereits davon, dass ihm eine Verdoppelung vorschweben würde. Im Mai soll in Sacramento über das Gesetz verhandelt werden, eine wichtige Rolle spielt dabei Gouverneur Jerry Brown, der noch nicht wirklich glaubt, dass diese Maßnahmen tatsächlich erfolgreich sein werden. „Er muss noch überzeugt werden“, sagt Garcetti.

Brown gilt als enger Freund von Ziffren. Der sagt: „Los Angeles muss die Unterhaltungshauptstadt der Welt bleiben.“ Bei diesen Worten grinst er und schiebt den Unterkiefer nach vorne. Er präsentiert in diesem Moment die wichtigste Eigenschaft eines Filmzaren von Los Angeles. Es ist die Ur-Eigenschaft der Bewohner von Kalifornien: Der Glaube daran, dass am Ende doch alles gut wird.

Runner Runner?

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Über die Chancen und Möglichkeiten, die Gefahren und Auswirkungen, die Gipfel und Abgründe der Onlinepokerwelt. Junge Menschen isolieren sich.




Die Schläge an seine Kopfinnenwand haben nun seit mehreren Minuten nicht mehr pausiert. Das grelle Licht der Schreibtischlampe, die er damals aus dem Büro seines Vaters entführen durfte um sie der neuen Nutzung als Lernlampe zuzuführen, trieb ihm immer wieder Tränen in die Augen. Vier Stunden war es nun her. Er traute sich, kurz nach dem er die letzten Seiten seines Seminartextes überflogen hatte, an ein Sattelite-Turnier heran. Kurz zuvor hatte er einige hundert Dollar auf der gleichen Onlinepokerplattform gewinnen können, nun wollte er sich mit diesen Dollar einen Lebenstraum erfüllen. Zugegebenermaßen war es kein großer Traum. Nichts Nachhaltiges für das er gelebt hätte. Keine großen Ideen, die ihm durch den Kopf gingen, welche ihm womöglich Schlaf rauben könnten. Alles das gab es nicht bei ihm. Er wusste, dass er seit dem Beginn seines Studium in ein Loch gestürzt war, welches ihn aufsog, ihn ausbluten ließ, ihm alles genommen hatte, was irgendjemanden beeindrucken könnte. So saß er immer öfter einfach an seinem Schreibtisch herum. Ab und zu gab es Frauen, die bei ihm schliefen, manche sogar länger als ein paar Wochen, jedoch war seine Leere für die Frauen nach einiger Zeit immer sichtbarer geworden. Keine Tiefe, keine moralische Größe, kein Geld und sehr selten Liebe. Sie überschätzen den jungen Mann und kamen ihm irgendwann auf die Schliche. Also saß er eben an seinem Schreibtisch. Früher las er noch regelmäßig. Etwas Literatur könnte seine Leere füllen. Davon sprachen doch einige Menschen immer. Literatur verändert Menschen hieß es dann. Aber als Füllmaterial waren ästhetische Worte oder durchdachte Sätze nur sehr selten geeignet. Einmal bei Joyce, da kam ihm es so vor. Auch das war lange her.  


 


Also saß er. Nach wenigen Monaten, in der Anfangszeit seines Studiums, hatte er dann im falschen Moment seinen Fernseher eingeschaltet und sah einen ähnlichen jungen Mann, allerdings Amerikaner, sehr viel Geld, in Zahlen mehrere Millionen Dollar, gewinnen. In dem Interview, nach dem er sich auf den Pokertisch in sein Geld gelegt und die funkelnde riesige Trophäe in Empfang genommen hatte, sprach auch er von: Perspektivlosigkeit davor, Streben nach etwas, Großer Traum und nun erlangte unendliche Freiheit. So meldete sich auch der erstaunte und beeindruckte junge Mann vor dem Bildschirm bei einem dieser Pokerseiten an. Was sollte auch groß passieren? Zeit hatte er schließlich und den Drang zu entfliehen, den spürte er auch, jeden Morgen.  


 


Sein Kopf würde bald zerfetzen. Es waren nur noch fünfzehn Spieler im Spiel, die ersten sechs erhielten ein sogenanntes “Package” für ein European Poker Tour Event in Wien. Das Mainevent, das Event mit den meisten Teilnehmern, dazu noch ein Hotelaufenthalt in einem Luxusappartement. Eine schöne Stadt kam noch hinzu, welche er jedoch nur sehen würde, sollte er beim Mainevent früh die Segel streichen. Ein wenig Schweiß stand auf seiner Stirn am Haaransatz, verdeckt von einer Vielzahl an Locken. Bei solchen langen Multitabletournements musste er viel Koffein also hauptsächlich Kaffee zu sich nehmen. Meistens mussten diese Turniere bis spät in die Nacht gespielt werden. Manchmal gesellten sich zu den unvermeidlichen Kopfschmerzen auch Brust- oder Rückenschmerzen dazu. Sein Schreibtischstuhl war alt und schraubenlos.  


 


Der Schweiß beunruhigte ihn nicht. Er schwitze mittlerweile bei fast jeder halbwegs anstrengenden oder aufregenden Tätigkeit. Er sprach mit einem fremden Menschen. Schweiß. Er sprach mit bekannten Menschen, die er für sich überlegen hielt. Schweiß. Er sprach mit seinen Eltern (immer seltener). Schweiß. Nein, ihn beunruhigte Schweiß nicht mehr. Die Kopfschmerzen beunruhigten ihn. Die waren nicht immer da. Früher waren sie gar nicht da. Noch 14 Spieler im Turnier. Die Tische wurden angeglichen, zwei Tische, an jedem sieben Personen, logisch. Er streckte sich kurz. Vorsichtig müsse er jetzt sein. Er war vor zwei Tagen das letzte Mal aus dem Haus gegangen. Er hatte sich seinen warmen Mantel übergeworfen, der seit dem letzten Weihnachtsmarktbesuch noch Curryflecken am Kragenansatz erahnen ließ. Rötlich schimmerten sie mit dem grau des Mantels vermischt. Er war aus dem Haus gegangen, weil er musste. Seine Druckerpatronen waren ausgelutscht. Sein Bahnticket war kaum zu erkennen, der Ausdruck hatte Lücken, Unregelmäßigkeiten und würde so kaum von einem Bahnangestellten akzeptiert werden. Also musste er raus. In die Stadt. Damals.

Schwedenkrimi

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Was sagt man über das Leben? Dass es spannendere Geschichten schreibt, als jeder Autor sie erfinden könnte. Für Stieg Larsson war die Story seines Lebens nicht seine Millennium-Trilogie, in der er den Journalisten Mikael Blomkvist und die Hackerin Lisbeth Salander auf die Spur eines Killers setzt. Der schwedische Autor war vielmehr besessen von einem realen Fall. Er wollte den Mörder des Ministerpräsidenten Olof Palme finden.



Der 2004 verstorbene Stieg Larsson war selbst Hobby-Dedektiv

Die Tageszeitung Svenska Dagbladet hat jetzt Larssons Archiv zu dem Fall in Teilen veröffentlicht: mehr als 15 Umzugskartons, die Recherchen vieler Jahre. Die Quelle gibt sie nicht preis. „Der Palme-Mord stand ganz oben auf Stiegs Agenda“, sagte dessen Lebensgefährtin Eva Gabrielsson der Zeitung. Er habe sich sofort nach Palmes Ermordung 1986 in die Recherchen gestürzt und mit dem Thema bis zu seinem Tod 2004 nicht abgeschlossen. Larsson erlitt einen Herzinfarkt.

Olof Palme wurde von einem Unbekannten aus nächster Nähe erschossen, als er mit seiner Frau aus dem Kino kam. Am Freitag ist das genau 28 Jahre her. Der Täter floh und wurde nie gefasst – die Kriminalpolizei ermittelt immer noch. Viele Schweden haben Palmes Tod bis heute nicht verwunden, und dass nun ein berühmter Landsmann neues Material liefert, sorgt daher natürlich für Aufsehen.

Larssons Hauptverdächtiger war der angeblich Rechtsextreme Bertil Wedin, ein ehemaliger schwedischer Söldner, der sich während der Apartheid vom südafrikanischen Geheimdienst rekrutieren ließ. Den Hinweis auf ihn erhielt Larsson laut seinen Archiv-Akten kurz nach dem Attentat von der britischen, antifaschistischen Zeitschrift Searchlight, nach dessen Vorbild er 1995 sein Magazin Expo gegen Rechtsextremismus gründete. Ein britischer MI6-Agent traf Wedin demnach 1986 auf Zypern und gab Searchlight den Tipp.

Die Theorie, Südafrika könnte hinter dem Mord stecken, ging in Schweden schon Mitte der Neunzigerjahre durch die Presse. Mögliches Motiv: Palme hatte sich wiederholt gegen das Apartheid-Regime ausgesprochen. Nun zeigt sich, dass Larsson diese Spur schon viel früher der Polizei mitgeteilt hatte, ohne dass ermittelt wurde. Svenska Dagbladet besuchte Wedin jetzt auf Zypern und konfrontierte ihn mit den Anschuldigungen. „Ich habe nichts zu verlieren, wenn die Wahrheit herauskommt“, sagte Wedin. „Denn ich bin glücklicherweise nicht der Mörder.“

Die für den Palme-Mord zuständige Staatsanwältin Kerstin Skarp wollte die Südafrika-Spur nicht kommentieren. Der Journalist Jan Stocklassa, der auf das Archiv Larssons gestoßen war und drei Jahre recherchiert hat, hofft dennoch, dass neue Ermittlungen ins Rollen kommen. Anfangs habe er nicht gewusst, dass das Material von Larsson stamme. Dessen Romane habe er auch nie gemocht. „Mein Respekt für ihn ist heute viel größer. Er war ein extrem engagierter Mensch, das sieht man in seinem Archiv.“

Für Larsson zwang sich der Fall geradezu auf. Als der Mord geschah, recherchierte er gerade in der rechten Szene. „Plötzlich trafen sich all seine Wege: die Studie über den Rechtsextremismus und die Katastrophe, die der Mord über die schwedische Politik brachte“, sagte seine Partnerin Gabrielsson.

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Istanbul, 8. Februar


Da sage nochmal einer, ich sei nicht chaotisch — erst in größter Eile zum Flughafen aufbrechen, dabei sämtliche fünf Reiseführer, das Kamera-Ladekabel und Sonnenbrille vergessen, um dann beim Einchecken festzustellen, dass mein Flieger vor zwanzig Stunden abgehoben ist, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ich im Weinlokal Pizzini auf meine Reise angestoßen habe. Anreise Zwei schließlich erfolgreich, Ankunft in der größten und chaotischsten Stadt, jedoch kurz vor Mitternacht, kurz vor Abfahrt der letzten Tram. Dank rudimentärer Türkischkenntnisse und der Hilfe verschiedener Nachtgeister kam ich um eins in meinem Viertel an, einem Labyrinth aus Antikläden, Teehäusern und bewohnten Ruinen — ein Traum! Zufällig befindet sich gleich um die Ecke das “Museum der Unschuld “, von dem ich erst letzte Woche erfahren habe. Weniger schön der Zufall, dass meinem Zimmer gegenüber der Turm der einzigen Moschee weit und breit sich befindet und der Muezzin mich noch zwei Monate lang täglich um fünf Uhr wecken wird. Dafür nette Mitbewohner, ein Originaltürke und ein englischer Englischlehrer, was braucht man mehr.

Görüsmek üzere!


Istanbul, 11. Februar

Ähnlich wie die Venezianer sind auch die Einwohner Istanbuls schlank, denn die Straßen sind schmal und steil. Inzwischen finde ich ohne Karte und Hilfe nach Hause, dennoch bleibt mir mein Wohngebiet Beyoglu ein chaotisches Labyrinth, durch das Tag und Nacht hupende Taxis (Dolmusch) knattern, humpelnde Mütterchen knappen und sich hungrige Katzen auf die Suche nach Fleischresten machen (es wird sich hier gut um streunende Tiere gekümmert). Keiner der einheimischen Fahrer scheint den Führerschein zu besitzen; man fährt hier gegen den Strich durch Einbahnstraßen, feindet sich in einem fort durch Gehupe an und schießt so schnell aus dem Nichts um die Ecke, dass es mich wundert, noch keine Verletzten auf der Straße gesehen zu haben. Bei der Vielzahl an herrenlosen Katzen (kediler) ist es ebenfalls ein Wunder, dass der ‚Katzendöner‘ noch nicht erfunden wurde. Wie die Pizza in Italien schmeckt auch der Kebab in der Türkei viel besser als bei uns in Deutschland. Angesichts der Türkischen Küche bin ich einmal mehr froh, kein Vegetarier geschweige denn Veganer zu sein. Das Gesicht eines türkischen Imbissbesitzers möchte ich sehen, dem man als Deutscher erklärt, keine Soße zu wollen, weil man Veganer sei. Da die Türken gerne Angeln, gibt es außerdem hervorragende Fischgerichte, an jeder Straßenecke kann man Muscheln kaufen. Und sitzt man ein paar Minuten einsam auf einer Parkbank, erscheint sofort ein Mann mit Tee- und Kaffeekanne. Nicht nur um Katzen wird sich gekümmert.

Die zweite Nacht in Istanbul gestaltete sich spannend. Ich begleitete meinen türkischen Mitbewohner zu dessen Bruder, jedoch wurde uns nach wenigen Minuten der Weg abgeschnitten, als ein Haufen Protestierender auf der Flucht vor der Polizei und deren Tränengas-Bomben gröhlend und vermummt über das Pflasterstein rannte. Inzwischen protestiert man nicht mehr nur gegen den Bau eines Einkaufszentrums im Gezi-Park, sondern auch gegen die geplante Internetzensur Erdogans. Um zukünftige Massenproteste zu unterbinden, will Erdogan, der religiös-konservative und seit zwölf Jahren amtierende Premierminister, soziale Netzwerke wie Twitter und facebook ausknipsen. Dass dieses Vorhaben die jungen Türken auf die Palme bringt ist verständlich. Aus der Ferne hörte ich Platzpatronen, aufgeregtes Rufen und Polizeisirenen. Wir verwarfen den Plan, den Bruder meines Mitbewohners zu besuchen, setzten uns auf eine Treppe mit Blick auf den Bosporus und tranken türkisches Dosenbier. Die Nächte sind lau hier, das Wort Nachtruhe scheint nicht zu existieren.

Gestern mein erster Tag am Goethe-Institut. Da in Istanbul fast nur Langschläfer wohnen, beginnt auch mein Tag praktischerweise um 10 Uhr. Anders als erwartet werde ich kaum Deutsch unterrichten (nur bei der Hausaufgabenbetreuung darf ich helfen), sondern vielmehr die Abteilung Bildungskooperation unterstützen. Bereits am Gebäude des Instituts merkt man, dass man es mit einer deutschen Einrichtung zu tun hat – im Gegensatz zu seinen Nachbarhäusern ähnelt das Institut keiner Ruine, sondern einer herrschaftlichen Villa. Es besitzt einen Aufzug, gepflegte – und funktionierende – Sanitäranlagen (in meiner türkischen Wohnung gewährt uns die Dusche nur die beiden Optionen ‚kochend-heiß‘ und ‚eiskalt‘), und in jedem Raum gibt es bunte Plastikhelme, falls es doch einmal zu einem Erdbeben kommen sollte. Da die meisten Mitarbeiter entweder Deutsch sprechen oder eben Deutsche sind, fühle ich mich während der Arbeitszeit ein bisschen wie zu Hause. Nur das Krächzen von Möwen und das Jodeln des Muezzin von draußen erinnert mich noch daran, dass ich in Istanbul bin.


Istanbul, 12. Februar

Gestern Abend versammelte sich vor meinem Fenster eine Art türkischer Geheimbund. Zuerst dachte ich, es sei nun tatsächlich ein altes Mütterchen unter die Räder jener militanten Taxifahrer geraten, als die Traube betagter Männer anwuchs und sich alle aufgeregt zu unterhalten schienen. Während ich mein mit schwarzer Olivenpaste bestrichenes Abendbrot aß, sah ich, wie einige der Männer weiße Plastikstühle aus ihren umliegenden Häusern zusammentrugen und sich in einem Kreis mitten auf die Straße setzten. Was hatte jene Versammlung zu bedeuten? Ein Gipfeltreffen der umliegenden Antiquitätenhändler, die die Preise ihrer feilgebotenen Nutzlosigkeiten (z.B. hat ein Laden eine winzige Hitler-Holzfigur im Schaufenster stehen) beim Tee besprachen? Der Auftakt einer Senioren-Verschwörung gegen die geplante facebook-Zensur? Oder doch nur die Feier einer (sehr verspäteten) rituellen Beschneidung?

Da die Zahl meiner Freunde in der Fremde noch überschaubar ist, streunte ich des Nachts alleine durch Beyoglu, wie eine der hungrigen Katzen. Als Kleinstädter ist man stets überrascht, wie anders die Uhren der Metropolen ticken; Supermärkte, ganz gleich wie klein und abgelegen, scheinen keine Sperrstunde zu haben; auch die Kebab-Spieße von Ali und Mustafa drehen sich nimmermüde wie zu dick geratene Derwische. Der Großteil der hier ansässigen Kiosk- und Gemüsestandbesitzer trägt eine Kombination aus 3-Tagebart und Schnauzer (natürlich sollte man bei anderen Völkern nie generalisieren, gerade als Deutscher nicht). Wenn einmal nichts los ist in ihren Läden, lesen sie gemütlich Zeitung und trinken Schwarztee. In den Antik- und Teppichläden meiner Nachbarschaft ist nie etwas los, ihre Besitzer haben genügend Zeit, ihre Zeitung ausführlich zu studieren. Wenn ich bis zum Ende meines Aufenthalts nicht schon alles Geld für türkisches Essen verbraten habe, werde ich das Leben dieser Antikhändler so richtig aufmischen und vielleicht den ein oder anderen türkischen Nippes (oder eben Hitler) importieren … „Was kostet Hitler?“ heißt auf Türkisch „Hitler ne kadar?“

Bei meiner gestrigen Odyssee durch die Nacht lenkte mich meine nicht existierende Intuition vorbei an dubiosen Wettstudios und Bierschenken, aus denen grässliche türkische Livemusik schallte. Die Regenbogenfahne einer mit verdunkelten Scheiben ausgestatteten Kneipe zog mich schließlich an. Um die Katzenmetapher noch einmal zu bemühen – ich schlich auf leisen Pfoten an dem Schuppen vorbei, schnupperte, und begab mich schließlich in schwules Revier. Mein dortiges Nippen an einem 10 Lira teuren Efes-Bier lässt sich nicht weiter ausschmücken, vielleicht war der Abend einfach zu jung für aufregende Begegnungen. Offensichtlich sehen sich Istanbuls Wirte dazu verpflichtet, jeden Dienstag eine dunkle Ecke ihrer Spelunke mit einem unerhört laut singenden Bardensänger auszustatten. In meinem Fall war es ein übertrieben gestylter Türke, der verblüffende Ähnlichkeit mit Tarkan (‚Kiss Kiss‘) besaß und auch als junge Version von Harald Glööckner durchgehen könnte. Wie üblich für türkische Popmusik strotzt jeder Song vor Theatralik und Herzschmerz. An den besonders emotionalen Stellen seiner Songs ergoss Tarkan sein Herz dermaßen stimmgewaltig, dass die Wirkung des Verstärkers einem Erdbeben gleichkam. Nach dem vierten Song wurde mir die Regenbogenbar zu bunt, ich schleppte mich noch ein wenig durch die touristische Istiklal-Straße, dem Herzen des Taksim-Gebiets, lehnte freundlich die mir angebotenen Drogen ab, und beschloss den Tag in der Hoffnung, bald neue Freunde zu finden, um türkische Pferde zu stehlen.

klau|s|ens sieht die werbung "kein karneval" an einem lokal

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klau|s|ens, manchmal braucht man selber nichts zu leisten.


gedanklich?


ja, auch kreativ. man schaut nur, was andere machen.


was hast du geschaut?


es ist ein paar tage her, aber so wird es wohl immer noch da zu finden sein.


was?


das schild: dieser große hinweis an einem gasthaus oder lokal am bonner markt.


ein hinweis auf was?


ein hinweis auf “was nicht”. man weist auf etwas hin, was es nicht gibt, und genauso hofft man, attraktiv zu sein.


was könnte das sein? kein gestank? kein lärm? keine produkte aus massentierhaltung und damit tierquälerei?


es ist noch simpler: “KEIN KARNEVAL”!


oho: karneval wird also doch als belästigung erfunden!


wenn du einfach nur mittags etwas essen willst, dann mag es ganz angenehm sein, dieses weder unter der beschallung von karnevalsmusik zu tun, und auch nicht im beisein von menschen, die da eventuell schunkeln und laut sind oder gar mitsingen.


mittags?


ja, auch mittags. – also: morgen wird es ja ganz bestimmt so sein. da ist ja weiberfastnacht.


und dann machen die “KEIN KARNEVAL”. und das soll gehen?


ich weiß es ja nicht. aber sie werden sich all das gut überlegt haben.


dann müsste man ja auch dienstags abends oder mittwochs abends oder samstags nachmittags oder wann noch schreiben: KEIN FUSSBALL.


auch das wäre für manche ein argument, dieses lokal zu betreten. und für andere, dieses lokal nicht zu betreten.


so vielfältig ist der mensch. so vielfältig sind seine bedürfnisse.


es geht immer um JA oder NEIN, oder um EIN oder KEIN.


so vielfältig ist der mensch!


zwei optionen sind bei dir schon vielfältig? möchtest du dann nicht lieber in ein 2-optionen-land ausreisen?






HOMEPAGE VON KLAU|S|ENS:
http://www.klausens.com

Das Emoji-Rätsel am Mittwoch

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So sieht eines der wichtigsten politischen Themen des Tages als Emoji aus. Um welches handelt es sich?



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Und diese News erschrecken heute Computer-Nutzer.




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Traurige Meldung aus dem Kulturbereich: Welcher Musiker ist das?




Auf der nächsten Seite findest du die Auflösung.
[seitenumbruch]



Die Drei-Prozent-Hürde, die das Verfassungsgericht gekippt hat.




Die sehr spät behobene Sicherheitslücke bei Apple.




Der spanische Gitarrist Paco de Lucía, einer der populärsten Flamenco-Musiker des 20. Jahrhunderts.

Schaufensterkritik: Auf dem Teppich geblieben

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„Perserteppiche U.S.A. Reimport" ist wahrscheinlich die nüchternste Geschäftsbezeichnung Münchens. Im Schaufenster: Ein Laute spielender Engel, ein Spielzeug-Plüsch-Löwe und allerlei Werkzeug, das deutlich zeigt, dass hier in der Schwanthaler Straße wirklich gearbeitet wird. Eine Gestaltung so schlicht wie der Name. Dahinter dann die Teppiche, das eigentliche Herz des Ladens: An der Wand, auf dem Boden, auf großen Haufen. Wer braucht da schon einen verschnörkelten Namen oder ein perfektes Fenster zur Straße?


52-8

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In my mind I'm crawling on your floor
Vomiting and defeated
Total absence of grace
Your reluctant voice saying
You decide your own fate but

I wear rubber bands round my soul
They keep me from crawling
And these rubber bands round my soul
They keep me from falling

In my repeated dreams
You stare at me with an empty gaze
You turn your back on me
And you search for more intriguing days
Loathing this
Controlling this
Let me get a hold of this so

I wear rubber bands round my soul
They keep me from crawling
And these rubber bands round my soul
They keep me from falling

A.B.

Ihr Bild der Jugend?

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Natürlich sind auch die Motive interessant: Welche Themen werden die Kandidaten setzen? Wie nah sind sie damit an der Lebenswelt junger Menschen? Aber mindestens genauso spannend ist die Umsetzung: Wie ist die Ästhetik? Machen Sie die Bilder selbst oder hilft ein professioneller Fotograf? Sind Sie im Bild zu sehen oder nicht? Vergleicht selbst:

Michael Mattar (FDP):





Fotos: Maximilan Gawlik, Portrait: Stephan Rumpf (SZ)

Foto 1: Weil uns Liberalen deine Privatsphäre heilig ist, lehnen wir die Ausweitung der Videoüberwachung ab.

Foto 2: Weil das Surfen in der Stadt das Lebensgefühl Freiheit verkörpert, setzt sich die FDP für den Erhalt der Surferwellen ein.

Foto 3: Weil wir wollen, dass du auch um 3.21 Uhr schnell und sicher heimkommst, setzt sich die FDP für Nacht-U-Bahnen in München ein.


Auf der nächsten Seite findest du die Bilder von Dieter Reiter (SPD).
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Dieter Reiter (SPD):





Foto 1: In einer wachsenden Stadt müssen wir Freiräume aktiv erhalten und neue schaffen – zum Beispiel einen echten Skatepark auf der Theresienwiese.

Foto 2: Das Semesterticket gibt es, das habe ich durchgesetzt – ein Ausbildungsticket fehlt noch. Mit mir wird es 2014 ein Ticket für Auszubildende geben.

Foto 3: Das weiß ich aus eigener Musikererfahrung: Wir brauchen mehr bezahlbare Übungsräume für Bands und Ateliers für junge Künstler.

Auf der nächsten Seite: Sabine Nallinger (Grüne).
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Sabine Nallinger (Grüne):





Fotos: Karo Knote, Portrait: Stephan Rumpf (SZ)

Foto 1: "Bolzplatz" – Auslauf, Spaß und Kreativität schaffen Freiheits-Momente in der Stadt.

Foto 2: "Uni": Mehr Gerechtigkeit durch gute Bildung – von der Kita bis zu exzellenten Unis.

Foto 3: "Cafe am Hochhaus" – Der bunte Mix macht die Großstadt: wohnen, arbeiten, einkaufen, ausgehen...


Auf der nächsten Seite: Brigitte Wolf.
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Brigitte Wolf (Die Linke):





Portrait: Robert Haas (SZ)

Foto 1: Der Skaterpark im Hirschgarten ist eine gelungene Sportanlage. Es fehlt eine Skaterhalle, um auch bei schlechtem Wetter ein Angebot zu schaffen.

Foto 2: Selbstverwaltete Jugendkulturzentren wie das Kafe Marat müssen erhalten bleiben, weitere sollten entstehen und zusätzliche Freiräume bieten.

Foto 3: Der Freiraum der renaturierten Isar ist ein wichtiger, nicht kommerzieller Erholungsort, von denen es in München viel mehr bräuchte.

Auf der letzten Seite: Josef Schmid (CSU). [seitenumbruch]

Josef Schmid (CSU):





Foto 1: "Sozial ist, wenn Wohnungsnot nicht nur bedauert, sondern bekämpft wird."

Foto 2: "Grün ist, wenn der Verkehr unter der Erde fließt."

Foto 3: "Modern ist, wenn ein Kinderbetreuungsplatz kein 6er im Lotto ist."

70 Gramm gemischtes Hackfleisch

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Ich habe eine Leibspeise. Ein Lieblingsessen, das ich über die Jahre perfektioniert habe: Auberginenlasagne. Ein geschichteter Leckerbissen.
In Ermangelung eines Freundes, einer Mitbewohnerin oder häufiger Gäste an meiner Tafel habe ich in den letzten drei Jahren also meist für mich alleine gekocht, anfangs noch in der großen Auflaufform. Doch um mich selber auszutricksen und so weniger zu essen, wurde eine Single-Auflaufform angeschafft. Lange habe ich herumprobiert, was die perfekte Füllmenge ist, damit nichts beim Backen aus der Form schwappt, die Auberginen aber gleichzeitig von einer ausreichend großen Menge an Hackfleischsoße bedeckt werden.
70 Gramm gemischtes Hackfleisch. Nicht 80, nicht 60. 70 - der perfekte Kompromiss.
Und da ich mir mein Lieblingsessen gelegentlich zwei bis viermal die Woche gönne, bin ich häufiger Besucher bei den Metzgereifachverkäuferinnen im Supermarkt meines Vertrauens. „Ich hätte gerne 70 Gramm gemischtes Hackfleisch.“ „Wieviel?“ „70.“ Ich meine den Unglauben in ihrer Stimme zu hören, den Spott und das Mitleid. Denn was bedeutet es, 70 Gramm gemischtes Hackfleisch zu kaufen? Man ist alleine, hat niemanden, der für einen den Knoblauch hackt, der einem beim Kochen über die Schulter schaut und danach hilft, das Geschirr abzuspülen. Die logische Konsequenz daraus ist, dass man abends auch alleine ins Bett geht, ohne die Körperwärme eines anderen Menschen und morgens alleine aufsteht, nur eine Tasse Kaffee macht, seine Zeitung nicht teilen muss (darf?) und sich nur mit sich selbst unter die Dusche stellt. Und dass man nachmittags alleine in den Supermarkt geht, mit niemandem, der einem hilft, die Einkäufe zu tragen und gänzlich verwaist an der Fleischtheke steht. Der Kreis schließt sich.


Als Single ist man ja heutzutage keineswegs allein, stellt es doch eher ein Massenphänomen bindungsunwilliger Halberwachsener dar. Doch als „vereinsamter“ Mensch begegnen einem zu häufig Situationen, in denen man sich seiner Mannlosigkeit mehr als bewusst wird. Die Pärchen im Freundeskreis häufen sich, die Zukunftspläne (Heiraten, Kinder) werden konkreter und aus zwei Individuen wird ein Wir. Da wird man in Ermangelung eines Partners beim traditionellen Spieleabend schon mal mit dem alleinstehenden Arbeitskollegen zwangsgepaart oder von Freundinnen an den nächstbesten Kumpel verschachert. „Der wär doch was für dich“, hört man oft. Dass der der-wär-doch-was-für-mich-Mann einen Kopf kleiner ist als man selber oder nicht im Mindesten interessant zu sein scheint, ist hier eher zweitrangig. Denn der traurige Single muss ja schnellstmöglich unter die Haube gebracht werden. Die Welt ist nicht ausgelegt auf alleinstehende Menschen. Gesellschaftsspiele, die man nur mit einer geraden Anzahl an Leuten spielen kann, der Weißkohlkopf, für den man alleine bestimmt zwei Wochen brauchen würde, um ihn aufzuessen oder das Riesenrad, in das man sich nur unter besonderer Peinlichkeit ohne Anhang setzen würde. Dass man alleine auch ganz zufrieden sein kann, ist für manche ein Mysterium. Nur als Paar ist man ein geschlossener Kreis, vervollständigt sich gegenseitig.


Und dennoch bin ich ein ganzer Kreis. Ich habe das meiste, was ich zum Glücklichsein sein brauche, bereits. Ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf, habe einen bezaubernden Freundeskreis, einen Nebenjob, der mir gefällt, ein Studium, das mir meistens Spaß macht und mich selbst. Ein quasi ausgefülltes Leben. Natürlich fehlt der Mann. Aber solange kein anständiges Exemplar in Sicht ist, komme ich auch ohne durchaus gut zurecht.


Einmal wurde ich von der Metzgereifachverkäuferin gefragt, ob ich diese kleine Menge Hackfleisch eigentlich ständig für meine Katze kaufe. Dadurch sind mir zwei Dinge klar geworden: Erstens, auch die Fleischtheke im Supermarkt sieht mich ohne Mann und Aubergingenlasagnen-Mitverschwörer als unvollständigen und wahrscheinlich schlechten Kunden. Zweitens, ich sollte öfter mal etwas anderes kochen oder mir zumindest ein anderes Geschäft für meine Besorgungen suchen. Denn nein, ich habe weder eine Katze noch einen Freund. Die Singleportion wird somit zur modernen Form des Rentnertellers.
Aber ich habe Abhilfe geschaffen. Um den genervt-mitleidigen Blicken der beschürzten Damen zu entgehen, habe ich mir 200 Gramm fertig abgepacktes Hackfleisch gekauft und es daheim in Portionstütchen a la 70 Gramm eingefroren. So bleibt mir zumindest diese Blamage eine Zeit lang erspart. Und wer weiß, vielleicht findet sich ja bald dieses seltene Exemplar Mann, was natürlich auch ich mir wünsche. Dann stehen wir gemeinsam an der Wursttheke und ich verlange mit lauter Stimme 140 Gramm gemischtes Hackfleisch.

ostsee. meer. ostsee.

26. februar 2014

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junge frau, grell-rosa outfit, zur wand gedreht, spricht ins headset ihres smartphones. “aber wir dürfen nicht über facebook schreiben.” als ob sie einer freundin, die heute wegen irgendwas im gemeinschaftskundeunterricht gefehlt hat, die hausaufgaben durchgibt, analyse eines modernen online-mediums unter berücksichtigung dieser und jener gesichtspunkte, und facebook ist nach ansicht des süßen aber unflirtbaren lehrers zu offensichtlich, würde jeder machen, zu leicht, zu wenig sport. schön, denke ich mir, medienkompetenz der jugend stärken, moderner unterricht anhand realer und lebensweltlicher phänomene, pädagogik heute kann so super spaß machen. klar, dass ich weitergehe, ich will hinten einsteigen und das rosa mädchen steht am anfang des bahnsteigs. “nicht über facebook, weil dirk hat meine zugangsdaten.” ach, schon wieder ein lebendes beispiel von verb-zweit-stellung nach nebensatzkonjugation weil, alte deutschlehrerkrankheit, dass einem so ein zeug auffällt und – moment mal: wer ist dirk und wieso hat er die zugangsdaten? ich ahne, es geht um mehr als hausaufgaben, und sie spricht wohl auch nicht mit einer schulfreundin. jetzt will ich doch nicht mehr hinten einsteigen. jedoch: es natürlich wirken zu lassen, wenn ich abrupt stehenbleibe, ein bisschen zurücklaufe und mich auf der schmalen, recht leeren ubahnplattform direkt neben sie positioniere, um routiniertes warten vorzutäuschen, hab ich offenbar nicht so wirklich drauf. denn jetzt schaut sie mich finster an, geht zielstrebig weit weg von mir auf diesem bahnhof, ins headset flüsternd, und ich werde mit diesen zwei häppchen ihrer lovestory hier am einsamen, falschen ende der ubahnstation, an dem ich eigentlich gar nichts zu suchen habe, verhungern müssen.

Das Gespenst in der Hafenbar

Mein liebes Tagebuch

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Hach Gottchen, hat der Alte wieder ne Laune heute!

Okay, er hat mich bei nem hammermäßigen Gang Bang mit Kenny, dem Kentauren und Ed und Wendy, dem Einhornpärchen erwischt. Kacke, ey! Dabei haben wir uns doch auf ner ziemlich versteckten Lichtung getummelt, man. Das tat mir nach dem Beziehungscrash mit der Sirene auch richtig gut. Die war mir ja zu flatterhaft und aggro. Und die schwengellose Zeit hat mich auch nicht weitergebracht. Singen konnte die aber wie nix Gutes. Weißte ja.

War klar, dass Daddy das nicht so prickelnd fand. Vom Erwischen kann aber eigentlich nicht die Rede sein. Der wusste schon ziemlich genau, wo er mich zu suchen hatte. War doch kein Zufall! Hat bestimmt der eifersüchtige Pan, der Peter, gepetzt. Scheiß Stalker! Ich mein, der sieht schon ganz geil aus und ist höchst musikalisch. Flötenhendrix nenn ich den immer. Hat aber nix ordentliches inner Buxe. Mit dem Minischniepel bringt der nicht mal nen Hamster zum Quieken. Geht gar nicht sowas! Hab ihm das auch gesagt, aber eingesehen hat er es nicht. Das Anschwärzen kann ja nur von dem kommen. Infantiles Arschloch!

Wurde jedenfalls amtlich von Vadder zusammengefaltet, Sodomistenhure geschimpft. Was denn meine verstorbene Mutter, er hat sie selig, dazu gesagt hätte!? Wenn der sich so in Rage redet, dann wird seine Stimme immer schriller, bis man nur noch ein mehrstimmiges Fiepsen wahrnimmt. Quasi wild durcheinander keifende Tinnitussis. Egal. Der soll mal lieber seine Klappe halten. Hab ich ihm natürlich nicht gesagt. Will ja noch ein bisschen leben. Aber was soll der Scheiß? Der betitelt Menschen als Äffchen und bumst die auch noch. Ich hab tausende Halbgeschwister, ey! Der hat sich in nen Esel verwandelt und meine Mutter in ihrer Donkey Show in Tijuana geschwängert! Wenn der da in seiner perlmutt schimmernden Toga und dem schwuchteligen Diadem aufm Kopf aufgetaucht wäre, hätte sie ihn doch niemals rangelassen! Ach, die Mutti vermiss ich.

Außerdem hab ich ja aus dem Minotaurengeburtsfiasko gelernt, ne. Ich mein, so ein Dammschnitt ist echt unangenehm. Die haben mir buchstäblich den Arsch aufgerissen! War monatelang inkontinent wie Otze. Weißte ja. Jedenfalls haben sich Ed und Kenny Pythonpräser übergestülpt. Ich war also prima geschützt. Man denkt ja, Schlangen seien glitschig. Stimmt gar nicht. Die sind trocken, aber recht glatt. Man gut, dass ich immer glitschig bin, hehe. Wollte der Alte nicht gelten lassen. Hat mich einfach am Nacken gepackt und auf nem scheiß abgelegenen Eiland ausgesetzt.

Ey, hier gibts nur Fels, ein paar Kokospalmen und ein Fitzelchen Strand. Sonst nix! Natürlich null Netz, kein Mäckes, kaum Tiere. Bis auf scheiß Krabben. Und die werde ich sicher nicht ausschlürfen. Bäh! Flüchten ist auch nicht, kann ja nicht schwimmen. Wenigstens isses warm und sonnig. Gibt nen schicken Töng.

Fühle mich wie Tom Hanks. Nur ohne Schlittschuhe und Volleyball. Tja, nix zum Schnitzen und kein Wilson. Aber weißte, immerhin hab ich dich dabei. Ich nenn dich ab jetzt einfach Wilson. Was sagste? Werde dir aber nicht meine blutige Hand auflegen und ein Face draus machen. Kann doch kein Blut sehen.

Konnte natürlich die verfickten Kokosnüsse nicht kaputthauen und Feuer machen ging auch nicht. Scheiß Film! Sah ja so leicht aus da. Logo. Zemeckis, der Ficker! Wenigstens hab ich ne Höhle zum Pennen gefunden. Inklusive Süßwasserpfütze. Verdurste ich nicht so schnell. Immerhin! 

Mache jetzt Schluss für heute. Wird langsam dunkel. Ich hoffe, der Alte lässt mich hier nicht verrecken.

Bis morgen, Wilson. Hab dich lieb.

Ode an meinen treuen Gefährten

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Mein rotes Ungetüm mit den feurigen Augen.

Kompakt und doch so dynamisch.

Deine weiße Schläfen zeugen von jahrzehntelanger Erfahrung.

Immer in Ketten. Geduldig wartend.

Doch wenn ich in den Sattel steige und lostrete, dann entfesselst du unbändige Kraft und wir fliegen davon wie der Wind.

In schwärzester Nacht weist mir dein Licht den Weg nach Haus.

Mein treuer Gefährte.

Mein Mitbewohner und ich |1|

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"Ich bin einfach uninteressant, Susi." sagt Thomas.

"Quatsch. Du siehst nur uninteressant aus. Paar neue Klamotten, neue Frise. Dann klappt das schon mit den Mädels. Und du musst natürlich auch mal richtig aus dir raus kommen, verstehste?" sag ich.

Mitten auf seiner Stirn reißt die Haut auf. Dampf entweicht zischend. Der fransige Riss erweitert sich bis in seinen Schritt. Der Menschenanzug fällt schmatzend auf meinen neuen Eiche Schlossdielenlaminat. Was für eine Sauerei.

Eine mannsgroße Ratte steht vor mir. Schwarzes, extrem fettiges Fell. Lavafarbene Knopfaugen. Scharfe Klauen. Fleischiger Schwanz. Das Viech stinkt bestialisch.

"Besser so?" fragt mich Ratten-Thomas mit sexy Benedict Cumberbatch Stimme.

Schicke Reißbeißerchen.

"Jepp. Geh dich aber erstmal duschen und putz dir die Zähne. Du stinkst. Danach ziehen wir um die Häuser." sag ich.

Mein Mitbewohner und ich |2|

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"Morgen meld ich mich beim Krav Maga an, Susi." sagt Thomas.

"Ist das ein neues Online Rollenspiel?" frag ich.

"Narp. Ist so ne israelische Kampfsportart. Die bieten beim TSV nen Kurs an. Hart In Neunzig Tagen heißt der." sagt Thomas.

Ich schaue über mein MacBook zu ihm rüber. Der Besenstiel mit Augen fläzt aufm Sofa, ist in seine Kuscheldecke eingemummelt und zockt auf der Pläse3 Little Big Planet. Neben ihm ne Capri Sonne Kirsch und ne Packung Oreos.

Neunzig Tage. Jepp. Die machen aus ihm nen knochenharten Totschläger wie Wayne Carpendale. Ich grinse im Kreis.

"Knaller Idee." sag ich und widme mich wieder Zalando.

"Tina ist jetzt mit Bronson zusammen." sagt Thomas. Tina ist seine Ex. Bronson ist ein Ex-Knacki.

Ich mustere ihn mit Lanz'schem Pressblick.

"Echt jetzt?" frag ich.

"Jarp." sagt Thomas. Er zockt weiter. Ein halber Oreo hängt in seinem Mundwinkel.

"Alles klar." sag ich.

Ab morgen kann ich mir nen neuen Mitbewohner suchen.

Unter der Brücke

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Hier, inmitten von Plastiktüten, leeren Bierdosen, Umzugskartons und urinfleckigen Matratzen wartet die Urmutter. Schwarzgärig welkend und madig. Gelehnt an gewölbtem Stein.

Die rissigen Augen sind blinde Spiegel. In die Nasenschlitze wird der Wegzoll für Schwerlasten entrichtet. Ihre Ohren sind zitternde Lautsprechermembranen.

Die Hymne der Gescheiterten erschallt in Endlosschleife. Non! Rien de rien. Non! Je ne regrette rien.

Beschnittene Vulvae, Stigmata in ihren ausgestreckten Händen. Getrockneter Schleim an den zerfransten Rändern.

Der aus dem Mund gekrochene Melanocetus ruht auf den ausgezehrten Brüsten. Lotst mit goldener Esca die armen Seelen ins Samsara.

Dem Schoß entspringt sämig der purpurne Fluss des Seins. Von schwappenden Femurstümpfen in Bewegung gehalten. In ihm herrscht dunkles Wimmeln.

Aus Kaulquappen |Sekunden| werden Frösche |Jahre|. Aus Fröschen |Jahren| werden Prinzen |verbrämte Erinnerungen|.

Sie alle reiten den großen Feuerball. Einige wenige Verglühen dabei - die Glücklichen.

Im Osten geht die Sonne auf. Im Süden nimmt sie ihren Lauf. Im Westen will sie untergehn. Im Norden, unter der Brücke, wird sie die Mutter wiedersehn.

Winterliebe im Garten

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Über Nacht hatte der Winter noch einmal an unsere Türe geklopft. Als hätte er gewusst, dass er uns viel zu sehr vernachlässigt hat. So als wolle er zeigen, dass wir auf jeden Fall noch mit ihm rechnen durften. Und er hatte uns jemanden mitgebracht.





Wie zwei Verirrte standen sie plötzlich da und erweckten fast den Anschein, als ob sie länger bleiben wollten. Blickten uns mit hoffnungsvoller Miene an.

Lachten.

Und waren guter Hoffnung...


"Ich bin nicht nackt" : Online-Kampagne im Libanon

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Die libanesische Skifahrerin Jackie Charmoun wird in ihrer Heimat wegen Nacktfotos kritisiert. Im Netz solidarisieren sich hunderte Menschen mit der 22-Jährigen – und ziehen sich vor der Kamera aus. Von Katharina Pfannkuch


Drei Jahre ist es her, dass die Skislalom-Läuferin Jackie Charmoun vor der Kamera ihres Kollegen Hubertus von Hohenlohe stand, der auch als Fotograf aktiv ist. Gemeinsam mit anderen Skiläuferinnen posierte die Libanesin Charmoun vor einer verschneiten Bergkulisse für einen Kalender. Der wenige Stoff an den Körpern der Athletinnen lässt viel erahnen, tatsächlich nackt ist Charmoun jedoch nicht auf den Bildern zu sehen. Am Rande des Foto-Shootings entstanden jedoch auch andere Fotos und Video-Aufnahmen, als eine Art Making-Of. Es sind Bilder, die nie für die Öffentlichkeit  bestimmt waren und auf denen all das zu sehen ist, was vor allem in einer konservativen Gesellschaft wie der libanesischen üblicherweise nicht gezeigt wird. Genau diese Bilder tauchten nun aber in libanesischen Medien auf und sorgten in Charmouns Heimat für einen handfesten Skandal. Kurz, bevor Charmoun bei den Olympischen Spielen in Sotschi im Slalom antrat, musste sie sich gegen heftige Kritik und persönliche Angriffe wehren. Gesellschaft und Politik im Zedernstaat diskutieren den Fall der schönen Skiläuferin, das libanesische Olympische Komitee und der Minister für Sport und Jugend Faisal Karameh kündigten sogar eine Untersuchung an.


Für einige Libanesen stellen die empörten Reaktionen auf die Bilder von Charmoun den wahren Skandal dar. Cynthia-Maria Aramouni ist eine von ihnen. „Die wahren Probleme dieses Landes werden ignoriert, aber aus den Bildern von Jackie Charmoun wird ein Skandal gemacht. Die Regierung befasst sich damit, anstatt sich um ernsthafte Probleme zu kümmern, wie etwa den Fall von Manal al-Assi“. Die Libanesin al-Assi ist eines der zahlreichen Opfer häuslicher Gewalt gegen Frauen im Libanon, im Februar hatte ihr Ehemann sie zu Tode geprügelt. Während häusliche Gewalt nur selten einen öffentlichen Aufschrei in der libanesischen Gesellschaft nach sich zieht, stürzten sich die Medien auf den Fall von Jackie Charmoun und deren freizügige Fotos. Aramouni reagierte kurzerhand und startete gemeinsam mit den Fotografen Tarek Moukaddem, Carl Halal und Mohamed Abdouni eine virtuelle Kampagne: Unter dem Hashtag #StripForJackie und auf der Facebook-Seite „I am not naked“ rufen sie ihre Landsleute und Unterstützer aus aller Welt auf, ein Zeichen gegen Doppelmoral zu setzen und gleichzeitig Solidarität mit Jackie Charmoun zu zeigen – und zwar nackt. Zumindest auf den ersten Blick.





"I Am Not Naked"/Facebook


„Es geht darum, die richtigen Prioritäten zu setzten und Zensur zu bekämpfen. Es geht um Freiheit“, erklären Aramouni und ihre Mitstreiter. Die Provokation ist beabsichtigt, die heftige Kritik trifft das Team keineswegs unerwartet. Denn mit ihrer Aktion brechen sie gleich mit mehreren Tabus: Freizügigkeit ist in der libanesischen Gesellschaft verpönt, gleichzeitig wird viel Wert auf den äußeren Schein und materielle Werte gelegt. Die Kleidung abzulegen ist da nur eine logische Konsequenz für die Initiatoren der Kampagne: „Meine Gedanken, meine Leistungen und meine Seele streife ich nicht ab“, heißt es in der Beschreibung der Facebook-Seite – Kleidung spielt da keine Rolle. Das sehen offenbar nicht nur Cynthia-Maria Aramouni und ihr Team so: Rund 100 Menschen ließen sich von Tarek Moukaddem fotografieren, tausende twitterten Selbstporträts. Alle sind versehen mit der Überschrift „I am not naked“ – und mit einem Hinweis darauf, was den oder die Posierende ausmacht: Von „Ich bin Fotograf“ über „Ich bin, was ich bin“ bis hin zu „Ich bin ein Freigeist“ ist fast alles vertreten. In weniger als zwei Wochen gewann die Facebook-Seite über 20.000 Fans.




Screenshot "I Am Not Naked"/Facebook

 


An Kritik mangelt es nicht, erzählen die Organisatoren um Aramouni: „Wir wissen, dass nicht jeder unsere Werte teilt. Wir wünschen uns nur, dass auch die, deren Meinung von unserer abweicht, uns respektieren. So, wie wir andere Meinungen respektieren“. Viel eher überrascht die Köpfe hinter „I am not naked“ das große Engagement ihrer Unterstützer. Denn Online-Kampagnen in sozialen Netzwerken sind im Libanon nichts Neues. Erst vor Kurzem luden tausende Nutzer Selbstporträts unter dem Motto „I am not a martyr“ (https://www.facebook.com/notamartyr) hoch, um gegen Gewalt im Libanon zu protestieren; die Kampagne „The Uprising of Women in the Arab World“ (https://www.facebook.com/intifadat.almar2a) mobilisiert schon seit drei Jahren tausende Unterstützer. Zu den Gründerinnen des virtuellen Frauen-Aufstandes gehören auch zwei Libanesinnen. Anders als bei diesen Initiativen beschränken sich die Unterstützer der #StripForJackie-Kampagne nicht auf das Hochladen von Selbstporträts: Rund hundert Menschen kamen in das Beiruter Fotostudio von Tarek Moukaddem, weltweit luden die Organisatoren zu Fotosessions. In New York wurde ebenso zur Kamera gegriffen wie in London, Paris und Sao Paolo (https://www.facebook.com/iamnotnaked/events). "Überall stellten Unterstützer ihre Wohnungen für die Aufnahmen zur Verfügung", erzählt das Team.


Kritische Stimmen bezweifeln, dass die Kampagne tatsächlich den Blick auf Probleme in der libanesischen Gesellschaft lenkt, die jenseits der Debatte darüber liegen, wie viel Freizügigkeit sich eine Spitzensportlerin erlauben darf. Von Exhibitionismus und Narzismus ist die Rede, und von dem Trend, bei jeder Online-Kampagne mitmachen zu wollen. Doch eines ist den Köpfen hinter "I am not naked" bereits gelungen: Sie haben eine Diskussion angestoßen, die sich nicht nur auf den virtuellen Raum beschränkt.


Während die Diskussionen über die Kampagne noch auf Hochtouren laufen, denken Cynthia-Maria Aramouni und ihr Team schon über neue Ideen für Online-Aktionen nach. In der Zwischenzeit trat Jackie Charmoun, an deren drei Jahre alten Fotos der Skandal entbrannte, in Sotschi zum Slalomrennen an. Am 21. Februar fand das Rennen statt, Charmoun belegte den 47. Platz.





"I Am Not Naked"/Facebook

Alle rein ins EU-Parlament - gut oder schlecht?

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Die kleinen Parteien in Deutschland wehren sich gegen die Drei-Prozent-Hürde bei der Wahl des EU-Parlaments. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gab den Klägern jetzt recht und erklärte die Sperrklausel für verfassungswidrig. 2011 hatte es dasselbe mit der damals geltenden Fünf-Prozent-Hürde getan. Jetzt ist also auch die zweite Barriere futsch. Familienpartei, Tierschutzpartei und andere politische Außenseiter können sich also Hoffnung machen, schon im Mai erstmals Sitze im Straßburger Parlament beziehen zu dürfen.  

Die Entscheidung war allerdings umstritten und entsprechend knapp. Nur fünf der acht Karlsruher Richter entschieden sich gegen die Klausel. Sie berufen sich auf den Grundsatz, dass die Stimme jedes Wählers die gleiche Erfolgschance haben muss. Durch die Hürde würden die Stimmen der Tierliebhaber und anderer abgewertet, da sie quasi verfallen und unter den großen Parteien verteilt würden. Auf diese Weise gingen, sowohl bei der Europawahl 2009, als auch bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr, mehr als 15 Prozent der Stimmen verloren. Das entspricht bei der Parlamentswahl in Deutschland knapp sieben Millionen Wählern.

Kritiker befürchten, dass die unzähligen Kleinstparteien das Parlament bremsen und seine Funktionalität gefährden. Etwas mehr als ein Prozent der Wählerstimmen könnte jetzt reichen, um einen der 96 deutschen Sitze zu ergattern. Auf diese Weise kämen vermutlich nicht nur so sympathische Vereine, wie die Rentner- oder die Familienpartei zum Zuge. Sondern könnte auch den Weg für Rechtspopulisten und Anti-Europäer ebnen, wie Ralf Stegner von der SPD sagt. Hoffnung macht sich jetzt auch die Partei die PARTEI. Auch wenn deren bisherige Ergebnisse auch ohne Hürde nicht reichen würden, plant Spitzenkandidat Sonneborn schon die Zeit in Straßburg. 

Was hältst du von Prozent-Hürden? Gefährden die Splitterparteien den politischen Dialog der Großen? Behindern die Hürden die Erneuerung der Parteienlandschaft oder schützen sie sie vor radikalen Spinnern und Träumern?
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