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Wir haben verstanden: Von Trailern und Hemden

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Jahresrückblicke haben in aller Regel das Anliegen, eine Antwort auf folgende Frage zu liefern: „Was war dieses Jahr wichtig?“ Das ist gut. Aber wir finden, dass eine andere Frage mindestens genauso wichtig ist: „Was haben wir verstanden?“. Deshalb haben wir ein digitales Magazin mit einer Liste gemacht: 100 Dinge, die wir 2013 begriffen haben. Einen Auszug daraus findest du hier - darum sind die Punkte auch nicht immer fortlaufend nummeriert. Das komplette digitale Magazin für Tablets und Smartphones mit allen 100 Punkten kannst du mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung herunterladen. Du kannst es für nur 89 Cent kaufen; für Abonnenten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.

Wir haben verstanden:


17. Gäbe es einen Preis namens Mr. Schwanzvergleich 2013, er ginge an Robin Thicke. Der übrigens seit acht Jahren verheiratet ist.

18. Ein Zusammenhang zum Heulen: In Bangladesh stürzt eine Textilfabrik ein und in Europa sprießen die Primark-Fillialen aus dem Boden.

19. Jeder, wirklich jeder, der irgendwas verkauft, stellt 2013 einen Trailer auf Youtube. Und die Kino-Branche reagierte.
Viel haben der Sänger Bon Jovi und der Sportreporter Waldemar Hartmann nicht gemeinsam. Aber beide nutzten im vergangenen Jahr den ältesten Werbetrick des Kinos: den Trailer. Sowohl Bon Jovi als auch Hartmann warben auf Youtube mit kurzen Filmchen, die Lust auf das neue Album respektive Buch wecken sollten. Die beiden Clips zeigen die enorme Beliebtheit, die das Prinzip Trailer in jüngster Zeit bekommen hat. Die kurze Filmvorschau aus dem Kinosaal ist dank Youtube zum Breitband-Medikament für Marketingstrategen aller Art geworden: Buchverlage, Brettspielhersteller, Partyveranstalter oder Zeitschriftenhäuser laden heute Trailer ins Netz, wenn sie etwas verkaufen wollen. Selbst wenn sich die dazugehörigen Produkte für eine filmische Umsetzung so gut eignen wie ein Bagger für eine Flugschau und folglich kaum jemand die Clips sehen will. Waldi Hartmann und Bon Jovi verstauben jedenfalls weitgehend ungeklickt im Netz. Und die Kinobranche, die Erfinderin des Genres? Reagiert, indem sie statt normaler Trailer neuerdings 40-sekündige „Teaser Trailer" im Netz streut. Der kleine Youtube-Trailer ist also nur noch Vorgeschmack auf den großen Bruder, den Hammer-Trailer im Kino. Eine charmante Art, die Machtverhältnisse klarzustellen.
jan-stremmel

20. Wir sind Meter gegangen, was die Gleichberechtigung homosexueller Paare angeht. Dabei müssten wir endlich mal Meilen gehen.




21. Der NSU-Prozess ist einer, von dem wir noch unseren Kindern erzählen werden.

22. Kanye West hat in diesem Jahr endgültig seinen Verstand verloren. Er nannte sein Album „Yeezus", den zentralen Song darauf „I Am a God (feat. God)", und stellte gegenüber Late-Night-Talker Jimmy Kimmel klar: „Wenn ich sagen würde, kein Genie zu sein, würde ich euch und mich selbst anlügen."

23. Andererseits: Wer sonst kann ein unbedrucktes weißes T-Shirt für 120 Dollar auf den Markt bringen, das schon vor Verkaufstart komplett vergriffen ist?

24. Die Telekom hat einen neuen Namen: Drosselkom.



Die Drossel gehört zu den Singvögeln und war bis zu diesem Jahr nicht durch eine besondere Nähe zur Telekom aufgefallen. Das änderte sich, als der Konzern im Sommer ankündigte, seine Pauschaltarife drosseln zu wollen. Innerhalb weniger Augenblicke war die Wortneuschöpfung geboren, die den Protest – im Netz, mit Petitionen und Demonstrationen – gegen die Angriffe auf die Netzneutralität bündelte und sich sogar in Circus Halligalli wiederfand: Drosselkom beschreibt einen Anbieter, der sein Pauschalangebot eben nicht pauschal versteht, sondern ab einem gewissen Volumen drosseln will. Zumindest indirekt hat die Telekom gegen Ende des Jahres darauf reagiert und angekündigt, Angebote nur noch dann Flatrate zu nennen, wenn sie wirklich pauschal und ungedrosselt sind.
dirk-vongehlen

25. Wenn man ein hohes Brustkrebsrisiko hat, kann man sich vorsorglich die Brüste amputieren lassen.

26. Mit der Uni fertig sein ist auch nicht anders als der Rest des Lebens.

27. Wobei: Das berühmte Loch nach dem Uniabschluss vermeidet man auch dann nicht, wenn man schon einen Job hat.




28. Wenn man sieht, an wie vielen Hits Pharrell Williams 2013 beteiligt war, glaubt man ihm sofort, dass er die ganze Nacht aufbleiben kann.

29. Das Internet hat immer noch kein Logo (trotz des Lobo-Logo-Vorschlags: #).
[seitenumbruch]
32. Dass jeder noch so kleine Satz und jede noch so beiläufige Geste im Wahlkampf zu einem Tumblr oder Hashtag werden kann, ist lustig, aber manchmal auch übertrieben pingelig.
Anlässe gab es genug: die Landtagswahlen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bayern und Hessen und vor allem die Bundestagswahl. Wer keinen eigenen Tumblr und/oder Hashtag auf Twitter hatte, war im Wahlkampfzirkus einfach nicht wichtig – oder tollpatschig – genug. Oft genügte eine winzige Äußerung, eine Geste, ein Accessoire, um eine halbe Stunde später im Netz verspottet zu werden. Eigentlich keine schöne Angewohnheit, so pingelig jedes Wort umzudrehen und weiterzubohren. Aber lustig war's schon:
  • Rainer Brüderle Looking at Girls: Der #aufschrei-Auslöser glotzt nach dem Vorbild von „Kim Jong-Il Looking at Things" – natürlich auf Frauen. 

  • #ImCoolstenLandDerWelt:Beim FDP-Parteitag im März schwärmte Philipp Rösler von Deutschland als dem „coolsten Land der Welt". Auf Twitter wurde unter dem Hashtag #ImCoolstenLandDerWelt bewiesen, dass Deutschland nicht das coolste Land der Welt ist.

  • „Spielhallen statt Kitas fördern – Gut gemacht, FDP!": die Tumblr-Parodie auf die „Regierungserfolge"-Kampagne der FDP.

  • Philipproeslerworshippingevil und Philipproeslerhuggingpeople: Wenn jemand den Bild-Chefredakteur Kai Diekmann umarmt, ist das immer Anlass für Spekulationen. Wenn Philipp Rösler das tut, natürlich besonders – deswegen lassen die zwei Tumblr den scheidenden FDP-Parteichef das Böse umarmen: unter anderem Hannibal Lecter, Mr. Burns aus den „Simpsons" und Uli Hoeneß.

  • Friedrichfightingforyourrights: Der Tumblr sammelt, wann Innenminister Hans-Peter Friedrich im Einsatz für Bürgerrechte unterwegs ist. Dort steht allerdings nur der Hinweis: „Keine Einträge"

  • Pofallabeendetdinge.de: Der Kanzleramtschef Ronald Pofalla sagte über die NSA-Affäre, es gebe „in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung" und dass die Vorwürfe „vom Tisch" seien. Kurz darauf ließen ihn Twitter-User und ein Tumblr ganz andere Dinge beenden: das iranische Atomprogramm, die Bauarbeiten am Berliner Flughafen, die Unendlichkeit.

  • Seehoferwirftdingeausbayern: nicht nur ausländische Autofahrer (die Maut!), sondern auch Windräder, Geld und Journalisten.

  • Afdwaehlerstellensichvor: und zwar über gesammelte Leserkommentare von der offiziellen Facebook-Seite. Beispiel: „Ich werd aufräumen ich weis wie man mit moslems umgehen muss".

  • Peersfinger und Wopeerseinefingerdrinhat: Peer Steinbrück zeigt seinen Stinkefinger nicht nur auf dem SZ-Magazin-Cover, sondern auch Kim Jong-il. Und stützt den schiefen Turm von Pisa.

  • Schlandkette: Die Halskette, die Angela Merkel im TV-Duell trägt, begann noch während der Sendung unter @schlandkette zu twittern. Und, wie es sich für unsere alte und neue Kanzlerin gehört, ist das nicht ihr einziges Mem. Der Tumblr Merkelraute montiert ihre typische Handhaltung unter anderem an Columbo, Hulk und Alfred Hitchcock.

kathrin-hollmer


33. Filibuster!

34. Unser Lieblings-Gegenstand 2013: der Sandsack.




35. Der größte Held des Jahres findet offenbar keine passenden Hemden.



jetzt.de: Herr Weigand, Sie verkaufen seit zehn Jahren Maßhemden. Was halten Sie von Edward Snowdens Hemdenwahl?
Martin Weigand (Inhaber der „Reiser Hemdenmanufaktur" in München): Der Arme geht darin unter! Er hat einen relativ schlanken Hals, aber lange Arme. Das ist immer schwierig: Wenn er eine Größe kleiner nimmt, passt es ihm am Hals, aber dann sind wahrscheinlich die Ärmel zu kurz. Ich empfehle immer kürzere Sakko-Ärmel, die Hemdsärmel müssen noch zu sehen sein.

Abgesehen von der Passform: Ist das ein gutes Hemd?
So ein Haifischkragen ist normalerweise eine gute Wahl, um ihn ohne Krawatte zu tragen. Aber bei ihm fällt er zusammen. Wo er die beiden Knöpfe offen trägt, wirft das Hemd sehr starke Falten, das spricht für einen behandelten Stoff. Solche Hemden sind praktisch, sie kommen fast unverknittert aus der Waschmaschine. Aber der Stoff fällt dann nicht mehr schön.

Gibt es denn in Moskau, wo Snowden sich versteckt, gute Hemdenschneider?
Teure Hemden gäbe es bestimmt, viele Marken haben dort in den vergangenen Jahren Läden eröffnet. Aber das heißt ja nicht, dass man dort auch Qualität bekommt. Ich glaube auch nicht, dass es in Russland eine Tradition an Maßschneidern gibt. In dieser Hinsicht wäre Herr Snowden in Italien oder England sicher besser aufgehoben. Oder bei uns in München.
Interview: jan-stremmel

36. Die deutsche Sprache ist jetzt offiziell reicher um Worte wie „Arabellion" oder „Vollpfosten". Dafür haben wir so hübsche Worte wie „Plattei" verloren, bevor wir sie richtig kennenlernen konnten.

37. Wenn Promis Privates erzählen, hat das nicht automatisch mit PRISM und der NSA zu tun.
24.000 US-Dollar sind Lena Dunham für die Couch eines schwedischen Designers (inklusive Verschiffung) zu teuer. „decided it's just too expensive:)" schrieb sie deshalb ihrer Assistenz. Dieses bahnbrechende Insiderwissen über Lena Dunhams Finanzlage habe ich aus einer Mail, die mir die US-Künstlerin Miranda July am 1. Juli 2013 schickte. „We think alone" hieß das Kunstprojekt – wer sich für den Newsletter anmeldete, bekam 20 Wochen lang Post aus den Mail-Ausgängen bekannter Menschen wie Kirsten Dunst, Lena Dunham oder Basketball-Legende Kareem Abdul Jabbar zugesandt.

Was ich nach 20 Wochen Maillektüre tatsächlich wusste? Kirsten Dunst hat für 7000 Dollar ihr Auto an eine Freundin verkauft, die in Raten zahlen will. Lena Dunhams Ex-Freund ist immer noch traurig über die Trennung und scheinbar hat jeder Promi parallel noch ein Buchprojekt, das „zufällig" in den Mails erwähnt wird. Kunstmagazine und Blogs feierten diese Erkenntnisse als „extrem spannendes Ding" in Zeiten der Totalüberwachung durch PRISM. Schließlich gäben die Promis freiwillig Privates einer breiten Öffentlichkeit preis. Aber: Die Mails wurden von den Promis selbst kuratiert. Keiner musste Intimfotos oder Passwörter offenlegen. Irgendwie klar, aber ein kleines bisschen intimer hätte es schon sein müssen, um PRISM zu karikieren.

Für Lena Dunham hat sich ihre „Das Sofa ist zu teuer"-Offenbarung übrigens trotzdem gelohnt: Zahlreiche Twitterer nannten ihr daraufhin Orte, wo man eine Couch für unter 24.000 Dollar kaufen kann.
charlotte-haunhorst

38. „Stand your ground" werden wir nie verstehen. Nie.

39. Wir haben uns bisher viel zu wenig mit Asylbewerbern und ihrer Situation in Deutschland befasst.

40. Sharknado ist vielleicht nicht der beste Film des Jahres, aber ein gnadenloser Spiegel des Zeitgeistes. Wie übrigens jeder anständige Haifisch-Film!

41. Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit, ein Royal Baby zu bekommen, verschwindend gering. Wäre uns viel zu anstrengend.

42. Der alte Techno-Haudegen Westbam hört zum Frühstück Händel. Und Cro knutscht am liebsten zu The Weekend.




43. Dank Instagram sind Ausflüge jetzt wieder cool.

Wo ist der Lärm?!

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Freund A. schrieb jüngst. Von Vorweihnachtsumtrunk und großem Fest und Tradition. Viele Menschen würden kommen und ich solle mich anschließen! Es werde rauschend! Das hat mich verwirrt. Bei mir ist es im Moment nämlich hauptsächlich so, dass nix ist. Stille Zeit zwischen den Jahren – schon klar. Aber es scheint mir in diesem Jahr noch etwas extremer zu sein:  




Besinnlich oder laut: Wie hast du's gerne um Weihnachten?

Vermutlich liegt das an den besonders günstig verteilten Feiertagen. Vielleicht auch daran, dass ich als Selbständiger in den vergangenen Jahren oft alleine im Büro saß und einfach nicht gemerkt habe, dass außer mir niemand mehr arbeitet. In meinem Umfeld, privat wie beruflich, sind jedenfalls alle weg: Familienbesuche, Pärchenreisen über Silvester, Skiurlaub – ein Teil ist wohl auch in der Münchner Fußgängerzone, wie ich beim Panik-Einkauf am Wochenende gemerkt habe. Mich haben sie zurückgelassen – in einer Melange aus Plätzchenkrümeln und Abwesenheitsnotizen.  

Das ist für sich noch nicht tragisch. Ist schön ruhig hier und man bekommt viel auf die Reihe an einem Arbeitstag. Aber es greift auf alles andere über: Ich zögere, bevor ich Freunde anrufe („Sind ja eh nicht da ...“), mit einer Recherche anfange („Wer sollte mir da jetzt schon Auskunft geben ...?“) oder in Bars gehe („Haben doch eh bestimmt zu ...“). Und dann bleibe ich lieber gleich zu Hause. Vermutlich mache ich mir die stille Zeit damit in vorauseilendem Gehorsam selbst stiller als nötig. Aber der Aufruf von Freund A. blieb der einzige seiner Art.  

Wie ist das bei dir? Ist die stille Zeit auch so still? Und ist dir das grad Recht – laut und stressig ist es schließlich schon sonst immer? Oder brauchst du auch um Weihnachten herum etwas Lärm? Und wenn ja: Wie bekommst du ihn? Traditionelle Feierrunden? Spontanes Ausschwärmen als Steppenwolf? Sag’s uns! Laut!

Gekündigt wegen eines Tweets

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Wegen ihres Tweets wurde PR-Frau Sacco gekündigt.

Der Twitter-Mob kann furchterregend sein und unerbittlich. Wer die Macht des sozialen Netzwerks mit den 140 Zeichen-Nachrichten noch bezweifelte, sollte sich dieser Geschichte widmen. Sie begann am Freitag. Die bis dahin der Weltöffentlichkeit unbekannte PR-Frau Justine Sacco aus New York twitterte vier Sätze: "Bin auf dem Weg nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein AIDS. War nur ein Scherz. Ich bin ja weiß."

Was folgte, nennt man im Internet-Deutsch einen Shitstorm. Bevor Sacco in ein Flugzeug von London nach Südafrika stieg, hatte sie gerade mal 443 Follower bei Twitter. Doch ihre rassistische Kurznachricht verteilte sich weiter wie in einem Schneeballsystem. Bei ihrer Ankunft in Kapstadt, etwa zwölf Stunden später, folgten ihr fast zehn Mal so viele Menschen. Und es wurden immer mehr. Kein Thema haben die Twitter-Nutzer so viel weiter verbreitet wie Saccos Tweet. Jede Sekunde kommentierten Dutzende Twitterer den Tweet. Die Internetgemeinde wartete, was passieren würde, wenn sie aus dem Flieger steigt. Es kursierten Daten zu dem Flug, mit dem sie ankommen soll. Der Hashtag #HasJustineLandedYet wurde zu einem der meistbenutzten und führt seither die Toplisten in vielen Ländern an. Hashtags, also die #-Symbole, dienen bei Twitter dazu, einzelne Nachrichten einem Thema zuzuordnen. Nach ihrer Landung knipsten Leute Sacco mit der Handykamera und twitterten Bilder von ihr. Blogger und die Nachrichten-Websites der Welt schrieben über sie. Das Internet machte Jagd.

Sacco selbst konnte auf dem Flug nicht reagieren, die Nachricht weder löschen noch sich entschuldigen. Erst nach der Landung erfuhr sie von den Konsequenzen des Tweets und entschuldigte sie sich dutzende Male bei Twitter, am Sonntag schrieb sie sogar einen Entschuldigungsbrief an eine südafrikanische Tageszeitung. "Ich schäme mich", schrieb Sacco. Sie berichtete von angeblichen Todesdrohungen, Nervenzusammenbrüchen und dass ihre Familie sie verstoßen habe - zu spät.

Justine Sacco ist PR-Beauftragte des New Yorker Medienkonzerns InterActiveCorp (IAC), zu dem mehrere Internetunternehmen wie der Youtube-Rivale Vimeo oder die Partnersuchportale Match.com und Okcupid.com und sogar eine Dating-Website für Afro-Amerikaner namens BlackPeopleMeet.com gehören - beziehungsweise: sie war. Inzwischen ist sie ihren Job los. In einer ersten Stellungnahme distanzierte sich IAC von dem Tweet - noch vor Saccos Landung: "Das ist ein ungeheuerlicher, beleidigender Kommentar, der nicht den Werten und Ansichten von IAC entspricht." Saccos Name verschwand von der Homepage von IAC. Später kündigte IAC ihr offiziell. Das Unternehmen versuchte, einen Imageschaden abzuwenden. Ebenfalls: zu spät. Im Wikipedia-Eintrag zu IAC fand sich innerhalb kürzester Zeit ein Absatz über Saccos Tweet.

Das amerikanische Kündigungsschutzrecht ist nicht sehr arbeitnehmerfreundlich. Solange eine Kündigung nicht diskriminierend ist, können Unternehmen ihre Mitarbeiter jederzeit vor die Tür setzen, sagt Stefan Lunk, der im Hamburger Büro der amerikanischen Großkanzlei Latham & Watkins Partner für Arbeitsrecht ist. Aber selbst in Deutschland könnte man im Extremfall für eine Nachricht bei Twitter gefeuert werden, sagt Lunk.

Sacco hat in ihrem Twitter-Profil geschrieben, dass sie Public Relations für IAC macht, ihre Nachricht war also nicht rein privat. Normalerweise müssen Arbeitgeber abmahnen, wenn ein Mitarbeiter etwas falsch macht, in extremen Fällen sei das aber bloße Förmelei und deshalb nicht nötig. "Wenn einer mit dem Flammenwerfer durch den Betriebskindergarten läuft, würde auch keiner eine Abmahnung verlangen", sagt Lunk. "Das Schwierige ist natürlich die Abgrenzung, wann etwas so schlimm ist."

Manch einer spekulierte, Saccos Twitter-Account sei gehackt worden und die Nachricht gar nicht wirklich von ihr. Andere PR-Experten vermuten eine Kampagne, der Fehltritt sei so monströs, dass er einer PR-Beauftragten eines großen Medienkonzerns niemals unterlaufen wäre - und schließlich ist ihr Unternehmen IAC nun so sehr in der Öffentlichkeit wie nie zuvor. Andererseits hatte Sacco schon einige mehr als undiplomatische Tweets abgesetzt, vom Twitter-Mob bislang unbemerkt. Der Tierschutzorganisation PETA hat sie zum Beispiel geschrieben, dass sie Tiere zwar mag, aber bei dieser Kälte persönlich einem das Fell abziehen würde.

Nun ist Justine Sacco ein Internetphänomen - samt aller Häme. Menschen gestalten Filmposter für einen fiktiven Film über sie, er trägt den Titel "Wie man in zehn Sekunden seinen Job verliert". Jemand hat die Domain justinesacco.com gekauft und leitet nun dort auf die Spendenseite von "Aid for Africa" weiter.

Sacco selbst hat zuerst ihren Tweet gelöscht und später gleich alle ihre Accounts in sozialen Netzwerken.

Gott, kompakt

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Anne-Sophie Köhler gibt sogenannte Alpha-Kurse, in denen jungen Menschen Religion nahegebracht wird.

Die Schaufensterpuppen der Sexshops in der Nürnberger Innenstadt tragen Nikolausmützen zur Reizwäsche. Nicht mehr lange bis Weihnachten.

Zwei Ecken weiter, hinter einer anderen Fensterfront, sitzt Anne-Sophie Köhler an einem Retro-Bartisch in einem Retro-Sessel und spricht über Gott. Sie tut das beruflich. Die kleine Bar, in der sanfter Soul-Pop läuft, gehört zum CVJM Nürnberg, dem Arbeitsplatz von Anne-Sophie Köhler. Ihre Stelle heißt: "18plus-Sekretärin". CVJM steht für Christlicher Verein Junger Menschen; ein weltweiter Zusammenschluss gläubiger Christen, allerdings ohne Bindung an eine Kirche und überkonfessionell. Bekannter als das deutsche Kürzel ist die amerikanische Version: YMCA. Wie der Hit der Village People.

Anne-Sophie Köhler ist 28 Jahre alt, sieht aber jünger aus. Die evangelische Theologin trägt Kapuzenpulli, und wenn sie von Gott spricht, werden ihre Wangen rot vor Aufregung.

An Abenden wie diesen erklärt Anne-Sophie Köhler, wie das gehen kann: an Gott glauben. Gleich beginnt die dritte Sitzung des "Alphakurses", den der CVJM Nürnberg anbietet. Weltweit haben angeblich schon mehr als 23 Millionen Menschen in 163 Ländern einen solchen Kurs besucht, in Deutschland bieten etwa 700 Gemeinden unterschiedlicher Konfessionen einen an. Offizielle Teilnehmerstatistiken gibt es nicht; laut Alpha Deutschland e.V. nimmt die Zahl der Kurse hierzulande jedoch stetig zu. Das Konzept kommt aus dem London der Siebzigerjahre. Es geht darum, den Glauben in kompakter Form zu vermitteln, zehn Themen an zehn Abenden. Wer ist Jesus? Was ist der Heilige Geist? Wie widerstehe ich dem Bösen? Die Basics.

Das Thema heute: Wie lese ich aus der Bibel? "Wir erklären, was das für ein Gott und was das für ein Buch ist, von dem wir da sprechen", sagt Anne-Sophie Köhler. Die Zweifel der Teilnehmer seien willkommen, auch kritische Fragen. Die Antworten gebe es dann "im besten Fall bei Gott".

Die Kurse erhalten offizielle Unterstützung aus fast allen christlichen Kirchen. Es gibt Kürbissuppe, Kuchen und sanftes Licht. Die etwa dreißig Kursteilnehmer und die Mitarbeiter sitzen an langen, liebevoll gedeckten Tischen, es wird viel gelacht und sofort nachgefüllt, wenn ein Teller oder Glas leer ist. Das hier ist der Teil des Glaubens, den man vom Lagerfeuer bei Kinderfreizeiten kennt, der gemütliche Teil, ohne Dogmen und Fegefeuer.

Ein Abend im Alphakurs läuft immer gleich ab. Erst wird gemeinsam gegessen, dann folgt ein Vortrag, und anschließend wird in kleinen Gruppen diskutiert. "Total persönlich" könne das werden, sagt Anne-Sophie Köhler. Heute ist sie selbst dran mit dem Vortrag. Als sie den Raum betritt, wird sie zu Anne, die jeder umarmt, der jeder über den Rücken streichelt. Freundliche ältere Damen sind darunter und hagere Männer mit grauen Bartstoppeln. Aber auch junge Frauen und Männer um die Zwanzig sind da. Mit ihren Nerd-Brillen und Turnschuhen würde man sie um diese Uhrzeit eher auf einem Konzert oder beim Fertigmachen für den Club-Besuch vermuten.

So wie Daniel, 22 Jahre, Vintage-Jeans und sorgfältig gestylte Haare, und Christian, 21, im lässigen Karohemd. Anfänger in Glaubensfragen sind auch sie nicht. Beide kommen aus religiösen Familien, beide gehen regelmäßig in die Kirche. Hier finden sie trotzdem mehr als im Gottesdienst, sagen sie: eine Bestätigung, eine Argumentationsgrundlage.

Wer sich heute zu Jesus bekennt, der braucht so etwas, vor allem als junger Mensch. "Blöde Kommentare bekomme ich schon", sagt Christian. Aber er lebe mit seinem Glauben nun mal "viel besser als ohne". Daniel sagt: "Es gibt eben Dinge, Wunder, Zufälle, nenn' es, wie du willst, die kann ich mir nicht anders erklären."

Die Weihnachtszeit ist für viele christlich erzogene Menschen die einzige Zeit im Jahr, in der sie sich an ihren Glauben erinnern. Beziehungsweise: an den beschaulichen Teil. Die Geschichte von dem Engel und den Hirten und dem Kind im Stall finden auch Skeptiker immer wieder schön. Der blutige Jesus am Kreuz und das Fegefeuer spielen da keine Rolle.

Auch Anne-Sophie Köhler spricht an diesem Abend in Nürnberg von einem sanften und liebevollen Gott. Sie sagt sehr oft Dinge wie: "Glaube ist Freiheit." Oder: "Mir gibt der Glaube total viel". Das passt auch zu den Slogans auf den Flyern der Veranstaltung. "Das Geheimnis selbst entdecken", steht da. Und dass man diese "einmalige Chance nicht verpassen" dürfe. Alles ganz nett, aber irgendwie auch platt: Gott in zehn Schritten, werberisch verpackt und sympathisch.

"Irgendwie ist es schon so", gibt Anne-Sophie Köhler zu. "Aber wir verkaufen ja kein Produkt. Ich verstehe das eher als Einladung, die man annehmen oder ausschlagen kann." Alles kann, nichts muss. Jeder darf kommen, jeder darf wieder gehen in einem Alphakurs, ohne Bedingungen und Verpflichtungen.

Dass es Glaubensfragen gibt, über die sich streiten lässt, ist auch Anne-Sophie Köhler klar. "Ethische Fragen" nennt sie die. Homosexualität, Sex vor der Ehe, Pornografie: Was sagen die christlichen Kirchen ihren Mitgliedern - und was antworten die, vor allem die jungen? In einem Alphakurs gebe es keine Tabuthemen, sagt Anne-Sophie Köhler. Trotzdem seien solche ethischen Fragen kaum je ein Thema. Die Theologin erklärt das so: "Wir leben in einer individualistischen Gesellschaft. Deshalb suchen die Leute im Kurs nach Antworten für sich persönlich. Sie schauen nicht, was die Anderen dazu sagen." Die Anderen: Sie meint die Kirchen.

Als Anne-Sophie Köhler mit ihrer Rede über Gott und die Bibel beginnt, wird es ganz still im Raum. "Der Dirk hat uns ja schon beim letzten Mal gesagt, dass Jesus nicht nur irgend so ein Spinner war", fängt sie an. Dann erzählt Anne von ihrer "rebellischen Jugendzeit", in der sie Freunde aus dem Jugendgottesdienst, die privat die Bibel lasen, ausgelacht habe. Und von dem Moment, in dem sie verstanden habe, dass die Bibel kein Gesetz- und kein Geschichtsbuch sei, sondern eine Liebeserklärung: "Gott sagt uns die ganze Zeit: Mann, wie sehr lieb' ich dich." In dem Moment stockt ihre Stimme im Headset. Heute, sagt sie schließlich, lese sie jeden Tag in der Bibel.

Während Anne-Sophie Köhler von ihrem Weg zum Glauben erzählt, empfindet man als Zuhörer Respekt. Es gehört Mut dazu, sich öffentlich hinzustellen und zu sagen: Ich lese die Bibel, ich gehe in den Gottesdienst. Und es drängt sich die Frage auf: Warum ist man beim Anblick von jungen Menschen, die sich offen für ihren Glauben begeistern, eher irritiert und peinlich berührt als von Puppen in Strapsen, die Nikolausmützen auf dem Kopf haben?

Anne-Sophie Köhler gibt ihren Zuhörern gegen Ende des Vortrags noch ein paar Tipps für die Bibellektüre mit auf den Weg: feste Zeiten einplanen, nicht zu viel auf einmal lesen und immer eine Kerze anzünden. Wem das nicht ausreiche, der könne sich im Netz Bibel-Lesepläne oder Podcasts als Auslegungshilfe runterladen, zum Beispiel auf der Seite bibeltunes.de. Die meisten Kursteilnehmer schreiben eifrig mit.

Bei der Diskussion im Anschluss wird Anne-Sophie Köhler nicht mehr dabei sein. Ihre Gruppe wird das Gleichnis aus dem Neuen Testament ohne sie besprechen; es geht um den Samen des Glaubens, der bei den Menschen auf unterschiedlich guten Boden fällt. Auch das gehört zum Programm. Wer vorträgt, darf sich hinterher ausruhen, in sich gehen. Oder wie es hier heißt: eins sein mit Gott. Doch Anne ist schon ganz bei sich, als sie am Ende ihrer Rede die letzten Worte nicht an die Gruppe, sondern an ihren Gott richtet: "Danke, dass schon so viele Menschen so viel Krasses mit dir erleben durften!"

Was im Kopf steckt

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Nicht nur, wenn es um ihr Futter geht, sind Schimpansen intelligente Tiere.

Schimpansen spielen die Ahnungslosen, wenn sie versteckte Leckerbissen vor Artgenossen verbergen wollen. Krähen biegen Drähte zu Haken, um damit Futter zu angeln. Tintenfische finden spielend aus einem Labyrinth heraus und behalten den Weg mehrere Tage lang im Gedächtnis. Bienen weisen ihren Schwestern vom dunklen Stock aus den Weg zu weit entfernten Nektarquellen. Die Beispiele zeigen: Intelligenz hat viele Erscheinungsformen. Und sie hat sich im Laufe der Evolution mehrmals in verschiedenen Tiergruppen entwickelt. Entsprechend unterschiedlich ist die Architektur der Nervensysteme, denen Insekten, Weichtiere, Vögel oder Primaten ihre besonderen Fähigkeiten verdanken. Doch gibt es ein paar universelle Kriterien, auf denen Intelligenz basiert.

Das erste Kriterium klingt trivial: Ein Gehirn braucht Nervenzellen. Dass es sich auch ohne Neuronen gut leben lässt, machen Bakterien und viele andere Organismen vor, die nur aus einer einzigen Zelle bestehen. Auch mehrzellige Tiere wie die Schwämme kommen ganz gut ohne Nervenzellen aus. Allerdings gehen sie ihren Alltag etwas gemütlicher an als nervöse Zeitgenossen: Bis ein Reiz (etwa eine ungewohnte Berührung) zu einer Reaktion (Zurückzucken) führt, vergehen mehrere Minuten. Weil ihm Übertragungsleitungen fehlen, stellt der Schwammkörper bestimmte Zellen ab, die als Boten von den Sinnes- zu den Bewegungsorganen wandern und dort Bescheid geben, wenn etwas zu tun ist. Die schnellere Erregungsübermittlung via Nervenzellen hat die Informationsverarbeitung und das Reaktionsvermögen von Tieren um Größenordnungen beschleunigt. Doch erst die Bündelung der Neuronen an einem zentralen Organ, dem Gehirn, ermöglicht komplexe Leistungen.

Das auffälligste Kennzeichen eines Gehirns ist seine absolute Größe. Weil diese an die Körpermaße gekoppelt ist, haben große Tiere größere Gehirne als kleine. Innerhalb einer Tiergruppe garantiert das größte Hirn folglich die höchste Intelligenz. Spitzenplätze belegen unter den Insekten die Bienen, bei den Weichtieren die Oktopusse und bei den Vögeln die Papageien, Eulen und Krähen. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen absoluter Gehirngröße und Intelligenz bei den Primaten: Lemuren und andere Halbaffen haben ein sehr kleines Gehirn und entsprechend geringere Intelligenz. Die Neu- und Altweltaffen sind mit ihren größeren Gehirnen schon um einiges schlauer. Schimpansen und andere Menschenaffen haben noch größere Gehirne und weiter reichende kognitive Fähigkeiten. Die intelligenteste Spezies mit dem größten Primatenhirn sind zweifellos wir Menschen selbst. Und auch bei den übrigen Säugetieren sind die Klügsten jene mit den größten Gehirnen, nämlich die Elefanten, Wale und Delfine.

Doch wer schon einmal ein Kapuzineräffchen beim Lausen, Raufen oder Grimassenschneiden beobachtet und mit einer weidenden Kuh verglichen hat, muss zugeben: Obwohl das Affenhirn deutlich kleiner ist - es misst nur ein Fünftel eines Rinderhirns - leistet es erkennbar mehr. Auch die klugen Meeressäuger und Rüsseltiere schneiden schlecht ab, sobald man sie am Schimpansen oder gar am Menschen misst: Die riesigen Gehirne der Schwertwale (bis 10 Kilogramm) und des Elefanten (4,2 Kilogramm) sind sieben- beziehungsweise dreimal so groß wie das menschliche Denkorgan, die Geistesleistungen reichen jedoch nicht an die vieler Primaten heran. Offensichtlich entscheidet nicht nur die absolute, sondern auch die relative Größe über die Leistungsfähigkeit eines Gehirns. Unter den meisten Wirbeltieren haben die größeren Arten ein relativ kleineres Gehirn als die kleineren. Außer bei den Primaten: Hier steigt die Gehirngröße etwa im selben Maße an wie die Körpergröße. Deshalb hat jedes Äffchen mehr Hirnmasse als ein gleich großer Hund oder Hase. Innerhalb der Primaten setzt der Mensch noch eins drauf: Wir haben für jedes Kilo des Körpergewichts dreimal so viel Hirn wie ein Schimpanse und achtmal so viel wie eine Katze.

Dennoch reicht auch die relative Größe eines Gehirns nicht zur Qualitätsbestimmung aus: Es kommt vor allem auf den Inhalt an. "Wale sind ein gutes Beispiel dafür, dass ein größeres Gehirn nicht unbedingt mehr Nervenzellen enthalten muss. Entscheidend ist, wie dicht die Neuronen gepackt sind", erklärt Onur Güntürkün, Biopsychologe an der Uni Bochum. Bei den meisten Wirbeltieren ist es so: Je größer ihr Gehirn, umso geringer ist die Packungsdichte der Neuronen. Deshalb haben Delfine wie der Große Tümmler zwar genauso viel Hirnmasse wie der Mensch, doch enthält diese mit 5,8 Milliarden Nervenzellen wesentlich weniger Neuronen.

Vögel und Primaten sind die einzigen Wirbeltiere, bei denen dieses Prinzip nicht gilt. Ihre Neuronen sind in großen wie in kleinen Gehirnen gleich dicht gepackt. "Bei Vögeln ist die Packungsdichte sogar noch höher als bei den Primaten, sie haben also je Gramm Hirngewicht noch mehr Nervenzellen. Das erklärt zumindest zum Teil, warum sie trotz ihrer kleinen Gehirne so erfolgreich sind", so Güntürkün. Die Familie der Rabenvögel hat besonders einsichtige, lern- und merkfähige Arten hervorgebracht: Krähen setzen oft spontan - also ohne Training oder Abschauen - Werkzeuge ein oder stellen sogar passende Hilfsmittel her. Tannenhäher verstecken im Herbst hunderte Zirbelsamen in der Erde oder in Felsblöcken und finden sie später sogar unter einer meterhohen Schneedecke wieder. Elstern erkennen ihr eigenes Spiegelbild, was sonst nur Menschaffen, Elefanten und Delfinen gelingt.

Alle Rabenvögel haben relativ zum Körpergewicht ein größeres Gehirn als beispielsweise Tauben oder Hühner. Ihr überproportionales Denkorgan enthält dementsprechend vermutlich auch absolut gesehen eine höhere Zahl von Nervenzellen - besonders in denjenigen Bereichen, die für Intelligenz zuständig sind. Konkrete Zahlen sind für Vögel bislang nicht bekannt. Der Hirnforscher Gerhard Roth, Emeritus an der Universität Bremen, schätzt die Zahl der Neuronen im Intelligenzzentrum von Vogelgehirnen je nach Art auf 100 bis 400 Millionen. Bei den Primaten ist dieses Zentrum die Großhirnrinde: Sie fasst beim Menschen 12 bis 15 Milliarden Neuronen (von insgesamt rund 100 Milliarden) und bei den kleineren Affen etwa so viele wie das Pendant im Rabengehirn. Beim Oktopus enthält der Vertikallobus immerhin 24 Millionen Nervenzellen. Und im Gehirn der Honigbiene konzentriert sich rund ein Drittel der insgesamt 960 000 Neuronen in zwei symmetrisch angeordneten Strukturen, den sogenannten Pilzkörpern.

"Nun wissen wir natürlich: Die eigentliche Musik spielt sich in den Verbindungen der Nervenzellen ab. Und wir können davon ausgehen, dass eine größere Zahl an Nervenzellen auch mehr synaptische Verbindungen ausbildet", sagt Onur Güntürkün. Über die Zahl der Synapsen, die ein Neuron - zum Beispiel in der menschlichen Hirnrinde - formen kann, gibt es unterschiedliche Befunde: Einige Forscher gehen von 1000 bis 10 000 aus, andere von bis zu 30 000. Unstrittig ist jedoch, dass der Mensch sämtliche Tiere auch in der Zahl der Synapsen übertrifft. Unsere Hirnrinde ist mit maximal fünf Millimetern rund viermal so dick und zudem noch doppelt so dicht mit Neuronen bepackt wie die der Wale und Elefanten. Diese vielen, eng benachbarten Zellen können besonders schnell miteinander kommunizieren. "Nach meinen Schätzungen ist die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn sechs- bis zehnmal höher als in den sehr viel größeren Gehirnen der Elefanten und Wale", erläutert Gerhard Roth.

Eine sehr dichte Neuronenpackung und sehr hohe Erregungsleitungsgeschwindigkeiten kennzeichnen nicht nur die Hirnrinde der Primaten und insbesondere des Menschen, sondern auch die Intelligenzzentren im Gehirn von Vögeln und einigen wirbellosen Tieren. Sie haben die Packungsdichte sogar noch optimiert, so Gerhard Roth: "Oktopusse und Bienen haben in ihren Intelligenzzentren sehr viel kleinere Neuronen als wir. Und auch die Vögel und Primaten haben im Vergleich zu anderen Wirbeltieren sehr kleine Nervenzellen." Deshalb stecken in den kleinen Gehirnen der Tintenfische und insbesondere in den winzigen Insektengehirnen pro Volumen deutlich mehr Neuronen als in den Wirbeltierhirnen. Deshalb können sie Information oft schneller verarbeiten.

Vom Gehirn einer Biene oder eines Tintenfischs zu dem eines Raben oder Affen ist es freilich ein sehr großer quantitativer Sprung: Wirbeltiere haben in ihrem Schaltzentrum mehrere Milliarden Nervenzellen, Oktopusse immerhin 42 Millionen, Insekten dagegen nur eine halbe bis eine Million. "Und trotzdem stehen einige dieser kleinen Tiere den großen in vielen Intelligenzleistungen nicht nach. Dazu gehören zum Beispiel Lernen, Gedächtnis, Selbstwahrnehmung, Unterscheidung zwischen dem eigenen Körper und der Außenwelt sowie komplexe soziale Interaktionen zwischen Individuen. Diese Fähigkeit haben auch die kleinen Gehirne", sagt Randolf Menzel, Neurowissenschaftler und Verhaltensbiologe an der FU Berlin.

Wie Menzels Forschung zeigt, sind die Pilzköper des Bienengehirns in zahlreiche Module gegliedert, die parallel viele sensorische, motorische, modulatorische und bewertende Informationen entgegennehmen. "Dort werden sie auf eine Vielzahl von internen Neuronen verteilt und dann auf eine geringe Zahl von Ausgangsneuronen verschaltet. Wir haben also zuerst eine Divergenzschaltung und anschließend konvergiert es wieder", erklärt Menzel. Je mehr Neuronen in diesen parallel verknüpften Pilzkörper-Modulen liegen, umso komplexer sind die Leistungen, die sie ermöglichen: Honigbienen haben dort mit etwa 130 000 Neuronen rund 26-mal so viele wie die Taufliege Drosophila.

Auch die Hirnrinde im Säugergehirn ist in Parzellen unterteilt, wo die Vielzahl von äußeren Sinneseindrücken und inneren Körperzuständen verarbeitet und zusammengeführt werden. Je stärker diese Parzellierung ist, umso besser: Mäuse und andere kleine Säugetiere haben etwa zehn Areale, die unterschiedliche Informationen aufnehmen und weiterleiten. Dagegen verfügt die menschliche Hirnrinde über 150 Areale mit 60 Verbindungsstellen, die insgesamt 9000 Areal-Verschaltungen ermöglichen. "Man kann also wirklich sagen: Es gibt ein Grundprinzip für hohe Intelligenz, das man auch als Ingenieur beschreiben könnte", sagt Gerhard Roth und zieht das Fazit: "Das menschliche Gehirn kombiniert einen großen Cortex mit einer relativ dichten Packung, hoher Übertragungsgeschwindigkeit und starker Parzellierung. Daraus resultiert die höchste Informationsverarbeitungskapazität und Intelligenz unter allen Lebewesen."

"Ohne warme Kleidung bist du gefickt"

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Vor acht Jahren entdeckte Dave Tew, ein Webdesigner aus dem nordenglischen York, in einem Internetforum einen Eintrag. Ein Amerikaner erwähnte darin, dass er regelmäßig auf Güterzügen durch die USA reise. Dave war 23 und hatte Lust auf Abenteuer. Er kontaktierte den Mann und traf ihn ein paar Monate später in den USA, um ihn beim "Freight Train Hopping" zu begleiten. Dieses Jahr hat er das wiederholt - in Kanada, ganz alleine - und sich dabei selbst gefilmt. Der Film steht nun im Netz und sorgt für Diskussion: gutes Abenteuer oder lebensgefährlicher Unfug?



Die Maske trägt Dave, 31, gegen die Kälte - und damit ihn von der Straße aus niemand sieht.

jetzt.de: Dave, du bist zwei Wochen alleine auf Güterzügen durch Kanada gereist und hast dich dabei selbst gefilmt. Ein guter Urlaub?

Dave: Überhaupt nicht! Ich habe nur eine Nacht in einem Bett verbracht, sonst im Schlafsack im Gebüsch neben Güterbahnhöfen. Aber eigentlich schläfst du beim Train Hopping sowieso nie richtig: Du könntest jederzeit erwischt werden oder musst beim kleinsten Geräusch aufwachen und auf den Zug springen, sobald er sich bewegt.  

Eher nicht so erholsam.
 
Nein. Ich brauchte erstmal zwei Wochen Ruhe, als ich wieder daheim in England war.  

Du kaufst also einen teuren Transatlantikflug, um dann als blinder Passagier Zug zu fahren. Wäre es nicht praktischer, das in England zu tun?
 
Schon, aber dort ist es viel gefährlicher. Die Güterzüge sind in Europa kürzer und stoppen häufiger, die Bahnstrecken sind besser überwacht. Außerdem laufen die Züge in England mit Strom, und mit Hochspannungsleitungen würde ich nicht unbedingt spielen.  

Wie ist das in Nordamerika? 
Da fahren Dieselloks, die hinter sich zwei Kilometer lange Güterzüge herziehen. Sich da einzuschleichen und zu verstecken ist viel leichter. Es gibt an den Bahnhöfen auch kaum Wachleute. Und viele von den Waggons sind „Grainer“, mit denen transportiert man Getreide. Die eignen sich am besten zum Mitfahren, weil sie einen vor Regen und Sonne schützen.  

Vor ein paar Jahren bist du schonmal auf Zügen durch die USA gereist. Warum diesmal Kanada?  
Vor allem, weil es übersichtlich ist: In den USA ist das Streckennetz ein Labyrinth, in Kanada fahren die Züge nur von Ost nach West oder umgekehrt. Und diesmal hatte ich keinen Partner dabei, der sich auskennt.  

Stichwort Orientierung: Woher wusstest du, wann welcher Zug wohin fährt? 
Wusste ich nicht. Es gibt keine öffentlichen Pläne für Güterzüge. Im Netz kursiert hier und dort mal ein uralter Plan, aber du weißt nie, wie aktuell der noch ist.  

Du springst also auf gut Glück auf einen Zug und schaust dann, wo du landest? 
So ist es.  

Und das klappt? 
Leider nicht immer. Gleich am Anfang habe ich mich brutal verfahren. Ich bin in Montreal bei Freunden gestartet und wollte nach Westen. Stattdessen fuhr der Zug aber nach Osten. Und absteigen konnte ich erst wieder nach 600 Kilometern...  



Einer der idyllischen Momente. Obwohl Dave auch hier keine Ahnung hat, wohin die Reise geht oder wann der Zug das nächste Mal hält.


...nach 600 Kilometern?!
 
Naja, du kannst nur abspringen, wenn der Zug höchstens in Laufgeschwindigkeit fährt, sonst brichst du dir alle Knochen. Als es endlich soweit war, stand ich leider in einem kleinen Kaff namens Edmunston, irgendwo in New Brunswick.  

Und dann? 
Eine Nacht im Gebüsch und am nächsten Morgen zurück nach Westen. Wobei ich dann wieder Pech hatte...
  
...der Zug fuhr nicht zurück nach Montreal? 
Doch, aber er stoppte dort nicht. Ich sah Montreal auf mich zukommen und fühlte, wie der Zug langsamer wurde, saß schon bereit zum Absprung unten auf dem Waggon - aber er hielt nicht! Montreal ist also mit 30 Kilometern pro Stunde an mir vorbeigezuckelt, und ich konnte nichts tun. Ich fuhr dann acht Stunden weiter nach Toronto.  

Acht Stunden umsonst? 
Du kannst ja schlecht zum Zugführer gehen und ihn bitten, anzuhalten. Also sitzt du auf dem Dach und genießt die Landschaft, die ist atemberaubend! Und acht Stunden sind noch okay. Ich saß auch schonmal 16 Stunden auf einem fahrenden Zug fest, dagegen war der Ausflug nach Toronto eine kleinere Unannehmlichkeit. Übrigens ist das eine der größten Gefahren beim Freight Train Hopping.  

Auf einem Zug gefangen zu sein, der nicht anhält?  
Klar. Stell dir vor, der fährt zwei Tage durch die Wüste! Das kann in den USA durchaus passieren. Wenn du dann nicht genug Wasser und warme Kleidung für die Nacht hast, bist du gefickt. Niemand weiß ja, dass du da bist. Wobei ich diesmal vor etwas anderem größere Angst hatte.  

Wovor?
 
Dass die Gleise plötzlich eine Kurve machen und der Zug über die Grenze in die USA fährt. Dann wäre ich plötzlich ein illegaler Einwanderer gewesen. Stelle ich mir nicht allzu lustig vor. Ist aber zum Glück nicht passiert.  

http://www.youtube.com/watch?v=P-FYjiGEtsU Der Film, den Dave über seine Reise gedreht hat.

Was ist mit Tunneln?
Die sind nur ein Problem, wenn man über die Rocky Mountains will. In einigen davon steckt man 20 Minuten, und die Luft ist voller Diesel-Abgase. Ich hab gelesen, dass man für solche Fälle vorher einen großen Müllsack mit Luft füllt und ihn sich im Tunnel über den Kopf stülpt. Wenn man dann langsam atmet, schafft man es bis zum Ausgang.

Klingt so, als gäbe es nicht gerade viele von euch Train Hoppern, oder?  
Ich hab jedenfalls noch nie einen getroffen. Es gibt zwar schon einige, die das machen, vor allem Obdachlose, aber da bleibt jeder unter sich. Nachdem ich das Video online gestellt hatte, waren einige von denen echt angepisst: Ich würde das verherrlichen und ahnungslose Leute animieren, ihr Leben zu riskieren. Was wiederum allen anderen schaden würde.  

Eine nachvollziehbare Kritik. Dein Video macht schon Lust, das mal zu probieren.  
Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich etwas anschaue oder es selbst mache. Nur weil ich gern Basejumping-Videos gucke, würde ich nie selbst irgendwo runterspringen! Und ich warne ja zu Anfang des Films davor.  

Das Leben als Landstreicher ist ein großes Thema der amerikanischen Beat-Literatur. Jack Kerouac, Allen Ginsberg, haben dich die inspiriert?
 
Überhaupt nicht! Und das ist auch sowas, was die Puristen stört: Ich mache das nicht mal aus einer Faszination für die amerikanische Geschichte. Seit der Großen Depression wird das Reisen auf Güterzügen ja total romantisiert. War mir aber egal. Ich hatte einfach so Lust drauf.  

Wohin geht deine nächste Reise?
 
Wenn ich wieder Geld gespart habe: nach Brisbane in Australien, meinen Bruder besuchen. Aber um es spannender zu machen, habe ich mir eine Regel ausgedacht - ich darf kein Flugzeug benutzen. Ich werde meinen Bruder also irgendwann anrufen und sagen: Damit du Bescheid weißt, ich bin in ungefähr drei Monaten bei dir! Wobei Australien natürlich nicht der Grund für den Trip ist. Ich reise ja nicht, um anzukommen.

China erwartet Babyboom

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Familien, die in China ein zweites Kind haben wollten, hatten es schwer und das seit fast 34 Jahren. Ausnahmen von der Regel gab es nur wenige: Bauern, die als Erstgeborene eine Tochter zur Welt brachten, bekamen oft eine zweite Chance, ethnische Minderheiten, wie Mongolen, Tibeter oder Uighuren durften ebenfalls zwei Kinder zeugen, ansonsten war der chinesische Staat streng. Etwa 400 Millionen Geburten, schätzen Wissenschaftler, konnten seit 1980, als die Ein-Kind-Politik in China eingeführt wurde, verhindert werden. Und das mit zum Teil unmenschlichen Methoden: Es kam zu Zwangsabtreibungen und Massensterilisationen. Wer es trotzdem schaffte, ein zweites Kind zur Welt zu bringen, dem drohten drakonische Geldstrafen, Beamte konnten für ein zweites Kind sogar ihren Job verlieren.




Damit soll nun Schluss sein, der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses, also die Vereinigung der etwa 160 wichtigsten Parlamentarier Chinas, hat nun eine Lockerung der Ein-Kind-Politik abgenickt und damit einen Beschluss des Zentralkomitees bestätigt. Im November hatte das 376-köpfige Gremium der Kommunistischen Partei in Peking getagt und zahlreiche Reformen beschlossen.

Die neue Regelung soll Anfang 2014 in Kraft treten, dann gilt: Wenn einer der beiden Partner Einzelkind ist, dürfen sie zwei Kinder haben. Chinas amtliche Nachrichtenagentur Xinhua schätzt, dass von der Reform etwa 7,5 bis zehn Millionen Paare betroffen sind. Fast schon ein kleiner Babyboom werde deshalb in China erwartet. Und den braucht das Land tatsächlich, denn auch China hat demografische Probleme. „Wenn die derzeitige Familienplanungspolitik anhält, wird die Geburtenrate weiter fallen“, warnt Chinas Familienministerin Li Bin. Im Jahr 2030 seien dann ein Viertel der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt.

Ebenfalls verabschiedet hat der Ausschuss die bereits im November angekündigte Abschaffung der Umerziehungslager. Das System der „Umerziehung durch Arbeit“ sei durch die Entwicklung des Rechtssystems inzwischen „überflüssig“ geworden, zitierte Xinhua aus dem Kabinettsantrag. Damit sei „eine historische Mission erfüllt“. 1957 war das System eingeführt worden, es erlaubt der chinesischen Polizei Angeklagte bis zu vier Jahre ohne Prozess in Arbeitslager zu stecken. Einem UN-Bericht aus dem Jahr 2009 zufolge sollen etwa 190 000 Chinesen betroffen gewesen sein. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bezweifeln allerdings, dass die Reform zu großen Veränderungen führt. Es werde weiterhin willkürliche Festnahmen in China geben. Statt in Umerziehungslager werde man die Menschen in sogenannte schwarze Gefängnisse, zum Beispiel in Entgiftungskliniken für Drogenabhängige sperren, befürchten die Menschenrechtler. Christoph Giesen

Wir haben verstanden: Von Pflanzen und vom Sterben

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Jahresrückblicke haben in aller Regel das Anliegen, eine Antwort auf folgende Frage zu liefern: „Was war dieses Jahr wichtig?“ Das ist gut. Aber wir finden, dass eine andere Frage mindestens genauso wichtig ist: „Was haben wir verstanden?“. Deshalb haben wir ein digitales Magazin mit einer Liste gemacht: 100 Dinge, die wir 2013 begriffen haben. Einen Auszug daraus findest du hier - darum sind die Punkte auch nicht immer fortlaufend nummeriert. Das komplette digitale Magazin mit allen 100 Punkten für Tablets und Smartphones kannst du mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung herunterladen. Du kannst es für nur 89 Cent kaufen; für Abonennten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.

Wir haben verstanden:


45. Gustl Mollath beweist: Auch eine Pflanze kann ein bester Freund sein.

46. Nirgends macht Skaten so viel Spaß wie im selbstgebauten Skatepark.




47. Das Leben ist ein Porno.
Es gibt offenbar nichts mehr, an das sich nicht das Wort „Porn“ hängen lässt. Angefangen hat es mit „Food Porn“, mit Blogs voller Fotos von Nudeln, Burgern und Pfannkuchen. Inzwischen werden auch Fotos von Tonstudios und Küchenmessern gesammelt und mit dem Suffix „Porn“ versehen. Dieser Anhang drückt die Sehnsucht, die Lust auf das, was der Nachsilbe vorangeht, kompakt aus, ja, er gibt dem Ganzen quasi eine sinnliche Komponente. Die Tumblr versprechen eine Art Ersatzbefriedigung – die der ganz gewöhnliche Porno ja auch liefern soll. Nur, dass man sie hier nicht über das Betrachten vögelnder Menschen bekommt, sondern über das Anschauen von: Booten, Bücherregalen, Messern, Layouts, Schlagzeugen, dem Weltraum. Sogar für die Kategorie „alles“ gibt es eine Porn-Sammlung: „Life Porn“ – Fotos von Schiffswracks, Wachsmalstiften oder vom Eiffelturm bei Nacht. Nur für das, was wir uns eigentlich immer unter „Food Porn“ vorgestellt haben, bräuchten wir jetzt einen neuen Begriff. Bisher sind uns begegnet: 
  • Food Porn

  • Veggie Porn

  • Anabolic Food Porn

  • Knife Porn

  • Earth Porn

  • Cabin Porn

  • Trail Porn

  • Boat Porn

  • Car Porn

  • Science Porn

  • Interiors Porn

  • Shoe Porn

  • Bookshelf Porn

  • Book Porn

  • Word Porn

  • Graphic Porn

  • Life Porn

  • Amp Porn

  • Drum Porn

  • Studio Porn

  • Cricket Porn

  • Rugby Porn

kathrin-hollmer



Knife Porn“ klingt ziemlich schlimm. Hat aber zum Glück nichts mit Sex mit Messern zu tun.

48. Schlauchbootfahren ist vermutlich die beste Art, sich fortzubewegen.

49.
Neue Medien brauchen neue Erzählformen.
In Sofia Coppolas Film „The Bling Ring“ wird das Ende einer Freundschaft anders erzählt als wir es bisher gewohnt sind: Nicht mit einer Szene zwischen den Protagonisten Marc und Rebecca, sondern durch den Blick auf ein Facebook-Profil, das Marc aufgerufen hat. Dort lesen wir: „If you know Rebecca personally, send her a message or add her as a friend“. Das trifft uns. Aber unsere Eltern können diese Szene nicht verstehen – denn ihnen hat der Anblick eines blockierten Facebook-Profils noch nie das Herz gebrochen.  

Das Einbinden sozialer Netzwerke und moderner Kommunikationskanäle verändert das Erzählen. Das ist wichtig, weil es sich sonst zu weit von unserer Welt entfernt. Aber es ist auch schwierig, die richtige Methode dafür zu finden. Damit experimentieren Filme wie „The Bling Ring“. Fernsehabende mit unseren Eltern werden sich dadurch wohl auch verändern. Bisher hatten wir nur in der Realität Schwierigkeiten, Mama und Papa ein Smartphone zu erklären. Bald müssen wir ihnen vielleicht auch eine Filmszene erklären, weil sie nicht verstehen, wieso der Junge im Film gerade so traurig ist. 
nadja-schlueter

50. Interessant, wie viel Quatsch sich Produktentwickler in einem Jahr ausdenken können:
... Eierschachteln in Rosa und Hellblau für Mädchen und Jungs.
... Frauen-Bratwürste (mit Gemüse und „besonders mager“) und Männer-Bratwürste („deftig, kräftig gewürzt“).
... die Chipssorten „Mädelsabend“ und „Männerabend“.
... Grillsoßen für Frauen (Name: Miracel Whip „Sie“, auf dem Etikett sind Herzchen und Geflügel zu sehen) und für Männer (Name: „BullsEye“, mit dickem, blutigen Steak auf dem Etikett).
... Hustenbonbons für Mädchen („Husten-Fee“) und Jungs („Husten-Pirat“).      
[seitenumbruch]
53. Dank "Breaking Bad" wissen wir: Es macht sehr viel Spaß, an jeden Satz das Wort „Bitch“ zu hängen.

54. Wir wissen nicht so richtig, wie wir 2014 ohne Walter und Jesse überstehen sollen, Bitch!

55. Aber ohne FDP, das kriegen wir schon eher hin. (Und ohne AfD eh.) Fünf-Prozent-Hürde, Bitch!  

56. Uni funktioniert jetzt auch ganz ohne Hörsaal.
Die Anmeldung dauert keine Minute: Mailadresse angeben, Passwort reinhacken und schon ist man Student. Abiturnote? Höchster Bildungsabschluss? Semesterbeitrag? Interessiert hier niemanden. Anders als Präsenzunis ist iversity.org eine Online-Bildungseinrichtung für die Massen. Seit Oktober werden auf der Internetplattform Massive Open Online Courses (MOOCs), also breit angelegte Online-Vorlesungen, angeboten. Das Angebot ist gratis, die Anmeldung funktioniert auch über Facebook. Auf der Plattform stellen verschiedene Unis extra erstellte Vorlesungsvideos zur Verfügung, viele sind in Zehn-Minuten-Häppchen unterteilt. Dazu gibt es Multiple-Choice-Tests, Diskussionsforen und sämtliche Vorlesungsunterlagen. Manche Profs verlangen sogar Hausaufgaben. Alles wie in einer klassischen Uni also – nur, dass die Studenten parallel Döner essen und Musik hören können, ohne dass sich jemand beschwert. Hauptsache, das Quiz im Anschluss an den MOOC wird richtig beantwort.

Dass das mit den Massen beim MOOC funktioniert, zeigen die ersten Belegungszahlen: 271.000 Nutzer waren bis Mitte Dezember auf iversity angemeldet, allein der Kurs „The Future of Storytelling“ der FH Potsam hatte knapp 85.000 Einschreibungen. Das sind so viele Studenten wie an der gesamten Fernuni Hagen.
charlotte-haunhorst

57. Bradley Manning heißt jetzt Chelsea Manning.

58. Je schlechter es für Silvio Berlusconi aussieht, desto dreister wird er.

59. Katzen können Journalismus fördern.



Jonah Peretti plant Großes: Er will Buzzfeed zu einer der größten Seiten des Internets machen. Mit deiner Hilfe. Denn Buzzfeed produziert Inhalte, die jeder auf Facebook verbreiten will oder zumindest soll. Dazu gehören Katzenbilder, aber künftig auch echter Journalismus – immerhin hat Buzzfeed-Chef Peretti in diesem Jahr einige bekannte amerikanische Journalisten eingestellt. Das sorgt allerdings für weit weniger Aufmerksamkeit als die Listen, die Buzzfeed in großer Zahl produziert: „10 Dinge, an denen du merkst, dass du dich für Buzzfeed-Themen interessierst" und vergleichbare Formate wurden 2013 zu einer schnell wachsenden Stilform: Man spricht von Listicles – was ein Kofferwort aus Liste und Artikel ist (und von der Autokorrektur des Schreibprogramm sofort in „Lustiges“ umgewandelt wird).
dirk-vongehlen

60. Ingo Zamperoni und Steven Gätjen killed the Bart-Star.

61. Olli Schulz und Jan Böhmermann saved the Humor-Star.

62. Seit Miley Cyrus heißt die Abrissbirne nicht mehr Abrissbirne. Sondern Aufrissbirne.

63.
„Im ersten Jahr sterben ist für Muschis“


Wolfgang Herrndorf nahm sich im Jahr 2013 das Leben. Zuvor hatte er zweieinhalb Jahre in einem Blog das Leben mit Hirntumor thematisiert.
Am 26. August  hat sich Schriftsteller Wolfgang Herrndorf das Leben genommen. Der Autor des grandiosen Jugendromans „Tschick“ war an Krebs erkrankt, auf dem Blog „Arbeit und Struktur“ hat er bis zuletzt darüber geschrieben. Wolfgang Herrndorf hat verstanden:  

Man kann nicht leben ohne Hoffnung, schrieb ich hier vor einiger Zeit, ich habe mich geirrt. Es macht nur nicht so viel Spaß.  

Die mittlerweile gelöste Frage der Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe.  

Immer die gleiche Überraschung, wie viele meiner Freunde und Bekannten Psychotherapeuten, Psychologen und Analytiker beschäftigen. Wann hat das angefangen? Und für was für Probleme? Die Ansicht, jemand, der einmal in der Woche ein anderthalbstündiges Gespräch mit mir führt, könne etwas über mich herausfinden, was ich, der ich seit vier Jahrzehnten mit mir zusammenlebe, nicht weiß, teile ich nicht. Glaube ich nicht. Lässt mein Stolz nicht zu. Außerdem hab ich keine Probleme.  

Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick.  

Die Vögel, die ich immer Raben genannt habe, sind Dohlen.  

In Gegenwartsjugendliteratur ist es zwingend notwendig, die Helden identitätsstiftende Musik hören zu lassen, besonders schlimm natürlich, wenn der Autor selbst schon älteres Semester ist, dann trifft es auch gern mal Jimi Hendrix, der neu entdeckt werden muss (...).  

Ich weiß, wie, ich weiß, wo, nur das Wann ist unklar. Aber dass ich zwei der Kategorien kontrolliere und die Natur nur eine - ein letzter Triumph des Geistes über das Gemüse.  

Ich kann kein Instrument spielen. Ich kann keine Fremdsprache. Ich habe den Vermeer in Wien nie gesehen. Ich habe nie einen Toten gesehen. Ich habe nie geglaubt. Ich war nie in Amerika. Ich stand auf keiner Bergspitze. Ich hatte nie einen Beruf. Ich hatte nie ein Auto. Ich bin nie fremdgegangen. Fünf von sieben Frauen, in die ich in meinem Leben verliebt war, haben es nicht erfahren. Ich war fast immer allein. Die letzten drei Jahre waren die besten.  

Sätze, die Sie als Vollidiot zum Thema Tod unbedingt sagen müssen: 1. Der Tod ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Er wird von ihr an den Rand gedrängt. 2. Der Tod ist ein Bestandteil des Lebens. 3. Es weiß ja niemand, was danach kommt. 4. Ich habe keine Angst, ich weiß ja, was danach kommt.  

August, September, Oktober, November, Dezember, Schnee. Jeder Morgen, jeder Abend. Ich bin sehr zu viel.  

(Alle Zitate stammen aus Wolfgang Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“

Weihnachten oder Zweinachten?

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SEBASTIAN

Als es schon fast sehr weihnachtete, beschlossen Nadine und ich, ihren Eltern, ihren vier Geschwistern und ihrem übergewichtigen Hund einen Besuch abzustatten. Dabei kamen einige überraschende Dinge zu Tage. Zunächst fiel auf, dass Nadines spielebegeisterte Familie trotz rudimentärer Erfahrungen in interstellarer Raumfahrt ein erstaunlich ertragreiches Space-Alert Debüt gab. Und während Nadines pazifistische Mutter hauptsächlich Schutzschilde auflud und ihr Bruder mit stählernen Kampfrobotern im Schlepptau das Schiff nach Eindringlingen durchsuchte, blieb mir kurz die Gelegenheit, über das Thema Weihnachten insgesamt nachzudenken.  




Weihnachten hat viel Potential. Als Kind konnte man nächtelang vorher nicht schlafen, weil man so aufgeregt wegen der Geschenke war. Heute sind es dann bisweilen die einzigen Nächte im Jahr, an denen man überhaupt mal richtig schlafen kann. Zuhause bei den Eltern muss man sich ja um (fast) nichts kümmern, wackelt um die Mittagszeit mal ins Wohnzimmer, nur um kurz danach vor dem Fernseher zu landen und sich Serien anzuschauen. Während man das natürlich auch den Rest des Jahres versuchen kann, ist das Besondere an Weihnachten, dass auch niemand etwas anderes von einem verlangt. Irgendwie steht ja ohnehin die ganze Welt auf Pause und geht erst nach dem obligatorischen Neujahrskater langsam wieder in ihre alltägliche Betriebsamkeit über.  

Weihnachten ist bei uns zu Hause auch eine Zeit unumstößlicher Rituale. Es gibt den notgedrungenen Gang in die Kirche, es gibt Fleischeintopf von Mama (obwohl ich Vegetarier bin) mit anschließender Beschallung durch ihre einzige weihnachtliche CD, mein Papa raucht Zigarillos und irgendwann verschwinden mein Bruder und ich dann zum Call-of-Duty-Spielen, dessen neuesten Ableger ich ihm wie jedes Jahr zum Geburtstag geschenkt habe. Und so kommt es, dass man sich wieder wie ein Kind fühlt. Schaut man sich bei seinen Altersgenossen um, dann fällt auf, dass es eigentlich alle genauso machen. Erst dadurch werden ja auch die schönen, althergebrachten weihnachtlichen Duelle in den Kategorien Warhammer, Starcraft und Diablo 2 mit den alten Freunden möglich.  

Letzte Woche fragte mich Nadine, ob nicht irgendwann dieser Begriff von „meiner Familie“, den wir beide noch so stark mit einem Ort voller Fleischeintöpfe, Gesellschaftsspiele und übergewichtiger Hunde verbinden, auf einen anderen Ort, nämlich den einer eigenen Familie übergehen werde. Und ich schließe eine Frage an: Wenn der Begriff von „meiner Familie“ einen neuen Ort gefunden hat, wie bezeichnet man dann den Ort, der bislang so hieß? Ich persönlich muss sagen, dass mir diese eine Woche Pause vom Erwachsenensein total gut gefällt, aber meine eigenen Eltern legen sich über die Feiertage ja auch nicht bei meinen Großeltern auf die Couch, lassen sich Kekse bringen und spielen mit ihren Geschwistern Ballerspiele.  

Auf jetzt.de war vor einiger Zeit dieser erschreckende Test verlinkt, der nach Angabe von Besuchshäufigkeit und Jahrgang der Eltern vorhersagte, wie oft man noch die Eltern besuchen könne, bis es sie irgendwann nicht mehr gibt. Abgesehen davon, dass einem die vom Test ausgespuckte Zahl ohnehin durch Mark und Bein ging (weil sie so unerwartet klein war), muss man sich fragen, ob sie nicht noch viel kleiner sein müsste, wenn irgendwann der Ort, den man mit „meine Familie“ verbindet, neu bestimmt wird.  

Ich für meinen Teil weiß noch nicht, wie das wird, und ich hoffe sehr, eine Lösung dafür zu finden. In diesem Moment mussten meine Gedanken enden, denn Nadines Familie blickte mich fragend an: Torpedos abfeuern oder Laserkanonen?  Eins war klar, ich musste das zu Ende denken, aber erst mal musste hier ein Schiff verteidigt werden und dann, irgendwann danach, würde man weitersehen.

[seitenumbruch]NADINE

Als meine Schwester zehn und ich 13 war, machten wir ein Spiel, bei dem wir  beide einen Tag in unserem Leben in 15 Jahren aufschreiben mussten. Mein Tagesablauf ging in etwa so: Nach einem reichhaltigen Frühstück um 9 Uhr kommen die Zwillinge (Lilli und Lara) in den Kindergarten, bevor ich mich auf den Weg zu meinem (Halbtags-)Job am Theater mache. Meine Inszenierung läuft gut und nach einem Interview mit der Lokalzeitung schaue ich noch bei meiner Schwester (auf der Pferdekoppel) vorbei. Mein Mann (Anwalt) macht mal wieder früher Feierabend und wir laden noch Freunde zum Raclette-Essen auf unsere Terrasse (auch dort grasen Shetland-Ponys) ein. Ich schließe diesen wunderbaren (für mich normalen) Tag damit ab, noch ein wenig an meinem (neuen) Roman zu schreiben. Hätte ich mein dreizehnjähriges Ich damals nach meinem Weihnachtsfest gefragt, hätte ich aus tiefster Überzeugung von verschneiten Winterspaziergängen gesprochen, von den als Engel verkleideten Lillis und Laras und Grußkarten unter dem Weihnachtsbaum von der Freundegesellschaft des städtischen Schauspielhauses.  




Sebi sagt, mein größtes Problem sei, dass ich mir Dinge vorher immer schön ausmale und dann enttäuscht bin, wenn meine Erwartungen unterboten werden. In diesem Fall atme ich allerdings erleichtert auf, dass meine Zukunftsvisionen nicht wahr wurden und ich statt in einer Polly-Pocket-Welt in einem ganz normalen Leben lebe. Doch je älter ich werde, umso schwieriger wird das mit dem Thema Weihnachten. Während bei meinen Eltern an Heiligabend seit Jahrzehnten die Zeit stehen geblieben ist – sie imitieren glöckchenklingelnd das Christkind und wenn wir ins Zimmer kommen erklären sie uns mit traurigen Augen, es sei gerade verschwunden – stellt sich mir langsam die Frage, wie man es eigentlich schafft, das Christkind 27 Jahre in Folge so knapp zu verpassen. Grübelnd drängle ich mich zwischen meinen Mittzwanziger-Geschwistern auf der Wohnzimmer-Couch zu Flöten-, Keyboard- und Gesangeskunst.  

Das Zusammenziehen mit Sebi bot die einmalige Chance, altgediente Traditionen aufzugeben und neue zu begründen. Schließlich sind wir ja jetzt erwachsen. Am Anfang waren wir so motiviert, dass wir kurz davor waren, uns zum jetzt.de-Plätzchentausch anzumelden, am Ende aber doch erleichtert, dass wir erst mal privat unser Backtalent erprobt haben, bevor wir damit an die Öffentlichkeit gingen. Das Ergebnis war nämlich ein Teig für Zimtschnecken, den wir wegwerfen mussten, weil wir ihn nicht mehr von der Folie abbekamen, ohne sie dabei zu zerreißen (im Rezept stand „Schwierigkeitsgrad: simpel“). Dann Haferflocken-Plätzchen, die bei unseren Freunden unter dem Namen „Steine“ Bekanntheit erlangten. Und schließlich Oreo-Kekse, die im Backofen zu handgroßen Fladen heranwuchsen. Die schmeckten zwar super, waren aber nur zu empfehlen, wenn man noch nicht zu Abend gegessen hatte.  

Unsere nächste Idee bestand darin, das Weihnachtsfest dieses Jahr in unseren eigenen vier Wänden auszurichten: beide Familien einladen, unsere Omas in der WG über uns einquartieren, zum Weihnachtskonzert meines Chors gehen. Die einzige Frage war, was wir den zahlreichen Gästen zum Essen anbieten würden. Glücklicherweise absolvierten Sebi und ich vorab noch einen Kochkurs. Dessen Thema lautete: „Die Linse – klein aber oho!“ Die ersten Gänge Indische Linsensuppe und Exotischer Linsensalat schmeckten super. Linsen-Börek war auch lecker. Ein bisschen kritisch wurde es beim Linsen-Eintopf, ausgerechnet Sebis und meinem Gang. Und Linsengemüse und Linsen-Mus haben uns schließlich den Rest gegeben. Nach dem acht-Gänge-Linsen-Menü konnten wir uns für die nächste zwei Monate erst mal kein Essen mit Linsen mehr vorstellen. Der Kochkurs hatte uns für ein Weihnachtsessen in unseren eigenen vier Wänden also nichts gebracht.  

Als sich das Riesenfest bei uns dadurch langsam zerschlug, gaben sich unsere Eltern betont leger. Sebis Mutter rief Sebi an und erklärte, Sebi könnte gerne mit meiner Familie feiern, bei meiner Familie verhielt es sich genau umgekehrt; und als wir langsam das Gefühl bekamen, dass wir von den Festen ausgeladen wurden, die schon seit einigen Jahren Gebrauchsspuren aufwiesen, fanden wir auf einmal nichts schöner als diese Gebrauchsspuren. Ich würde das Glöckchenklingeln und den schiefen Gesang meiner Schwestern vermissen und Sebi den Geruch von Fleischtopf und das Call-of-Duty-Spielen mit seinem Bruder. „Zusammenfeiern können wir doch immer noch, wenn wir eigene Kinder haben“, beschlossen wir und fuhren zu unseren Eltern, jeder zu seinen.

nadine-gottmann

Grausame Moral

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US-Präsident Barack Obama will aus Protest gegen Russlands Verbot von „Schwulenpropaganda“ demonstrativ eine lesbische Tennis-Legende zur olympischen Eröffnungsfeier entsenden. Und nicht nur er. Auch andere wollen Farbe bekennen. Was beim Einmarsch der Flaggenträger in Sotschi allerdings auch klar werden dürfte: Größer als die Zahl der Staaten, die sich über Moskau empören, ist die Zahl der Staaten, denen Russlands Schwulenpolitik sogar noch zu lasch ist.




Mehr als 70 Länder, so informiert das Auswärtige Amt, verfolgen mittlerweile Homosexuelle mit dem Strafrecht. Und dies nicht nur, wenn Lesben und Schwule in der Öffentlichkeit für Akzeptanz werben, wie in Russland. Sondern selbst in ihren eigenen vier Wänden. Jetzt hat Uganda angekündigt, homosexuelle Handlungen schärfer zu bestrafen als bisher, mit bis zu lebenslanger Haft. Ursprünglich hatte die Parlamentsmehrheit in dem zentralafrikanischen Land sogar die Todesstrafe fordern wollen, wie sie bereits in sieben Staaten droht – das sind Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Afghanistan, Sudan, Mauretanien, Jemen und Saudi-Arabien. Von diesem Plan hatte sich Uganda verabschiedet, nachdem westliche Partner gedroht hatten, Hilfsgelder zu streichen.

Die neue Höchststrafe soll in Uganda verhängt werden, wenn Minderjährige an homosexuellen Handlungen beteiligt sind oder einer der Geschlechtspartner HIV-positiv ist, selbst wenn Kondome benutzt werden. Gleichzeitig führt Uganda eine Pflicht ein, Schwule und Lesben zu denunzieren. „Jeder, der Homosexualität praktiziert, dafür rekrutiert oder darüber publiziert, begeht jetzt ein Verbrechen“, erklärte Simon Lokodo, Ugandas Staatsminister für Ethik und Anstand. Noch muss Ugandas Präsident Yoweri Museveni das Gesetz unterzeichnen. Die Verfassung lässt ihm dafür 30 Tage Zeit, und unter dem Druck der USA scheint er im Moment zu zögern: US-Präsident Obama hat das Gesetz als „abscheulich“ kritisiert; die USA sind ein wichtiger Geldgeber. Museveni hat Zweifel am Zustandekommen des Gesetzes im Parlament angemeldet – das bringt Zeit.

Dass Uganda sich mit einem verschärften Gesetz zu Diktaturen gesellen würde, kann man dem Land dabei nicht recht vorwerfen. Denn erst in diesem Monat ist auch die größte Demokratie der Welt, Indien, zur Kriminalisierung von Homosexuellen zurückgekehrt, nachdem dort vor drei Jahren ein Gericht den entsprechenden Strafrechts-Paragrafen ausgesetzt hatte. Die Staaten, die selbstbestimmt Liebende kriminalisieren und sich damit die Sexualmoral ihrer Untergebenen zum Anliegen machen, haben eher etwas anderes gemeinsam. Die Trennung von Staat und Religion, von Recht und Moral, eine Errungenschaft der Aufklärung, setzte sich in manchen Teilen des Westens früher durch als in anderen. Das laizistische Frankreich beschränkte seine Strafgerichte bereits 1791 auf den Schutz von individuellen Freiheiten und Rechtsgütern. Gegen einvernehmliche homosexuelle Handlungen gab es da für seine Juristen nichts einzuwenden, so wurden homosexuelle Handlungen entkriminalisiert; auch in allen französischen Kolonien. Die säkulare Türkei folgte 1852. Das antiklerikale Sowjetreich folgte 1917.

Es sind religiös konzipierte Staaten, die sich dagegen stemmen. Staaten, die sich Staatsminister für Ethik und Anstand halten wie Uganda, die auch „göttliche“ Interessen mit ihrem Strafrecht schützen: „Ein Votum gegen den Teufel“ habe Ugandas Parlament gerade abgegeben, sagte der Abgeordnete David Bahati, der hinter dem verschärften Schwulen-Gesetz steht, nach der Abstimmung im Parlament. „Dies ist ein Sieg für Uganda und unsere gottesfürchtige Nation.“ Eine strengere Regelung sei notwendig geworden, weil Homosexuelle aus westlichen Staaten drohten, ugandische Familien zu zerstören, indem sie Kinder für ihren Lebensstil „rekrutierten“.

Als im Sommer 1972 die Fahnenträger aus aller Welt in das Münchner Olympiastadion einzogen, da war die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen auch in Deutschland erst drei Jahre zuvor aufgehoben worden. Noch keine zehn Jahre war es her, dass Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion die Kriminalisierung eines „sozialethisch besonders verwerflichen Verhaltens“ verteidigt hatten. „Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat“, heißt es in einem Gesetzentwurf der Union von 1962 (Drucksache IV/650), „war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge.“ Erst der frische Wind der 1960er-Jahre fegte das dröhnende Moralisieren damals aus dem deutschen Strafgesetzbuch. So wie in Burkina Faso im Jahr 1996, in der Demokratischen Republik Kongo 2006 und zuletzt in Botswana 2010. Ronen Steinke

Der große Topf

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Der Weltgigant Google lässt sich gute Beziehungen manchmal einiges kosten, jedoch nicht immer mit Erfolg. Der Einweihung eines neuen Google-Kulturinstituts vor drei Wochen in Paris ist die zuständige Ministerin Aurélie Filippetti demonstrativ ferngeblieben. In dieser Sache seien noch zu viele Fragen offen, erklärte sie.




Im Medienbereich sind die Beziehungen zu Google neuerdings etwas entspannter. Nach einem offenen Krieg mit den französischen Zeitungsverlegern, die dem Internetkonzern die Plünderung ihrer Produkte vorwarfen und für deren Nutzung Urheberrechtszahlungen verlangten, haben im vergangenen Februar Staatspräsident Hollande und der Google-Chef Eric Schmidt ein Abkommen unterzeichnet. In Deutschland wurde im selben Streit in diesem Jahr das umstrittene Leistungsschutzrecht beschlossen. Für Frankreichs Fonds aber gibt es nun erste Ergebnisse.

Laut jenem Abkommen hatten der Verband französischer Presseverleger AIPG (Association de la presse d’information politique et générale) und Google sich auf die Schaffung eines von Google finanzierten Fonds von 60 Millionen Euro auf drei Jahre geeinigt. Er soll die französischen Presseunternehmen beim Übergang zur Digitalisierung unterstützen. Eine solche Vereinbarung unter dem wachsamen Auge der Politik ist eine Premiere weltweit. Der „Fonds pour l’innovation numérique de la presse“ (FINP), wie er offiziell heißt, will neuartige Digitalisierungsprojekte französischer Print- und Internetmedien mitfinanzieren bis zu jeweils 60 Prozent ihrer Kosten, mit einer Höchstgrenze von zwei Millionen Euro pro Projekt. Zugelassen zur Bewerbung sind regionale und überregionale Unternehmen aus der Informationsbranche, nicht aber Unterhaltungs- und Freizeitmedien. Wo genau die Grenze verläuft, war schon Gegenstand langer Auseinandersetzung und ist noch nicht geklärt. Die eingereichten Projekte sollen neue Wirtschaftsmodelle für die digitale Verbreitung von Information, neue Vernetzungsstrategien, neue Formen der Quellennutzung und Leserbeteiligung enthalten. Juristisch ist der FINP ein eingetragener Verein. Die sieben Mitglieder des Verwaltungsrats kommen von Google, aus dem Verlegerverband AIPG und aus anderen Organismen der Branche. Insgesamt 39 Anträge sind im ersten Jahr 2013 geprüft und 19 Projekte zur Unterstützung ausgewählt worden.

Welche Einladung schlägst du aus?

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Dieser Tage kumulieren die Anlässe wieder besonders: Weihnachten, 25./26. Dezember, Silvester, die gesammelten Neujahrstraditionen von Weißbier- bis Prosecco-Frühstück. Nikolaus war erst kürzlich, die drei Könige stehen schon in aller Heiligkeit in den Startlöchern und Geburtstag haben zwischen den Jahren – wenigstens gefühlt – auch noch überdurchschnittlich viele Menschen (Tippe auf den Frühling als Auslöser). Viel potentielle Familien-Begegnung also oder lang tradierte Freundesrunden. Mit Partner verdoppeln die sich freilich noch.  




Wann sagst du nein? Und wie wägst du die Entscheidung ab?

Keine Sorge, das soll nun kein Weihnachts-Bashing werden, in dem die Tanten dem Klischee zuliebe Erna und Susie („mit e“) heißen müssen und die alten Freunde oder neuen Schwager nach dem siebten Schnaps peinliche Zoten geifern. Es soll eine ernstgemeinte Frage folgen. Lebenshilfe womöglich gar. Die Frage lautet: Wo ziehst du die Grenze?  

Weil es ist ja so: Man kann viel Glück mit seiner Familie haben und viel Pech. Gleiches gilt für Freunde und Bekannte – und Freunde und Familie von Partnern. In den selteneren Fällen bewegt man sich aber ausschließlich an den Extrempolen. Es ist also nie nur schlimm und nie nur spannend. Aber immer zeitaufwändig. Will sagen: Es füllt einen Kalender schnell aus, wenn man jeden Geburtstag, jede Hochzeit und jede Taufe von allen eigenen oder angeheirateten Bruder-Onkel-Cousin-Schwager-Freunden besuchen will. Dick macht es auch.  

Deshalb: Wie wägst du ab? Hast du einen Trick, eine Art von Lackmustest vielleicht gar, mit dem du festlegst, wo du hingehst und wo du ablehnst? Betreibst du eine Kosten-/Nutzen-Kalkulation (die sympathischer ist als potentielles Erbe mal x, geteilt durch die Stunden an Smalltalk mal Pi), oder entscheidest du aus dem Bauch heraus (brauche Zeit für mich vs. alles ist besser als noch eine Staffel irgendeiner HBO-Serie auf der Couch)? Spontan oder mit Monatsplan?  

Ach so. Und beinahe noch wichtiger: Wie kommunizierst du deine Entscheidung? Frei heraus? Oder schiebst du Gründe vor? Sag’s uns. Frei heraus natürlich. Krankmeldungen werden nicht akzeptiert!

Wir haben verstanden: Von Äraenden und Internetgeld

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Jahresrückblicke haben in aller Regel das Anliegen, eine Antwort auf folgende Frage zu liefern: „Was war dieses Jahr wichtig?“ Das ist gut. Aber wir finden, dass eine andere Frage mindestens genauso wichtig ist: „Was haben wir verstanden?“. Deshalb haben wir ein digitales Magazin mit einer Liste gemacht: 100 Dinge, die wir 2013 begriffen haben. Einen Auszug daraus findest du hier - darum sind die Punkte auch nicht immer fortlaufend nummeriert. Das komplette digitale Magazin mit allen 100 Punkten für Tablets und Smartphones kannst du mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung herunterladen. Du kannst es für nur 89 Cent kaufen; für Abonennten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.

Wir haben verstanden:


67. Wäre man Politiker, könnte man mit dem eigenen Mittelfinger ganz schön viel bewegen.

68. Wahlzettel für Landtagswahlen sind immer so verdammt groß!

69. Das war’s dann wohl für die Piraten.

70. Schwarz-Grün ist nicht so völlig unvorstellbar und abwegig wie alle immer tun.

71. „Schönheit“ bedeutet immer mehr: immer weniger werden.
Der „Thigh Gap“ ist das neue Schönheitsideal vieler Mädchen: eine möglichst große Lücke zwischen ihren Oberschenkeln, wenn sie mit geschlossenen Beinen stehen. Im Internet gibt es Bildersammlungen davon und Anleitungen dafür. Viele Blogs und Magazine äußern sich kritisch dazu, denn der Trend ist gefährlich: Die Überschneidung zwischen den Anhängern der Lücke und denen der „Pro Ana“-Bewegung, die Magersucht als Lebensmodell verfolgen, ist groß. Der Trugschluss dabei: Der Thigh Gap hat meist nichts damit zu tun, ob man dick oder dünn ist. Ob man ihn hat oder nicht, hat vor allem mit der Anatomie zu tun. Die Thigh-Gap-Bilder im Netz verzerren das weibliche Körperbild noch mehr als ohnehin schon. Die Mädchen werden auf den Fotos nicht nur komplett auf ihren Körper reduziert, sondern sogar nur auf einen Teil davon, die Schenkel – und sogar davon soll möglichst wenig existieren. Das Bild mit der größten Leerstelle zeigt die größte Schönheit. Wer verschwindet, ist schön. Schön ist, wo nichts ist.   Darum möchte man sagen: Mut zu keiner Lücke! Am besten wäre es aber, wenn es dafür keinen Mut bräuchte.
nadja-schlueter

72.
Auf dem Wohnungsmarkt 2013 gilt ein Schiffscontainer als super Sache.
Nur mal so als Beispiel: In Berlin wurde dieses Jahr eine neue Siedlung extra für Studenten gebaut und angepriesen. Die Studenten sollen in aufeinandergestapelten Schiffscontainern wohnen, etwa 2,50 Meter breit, 2,90 hoch und 12 Meter lang. Die Miete: knapp 400 Euro pro Monat. Die Macher des Containerdorfs konnten sich vor Anfragen kaum retten. Der Wohnungsmarkt war schon in den vergangenen Jahren ein Arsch, aber 2013 ist er irgendwie noch mal ein bisschen schlimmer geworden. Gefühlt konnte man auf Youtube jede Woche ein neues verzweifeltes Bewerbungsvideo für ein WG-Zimmer sehen, oder einen neuen Protestsong eines traurigen Studenten hören. In Erinnerung bleiben auch die Satire-Aktionen und Guerilla-Wohnungsrenovierungen der Münchner Gruppe „Goldgrund“, die sogar zu Bewegung in der Politik geführt hat. Apropos Bewegung in der Politik: Die Mietpreisbremse steht im Koalitionsvertrag, und die Makler sollen ihr Geld künftig von dem bekommen, der sie beauftragt hat, im Normalfall also vom Vermieter. Was diese Pläne bringen, ist aber umstritten.
christian-helten

73. Dinge, die 2013 gestorben sind, denen wir aber nicht hinterher trauern: die Studiengebühren und die Praxisgebühr.

74. Kurz vor Sonnenaufgang, wenn die Party vorbei ist, bündelt sich die ganze Poesie einer Nacht.


My und Camilla am Ende der Partynacht.

75. Die Ära „Kate Moss“ ist endgültig vorbei.


Kate Moss war 2013 das Jubiläums-Playboy-Bunny. Ihre Ära ist vorbei.

Kate Moss hat endgültig abgedankt. Das ehemalige Über-It-Girl ist zwar verhältnismäßig würdevoll und auf gewohnte Cool-Manier gealtert (keine Castingshows, keine Kosmetiklinie, keine Schauspiel- oder Gesangsambitionen) – als wirkliches Rolemodel interessiert sie aber spätestens seit diesem Jahr keinen mehr. Was gab es von ihr noch gleich Neues 2013? Erstens: Sie hat an einer neuen Topshop-Linie gearbeitet. Aha, kennt die neue Generation Topshopper denn die Alte überhaupt noch? Zweitens: Sie hat sich wohl für 2014 bei der Vogue als Moderedakteurin verdingt. Drittens: Sie war das Jubiläums-Bunny des 60. Playboy-Geburtstages und hat den Sonderpreis der British Fashion Awards für ihre 25 Jahre alt gewordene Modekarriere bekommen. All das nickt man so mittel beteiligt ab und denkt: Das war’s also mit der Ära Moss. Auf dem Bewunderungsradar junger Menschen hat sich längst ein anderer Typ Frau etabliert. Zum neuen Rolemodel-Status reicht es nicht mehr, mit verschmiertem Kajal und zwielichtigen Druffies abzuhängen und ab und zu ein paar Skinny-Jeans zu entwerfen. Das neue Cool ist lustig, ironisch und, egal, wie streitbar dieser Begriff auch sein mag: so etwas wie authentisch. Um das zu beweisen, zieht es mindestens eine Dauergrimasse (Cara Delivigne), hat die Intelligenz und den Mut, das gängige Schönheitsideal und den Individualitätszwang unserer Zeit bissig zu kommentieren (Lena Dunham), propagiert einen modern feministischen und die Werbeindustrie ablehnenden Freigeist (Tavi Gevinson) und hat zu jeder hohlen Hollywood-Frage einen entspannten Kommentar in der Tasche (Jennifer Lawrence). Nackte Bunnys soll die Abrissbirne holen gehen.
mercedes-lauenstein

76. Die münchnerischste aller Straftaten ist der Maßkrugdiebstahl.

77. Was wir immer weniger verstehen: Syrien.

78. Protest mit Nacktheit geht anscheinend immer noch.  
[seitenumbruch]81. Andrea Nahles braucht bei Koalitionsverhandlungen Alkohol. Wahrscheinlich, um sich die Union schön zu trinken.

82. Boris Becker ist stolz, Deutscher zu bin.

83. Die spannendste deutschsprachige Band kam in diesem Jahr – aus Österreich.



 Es kommt eher selten vor, dass Indiemedien schon im Frühherbst die großen Jahresend-Superlative aus der Schublade ziehen. „Video des Jahres“ war aber eher noch eines der nüchterneren Prädikate für „Maschin“ von Bilderbuch. In dem Clip tänzelt Maurice Ernst, Sänger und Goldkettchenträger, wie ein entfesselter Gebrauchtwagenhändler um einen gelben Lamborghini. Licht an, Licht aus. Fahrersitz vor, Fahrersitz zurück. Ein Autoporno, in dem keine Sekunde der Motor läuft, eine Wiener Melange aus Sex und Witz und Ironie. Bilderbuch sind eine Konzeptband, die trotz eines Durchschnittsalters von 23 Jahren schon acht Jahre Bandgeschichte und zwei souveräne Alben am Revers hängen hat. Die EP „Feinste Seide“ schlug im herbstlichen Deutschland auf, wie es seit Ja, Panik keiner österreichischen Indieband mehr gelungen war. Eine originelle Pop-Platte, drei Songs nur, so schlank und schnell wie eine Straßenkatze. Dezent platzierte, trompetenhafte Gitarren, kluge Dada-Texte und ein Bass, der klingt wie ein Daumen auf dem Aux-Kabel. Und das im letzten Drittel eines Jahres, das kommerziell vor allem von Deutschrap dominiert war: Kollegah, Prinz Pi, Cro, Casper und Alligatoah hatten wochenlang die Spitze der Albumcharts besetzt. Nicht dass die kleine Bilderbuch-Platte dem Erfolg des deutschen Hip-Hops auch nur ansatzweise nah gekommen wäre. Aber immerhin: die Indieszene atmete hörbar erleichtert auf. Und klickte dann auf Repeat.
jan-stremmel

84. Und der Gewinner des „Sprache kann so schrecklich sein“-Awards 2013 in der Kategorie „grausamste Blähfloskel“ ist:„Ganz ehrlich“.

85. Chabos wissen, wer der Babo ist – und alle anderen wissen jetzt endlich, was ein Babo eigentlich ist.
86. Durch den Literaturnobelpreis an Alice Munro bekommen Erzählungen endlich mal die Aufmerksamkeit, die sie verdienen (es muss ja nicht immer gleich ein Roman sein).

87. Das „Selfie“ ist nicht nur das englische Wort des Jahres, sondern auch eine Falle: Wenn man wie Barack Obama ein Selfie in einer Situation schießt, in der man es eigentlich lieber bleiben lassen sollte – bei der Trauerfeier für Nelson Mandela zum Beispiel.

88. Wir wollen nicht mit Sarah Harrison tauschen. Aber wir wären gern mehr wie sie. 
Man kann sich nur vage vorstellen, wie Sarah Harrison, die engste Vertraute von Edward Snowden, gerade ihre Zeit in Berlin verbringt. Wie sie durch Kreuzberg streift, sich das Brandenburger Tor ansieht, über einen Weihnachtsmarkt schlendert, daran denkt, dass sie dieses Weihnachten nicht bei ihrer Familie sein kann. Und das alles in dem Wissen, verfolgt zu werden. Über ihr Leben in Berlin sprach Sarah Harrison gerade in einem Interview mit dem Stern. Die 31-jährige Wikileaks-Mitarbeiterin begleitete den NSA-Whistleblower Edward Snowden bei der Flucht von Hongkong nach Moskau und verbrachte mit ihm 39 Tage im Transitbereich des Flughafens. Später brachte sie ihn zu seinem jetzigen Aufenthaltsort und blieb vier Monate bei ihm. Inzwischen ist ihre Aufgabe an Snowdens Seite erledigt. Seit Anfang November ist Sarah Harrison in Berlin. In ihre Heimat England kann sie nicht zurück, sie hat Angst verhaftet und zur Herausgabe von Informationen gezwungen zu werden. Snowden ist der meistgesuchte Mann der Welt. In Berlin ist Harrison frei und arbeitet weiter an dem, woran sie glaubt; so fest, dass sie sich nicht einmal von der Tatsache abhalten lässt, dass sie ihr bisheriges Leben dafür aufgeben muss, genau wie Edward Snowden seines aufgeben musste. Im November veröffentlichte Wikileaks eine Art Manifest von Sarah Harrison. Am Schluss schreibt sie: „Mut ist ansteckend.“ Hoffentlich.
kathrin-hollmer

89. Für jemanden, der wie der Österreicher Sebastian Kurz mit 27 Jahren Außenminister wird, ist das erste Mal Sex mit 15 irgendwie spät.

90. Das klassische Musik-Marketing ist überholt: Im Januar veröffentlichte David Bowie aus heiterem Himmel eine neue Single und ein paar Wochen danach ein Album, im Dezember brachte auch Beyoncé völlig unangekündigt ein neues heraus. Gleichzeitig landete Lady Gaga mit ihrer Platte einen Verkaufsflop, trotz monatelangen Werbefeuerwerk, und Macklemore & Ryan Lewis verkauften mehr als eine Million Alben – ganz ohne Major-Label.

91. Lachen macht doch keine Falten: Der Smiley ist 50 Jahre alt geworden und sieht noch genauso aus wie früher.

92. Man hätte ziemlich reich werden können dieses Jahr. Mit Internetgeld.



Seit 2009 erleben die Menschen die Geburt einer Währung. Sie heißt Bitcoin. Zu Beginn wurde sie ignoriert und dann belächelt. 2013 aber war ihr großes Jahr. Sowohl politisch – in den USA werden Bitcoins seither als Währung akzeptiert – als auch preislich. Der Kurs lag an besten Tagen bei 1200 US-Dollar. Ende 2011 hatte er noch bei fünf US-Dollar gelegen.
Die Währung lernt noch zu laufen, momentan überrascht es niemanden, wenn der Kurs an einem Tag um 40 Prozent fällt. Woher die Schwankungen kommen, ist noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Angebot und Nachfrage regulieren den Preis, klar, aber auch Faktoren wie die Langzeitentwicklung spielen eine Rolle. Und weil Bitcoins noch so jung sind, ist ihre Zukunft ungewiss.
Bitcoins sind digitales Geld, geboren nicht in einer Zentralbank, sondern einzeln errechnet, indem Computer mathematische Aufgaben lösen. Je mehr Computer mitrechnen, desto schwieriger werden die Aufgaben, desto mehr Leistung, also Strom, wird verbraucht, um das Ergebnis zu errechnen. Für Einzelpersonen ist es sinnvoller, sich Bitcoins einfach zu kaufen, also mit ordinärem Geld in eine Bitcoin-Geldbörse zu laden.
hakan-tanriverdi  

93. Weil die Blogger von „Nerdcore“ und „Schlecky Silberstein“ dieses Jahr so schön gestritten haben, wissen wir jetzt: Wir brauchen eben beides – Mainstream-Bloggen für „gelangweilte Angestellte“ und Underground-Bloggen für enthusiastische Nerds.

94. Dieses Jahr wurde der Supermarkt ohne Verpackungen noch nicht geboren, die Idee dafür aber schon.

95. In Fußstapfen treten kann sehr befreiend sein.

96. Rainer Brüderle hat dieses Jahr einiges falsch gemacht, dafür aber einen chancenreichen Kandidaten für das Seniorenwort des Jahres ins Rennen geschickt: „Tanzkarte“.

97. Wir sind gespannt auf das brasilianische 2014. Sehr gespannt!

Zwei Bücher, Folge 3: Bergbesteigung und Himmelsentdeckung

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Julius Fischer
, 1984 in Gera geboren, lebt in Leipzig. Er hat an zahlreichen Poetry Slams im deutschsprachigen Raum teilgenommen und viele von ihnen gewonnen. Mit Christian Meyer tourt er als „The Fuck Hornisschen Orchestra“ durch den deutschsprachigen Raum. Außerdem ist Julius eine Hälfte des Slam-Duos „Team Totale Zerstörung“, Mitglied der Dresdner Lesebühne „Sax Royal“ und Mitbegründer der Leipziger Lesebühne „Schkeuditzer Kreuz“. Seit 2011 ist er festes Mitglied der Berliner Lesebühne „Lesedüne“. Beim Sprechstation Verlag erschien 2009 sein Album „Aspekte der Tiefe“. Sammlungen seiner besten Bühnentexte sind als Buch mit CD unter dem Titel „Ich will wie meine Katze riechen“ und„Die schönsten Wanderwege der Wanderhure“ beim Verlag Voland & Quist erschienen.

Teil 1: Die Neuerscheinung


Tomas Glavinic: Das größere Wunder 

jetzt.de: Ich nehme an, wir müssen jetzt sehr viel loben, oder?

Julius Fischer: Ja, es gibt fast nichts, was ich an diesem Buch nicht gut finde. Und das, obwohl mich die Hauptgeschichte überhaupt nicht interessieren dürfte.

Worum geht es denn in der Hauptgeschichte?
Der Roman ist in zwei Erzählstränge gegliedert. Einer spielt in der Gegenwart und berichtet davon, wie ein junger Mann, Jonas, den Mount Everest besteigt. Der andere beginnt in der Kindheit dieses jungen Mannes und erzählt, wie es dazu kommt, dass er diesen Berg besteigen will. Dieser Zusammenhang wird einem aber erst im Nachhinein klar, es ist konstruiert, ohne konstruiert zu wirken.

Und was ist jetzt so gut an der Schilderung der Bergbesteigung?
Sie ist sehr glaubwürdig. Man erfährt sehr viel über die Verhältnisse am Mount Everest. Ich habe zum Beispiel nicht gewusst, dass man sich richtige Führer mieten kann und wie durchorganisiert das alles ist. Dass es verschiedene Akklimatisierungs-Aufstiege und -Abstiege gibt, dass man es auch als nicht Extremsportler schaffen kann, auf diesen Berg zu kommen. Außerdem führt Glavinic viele Nebenfiguren ein, die Teil der Expedition sind, und alle haben ihre eigene Sprache, ihren eigenen Charakter. Dadurch wird das, was er erzählt, sehr szenisch.

Sie interagieren und erhalten dadurch ein Profil.
Ja, genau. Diese Interaktion ist für das ganze Erzählprojekt und seine Figuren sehr wichtig, auch im zweiten Erzählstrang, in dem die Geschichte einer Freundschaft zwischen drei Jungen erzählt wird.

Was zeichnet diesen Teil des Buches für dich besonders aus?
Er ist sehr märchenhaft, alles erscheint irgendwie sepiabehaftet. Der Großvater, der Jonas bei sich aufnimmt. Die Schilderung bedingungsloser Jugendfreundschaft, der Sehnsucht und Heimatlosigkeit, die Jonas nach mehreren tragischen Verlusten um die ganze Welt reisen lassen. All das ist mit sehr viel Wärme, aber auch spitz und lustig geschrieben.

Und lebt von der Sympathie, die man für Jonas empfindet.
Ja, er ist ein verschlossener, intelligenter Klugscheißer mit verrückten Ideen. Ich mag Klugscheißer.

Du sagtest, es gibt fast nichts, was dir nicht gefallen hat. Was meintest du damit?
Die letzten zwei Seiten fand ich grässlich. Sie sind folgerichtig, aber sie haben mir nicht gefallen. Für mich ist klar, dass er nur für sich auf den Berg geht, dass er dann aber sagt, er sei nicht oben gewesen, finde ich doof.

Nicht nachvollziehbares Understatement?
Ja, es ging natürlich die ganze Zeit um die Liebe. Die Bergbesteigung ist die Liebe, er musste über den Berg, damit er seine Liebe wiederfinden kann. Es war mir dann aber zu schmalzig, dass Glavinic es so aussehen lässt, als hätte er es nur für die Liebe gemacht. Jonas hätte am Ende sagen sollen: „Und ich war auf dem Berg, war geil, guck mal hier, die Fotos.“

Mich haben eher die Seiten davor gestört, die Schilderungen aus der Todeszone und des Abstiegs, die fast nur aus Kalendersprüchen bestehen, das ist gefühlt ein dreißigseitiger Lebensratgeber.
Ich habe das nur überflogen und gedacht: „Komm, hör auf zu quatschen, ich will jetzt wissen, ob du stirbst oder nicht.“ Unter dem Aspekt der Lesbarkeit stört es nicht. Aber man braucht es nicht noch mal, man hat über Jonas und das, was erzählt werden will, schon genug erfahren.  

Thomas Glavinic: Das größere Wunder, Carl Hanser Verlag, München 2013, 528 Seiten, 22,90 Euro.

Auf der nächsten Seite erzählt Julius von seinem Lieblingsbuch "Die Entdeckung des Himmels", das er als Jugendlicher zum ersten Mal gelesen hat. 
[seitenumbruch]

Teil 2: Das Lieblingsbuch


Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

"Die Entdeckung des Himmels" wurde 2007 von der Tageszeitung „NRC Handelsblad“ zum besten Holländischen Roman aller Zeiten gewählt. Als das Buch 1992 erschien, war es ein großer Publikumserfolg.
Ich habe das Buch das erste Mal als Heranwachsender gelesen. Und heute wie damals sind es die gleichen Dinge, die mich geflasht haben. Am meisten die Geschichte einer Freundschaft.

Aber diese Geschichte ist doch eigentlich schon nach 300 Seiten zu Ende erzählt.
Ja, das stimmt, aber sie gefällt mir so gut, sie ist das, was von diesem Buch bleibt.

Aber die Frage muss doch lauten, warum die anderen knapp 600 Seiten noch dazu müssen. Gerade auf diesen Tomb-Raider-Schlussteil hätte ich verzichten können.
Ich bin da sehr nachsichtig, weil der Anfang der Geschichte so gut erzählt ist. Und im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, mit denen ich schon darüber geredet habe, finde ich die Rahmenhandlung – zwei Engel planen, einen „Funken“ auf die Erde zu senden, um das „Testimonium“ zurück in den Himmel zu bringen – zwar nicht notwendig, aber cool. Ich bin nicht gläubig, aber ich mag den Gedanken, dass es eine Macht gibt, die sagt: Wir basteln das jetzt alles zusammen.

Ja, das ist ja auch das Angenehme, das Tröstende an diesem Buch.
Haben dich denn die letzten 500 Seiten richtig genervt?

Ich war irgendwann an einem Punkt, an dem ich, bei aller epischen Erzählfreude, das Gefühl hatte, ich erfahre jetzt nichts Neues mehr über diese Menschen. Wenn ich bei 800-Seiten-Romanen an einen solchen Punkt komme, dann lese ich sie eigentlich nicht mehr weiter.
„Die Entdeckung des Himmels“ sind ja eigentlich auch zwei Romane.

Es sind vier! Es ist die Geschichte einer Freundschaft, es ist die Geschichte einer Dreiecksbeziehung, es ist ein Entwicklungs- und Bildungsroman…
… und am Ende noch ein bisschen Adventure. Was über die Dreiecksbeziehung erzählt wird, fand ich übrigens empörend. Vielleicht auch, weil ich, als ich das Buch das erste Mal las, gerade eine Erfahrung mit einer solchen Konstellation gemacht hatte. Ich war der Geschasste, nur das ich im Gegensatz zum Protagonisten Onno davon wusste. Ich finde, das sollte auf meinem Grab stehen: „Er war ein wissender Onno.“ In Hinblick darauf hat mich dann der Bildungsroman, die Geschichte von Onnos Sohn Quinten, sehr interessiert. Ich mag, wenn man weiß, da ist einer auserwählt, mal gucken, wie er sich macht. Zuzuschauen, welche Entbehrungen und Rückschläge er hinnehmen muss, was er alles lernt, gefällt mir, weil man mitlernt und so Teil der Geschichte wird. Und dann kommt das Ende, das sein muss. Dieser große Zusammenhang fesselt mich an diesem Buch.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Mulisch diesen großen Zusammenhang wirklich gekonnt darstellt. Ich weiß auch gar nicht, ob das in einem Buch überhaupt möglich ist.
Ich gebe dir Recht und trotzdem eine Leseempfehlung, zumindest für die ersten 300 Seiten. Da hätte es wirklich enden können, davon hast du mich überzeugt.

Man hätte auch zwei oder drei Bücher daraus machen können.
Vielleicht raten wir das dem Verlag mal. Das letzte Buch hieße dann: „Die Entdeckung des Himmels Teil Drei. Wen’s noch interessiert“.  

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1995, 880 Seiten, 9,90 Euro.    

Jungs, warum geht ihr nicht gern zum Frisör?

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Die Mädchenfrage


Jungs, heute müssen wir mal über Frisörbesuche sprechen. Irgendwie erlebt ihr die nämlich anders als wir.  

So läuft das bei uns ab: Wir machen einen Termin aus, überlegen in den Wochen des Wartens, wie diesmal geschnitten oder gefärbt werden soll. Jeden Tag freuen wir uns ein bisschen darauf. Nicht (nur), weil unsere Haare danach ein paar Zentimeter kürzer oder rot sind oder wir gespannt sind, wie wir mit Pony aussehen. Nein, wir freuen uns auf das Prozedere an sich. Die Kopfmassage beim Haarewaschen. Sogar auf das Abtrocknen und Durchkämmen, das Föhnen, das im Alltag nur nervt. Sobald diese Dinge jemand anderes für einen macht, bekommen sie eine ganz andere, ungeteilte Aufmerksamkeit. Und wir selbst auch.

Für euch Jungs scheint das nicht zu gelten. Bei euch beobachte ich eine allgemeine Scheu vor dem Frisörbesuch. Wenn meine bisherigen Freunde zum Haareschneiden gingen, sah das immer so aus: Auf dem Nachhauseweg von der Schule/Uni/Arbeit liefen sie an einem Schaufenster mit der Aufschrift "Schnitt 12 Euro, ohne Termin!" vorbei, rechneten kurz nach, wie lange ihr letzter Frisörbesuch zurücklag. Tat er das mehr als ein halbes Jahr, traten sie ein. Ließen sich die Haare nicht waschen, sondern nur ein bisschen nass sprühen (geht schneller). Und verließen den Frisörladen mit millimeterkurzen Haaren; nicht, weil sie das so wollten, sondern um den nächsten Besuch so lange wie möglich hinauszuzögern.

Was mögt ihr an Frisörbesuchen nicht? Hasst ihr den Smalltalk? Dass jemand Fremdes an eurem Kopf fummelt? Das Aufgebrezeltwerden? Die plötzliche ungeteilte Aufmerksamkeit? Findet ihr daran gar nichts entspannend und schön? Ist er wirklich nur ein Pflichttermin, in seiner Lästigkeit irgendwo zwischen Zahnarzttermin und Autowaschen? Oder denkt ihr, das hat man als Mann einfach nicht zu mögen? Und genießt es am Ende doch ein bisschen, aber heimlich?


Auf der nächsten Seite liest du die Antwort von jan-stremmel

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Die Jungsantwort

Zu meinem letzten Frisörtermin fuhr ich auf dem Rennrad, es war Juli. Das ist das wichtige Detail Nummer eins. In einem Rucksack transportierte ich eine Mütze. Das ist das wichtige Detail Nummer zwei.

Der Gedanke, einen Termin zu machen, kommt mir ungefähr seit November immer mal wieder. Dann, wenn mein Haar beim Schuhebinden über die Augen fällt. Ich denke kurz: Fuck. Und stehe kurz darauf im verspiegelten Aufzug und denke: Stimmt schon. Irgendwie ist das zu lang über den Ohren. Aber auch schön eingetragen! Meine Frisur ist nämlich erst Monate nach dem letzten Frisörtermin so, wie sie sein soll - wie ein guter Turnschuh. Hie und da etwas verbeult, passt dafür aber zu allem und drückt nirgends.

Euren akuten Genuss beim Frisiertwerden können wir schon nachvollziehen. Dieses Hinterkopf-Kraulen beim Einschäumen - eine Wonne, auch für uns! Bloß läuft diese Prozedur zuverlässig auf den Moment des Grauens hinaus: Der Frisör zieht den Kittel weg, pinselt uns Haarfitzel vom Hals und hält den Spiegel hin. Und wir sehen eine lächerlich brav gestutzte Version unserer selbst. Eine Karikatur mit schön ausrasiertem Nacken. Mit den Haarinseln am Boden fegt der Coiffeur die Reste unseres Egos in sein Kehrblech. Weshalb ich grundsätzlich mit Mütze auf dem Kopf aus Frisörsalons trete.

Schlimm ist für uns also nicht das Haareschneiden, sondern dessen Resultat. Wir fühlen uns hinterher nie besseraussehend als vorher. Im Gegenteil: Unter dem neu frisierten Haupthaar entdecken wir Löcher im Bartwuchs, den doch ganz schön schiefen Nasenrücken und natürlich, am schlimmsten: die frappierende Ähnlichkeit mit unserer Mutter. Wir sind männlichkeitsmäßig auf Null zurückgesetzt, botanisch ausgedrückt werden wir von der lässig zerzausten Rotbuche zur gehorsam gestutzten Buchsbaumhecke. Selbst der o-beinige Chef verliert an genau einem Tag im Quartal seine Autorität - an jenem Tag, an dem er vom Frisör kommt, angepasst, eingenormt, ungefährlich.

Daher rührt auch unsere Grundregel im Umgang mit Passfototerminen, Bewerbungsgesprächen oder wichtigen Konzertauftritten: Was auch immer du tust, geh auf keinen Fall vorher zum Frisör! Geht nicht anders? Egal! Geht wirklich nicht anders? Dann plane zwei Wochen Karenzzeit ein! Denn erst nach mindestens zehn Werktagen hat sich unser Auge so weit an das neu umrahmte Gesicht gewöhnt, dass es sein Spiegelbild wieder halbwegs ernstnimmt.

Wenn wir also wirklich mal wieder müssen, halten wir es mit dem Haareschneiden wie mit den grünen Bananen im Supermarkt: Wir kaufen da was, von dem wir wissen, dass es erstmal ungenießbar ist.

jan-stremmel


Fünf Songs fürs Wochenende

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Edgar The Beatmaker & Jadasea – I Can See

http://www.youtube.com/watch?v=rmIeQQA31Ck&feature=youtu.be

Vielleicht würde eine Petition helfen: "Wunderkinder – Bitte wenigstens nur ein genialisches Projekt pro Jahr". Archie Samuel Marshall, besser bekannt als King Krule, würde die ambitionierten Jungsmusiker unter 20 wenigstens dosiert demütigen. So gibt es nun unter dem Namen Edgar the Beatmaker auch noch Hip-Hop vom britischen Rotschopf: Beats und Klangteppiche wie durch trüben Gazestoff gefiltert, dubbiges Halluniversum und der Flow von Jadasea, der auch von Rap-Hassern nur als "arschcool" tituliert werden kann.     

Warpaint – Love is to Die

http://www.youtube.com/watch?v=W5LNsyzd5_E

Mal ein Versuch im Schnellverfahren über Warpaint, das kalifornische Damen-Quartett um Sängerin Emily Kokal (einst mit dem ehemligen Chili-Peppers-Gitarristen John Frusciante liiert, weshalb der das Debüt der Band mischte): #experimentell, #elfenhaft, #killer-atmosphären, #obwohlauslosangeles, #langlebedieliebe.         

Sharon Jones & The Dap Kings – Retreat


http://vimeo.com/81385340

Schon klar: Spätestens (!) seit Aloe Blaccs jüngstem Album sollte man dem Retro-Soul wohl endgültig einen mit kratzigem Brass-Orchester begleiteten Trauermarsch organisieren. So sehr ich’s mag: Er wiederholt (und überholt) sich doch langsam, der Versuch, auf möglichst hippe Art alt zu klingen. Und dann kommt doch wieder was von Daptone-Records. Die haben den ganzen Kram eben nicht nur gehört und auswendig gelernt – die haben’s gefressen. Die atmen und schwitzen den Klang von einst. Große Vorfreude also auf das kommende Album von Sharon Jones & The Dap Kings (VÖ: 17. Januar). Das ist kein Retro-Soul, das ist Soul. Und damit heute so geil wie immer. Und Punkt.       

Charles Bradley – Changes

http://soundcloud.com/daptone-records/changes

Und deshalb aus Überzeugung gleich noch einer von den New Yorkern: Vielleicht lag’s dran, dass ich „Soul of America“, die bis zur Schmerzgrenze bewegende Doku über das Leben von Charles Bradley gesehen habe, bevor ich hier in München im Ampere auf sein Konzert bin. Aber in den vergangenen mindestens fünf Jahren hat’s mir bei keinem anderen Konzert so oft die Nackenhaare aufgestellt wie beim „Screaming Eagle of Soul“. Hier covert er das vielleicht souligste Stück von Black Sabbath.       

Band of Horses – Neighbor

http://www.youtube.com/watch?v=QT36twWX4hA&feature=youtu.be

Und zum Schluss: Ur’s truly beloved Band of Horses – die auf dem kommenden Album „Acoustic at the Ryman“ klingen wie Crosby, Stills, Nash & Young. Wie viel schöner kann’s denn eigentlich noch werden?  

Weihnachten, Cybermobbing und der #whv

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Im Tunnel: Plastiktüte über den Kopf
Das Gegenteil von Pauschalreisen! Jan Stremmel hat mit dem Engländer Dave Tew über dessen Hobby gesprochen: auf Güterzügen quer durch Kanada reisen. Da bekommt nicht nur die Redewendung „Hopp on, Hopp off“ eine ganz neue Dimension. Da werden auch die Begriffe Abenteuer und Luxus wieder eingenordet.

Zweihnachten! Erwachsen ist man früh genug.
Weihnachten war und zwar am 24. Dezember. Ganz drum herum kommt da ja kaum einer. Besonders betroffen aber: Paare. Da drängen sich die Fragen auf: Wo feiern? Mit wem? Wie? Warum? Muss man mit der Familie? Oder darf man allein zu zweit? Und falls ja: Will man das dann auch wirklich? Sebastian und Nadine aus unserer Zusammenzieh-Kolumne haben sich die und den Fragen gestellt. 




Noch mal Weihnachten
Weil: Da plagt uns das Gewissen offenbar mehr als sonst. Jedenfalls wird zu keiner anderen Zeit so viel gespendet – sei es Geld, Kleidung, Essen oder warme Worte. Wir haben mit Experten mal drüber gesprochen, wann unser Eifer Bedürftigen wirklich hilft und wann er sie möglicherweise sogar demütigt.

Wie wehren?

Erste Regel: Drüber reden! Zweite Regel: Hilfe holen und zwar möglichst schnell. Cybermobbing ist der besoffene Onkel der Gedankenfreiheit im Internet. Jule Lange hat in einem Lexikon des guten Lebens zusammengetragen, was Opfer tun sollten.

Wir haben verstanden ...
und zwar viel und das ganze Jahr über. Und weil bei einem Jahresrückblick nicht nur wichtig ist, was alles war, sondern auch, was bei einem davon hängen geblieben ist, haben wir es aufgeschrieben. In einem digitalen Magazin, das es in der SZ-App zum Download gibt. #whv2013.

Darüber haben in der KW 52 alle gesprochen:

Russland. Und zwar auf vielen Ebenen: Kurz vor Weihnachten kamen die beiden Pussy-Riot-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina im Zuge einer Massenamnestie aus dem Straflager frei. Kurz zuvor hatte der russische Präsident Wladimir Putin auch den Regierungskritiker Michail Chodorkowskij begnadigt – als Signal in Richtung Westen, wie Beobachter monieren. Putin wolle mit Blick auf die Olympischen Spiele in Sotschi lediglich Wogen glätten. Zuletzt hatten etwa Bundespräsident Joachim Gauck und US-Präsident Barack Obama angekündigt, nicht zu den Winterspielen zu fahren.

Und im Kosmos hat jetzt-Userin chocolatecat das Bild eines Nestes auf dem Balkon ihrer Mutter gepostet. Seither wird gerätselt: Welches Tier baut ein solches Zuhause?

Tier der Woche:
Bisher meistgeäußerter Tipp in den Kommentaren zur Nest-Frage: Eichhörnchen. Das ist auch unser Tier der Woche. Auf dem Rückblick auf unserer jetzt.de-München-Seite haben wir nämlich festgestellt: Ein Prozent aller Passanten in den Straßen hier sind Eichhörnchen.

Ohrwurm der Woche: Kanye West. Alles von ihm. Wir haben jüngst zwar in einem Rätsel verpackt festgestellt, was für einen unfassbaren Stuss der Typ redet. Aber Beats bauen, spinnt der Beppi, das kann er schon.

Und dann war da noch...
... die Frage, wo man Silvester feiert?! Und bei der blieb es leider bislang auch. Niemand weiß irgendwas Konkretes, alle eiern rum im peinlichen Versuch, auch ja die unbedingt mega-hyper-allergeilste Party zu erwischen. Als wäre es kein Feier-Abend wie jeder andere auch. Dass man auch nicht klug wird ...

"Viel Arbeit, viel Genuss"

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Im Empfangszimmer seiner Kanzlei stapeln sich die Kisten. „Wir misten aus“, sagt Joel Levi, der den Platz für neue Fälle sehr bald brauchen kann: der 75-Jährige ist Israels bekanntester Experte für die Raubkunst-Restitution. Der Fall Gurlitt mit seinen mehr als 1200 von der deutschen Staatsanwaltschaft konfiszierten Kunstwerken verspricht viel Arbeit für den Anwalt aus der Tel Aviver Vorstadt Ramat Gan. „Seitdem das bekannt wurde, strömen hier Mandaten rein“, sagt er, „jeden Tag.“




In Hochspannung verfolgt Levi nun alle Nachrichten aus Deutschland, er spricht mit Mandaten, sucht nach Zusammenhängen. Namen seiner Kunden will er nicht nennen, an Rummel sind sie nicht interessiert, und das Verfahren ist schließlich noch in der Schwebe. Auf Spurensuche geht er unter anderem in seiner Bibliothek, in der sich neben Rechtswälzern in hebräischer Sprache auch Werke finden mit Titeln wie: „Kunstraub in Krieg und Verfolgung“ oder „Hitlers Museum“.

Zur Raubkunst kam der Jurist erst relativ spät. Jahrzehntelang ist er schon darauf spezialisiert, Unternehmen, Grundstücke und andere Vermögenswerte, die von den Nazis beschlagnahmt oder enteignet worden waren, für seine israelischen Mandanten zurückzufordern. 1998 aber eröffnete die Washingtoner Erklärung ein neues und weites Betätigungsfeld: 44 Länder, darunter auch die Bundesrepublik, verpflichteten sich dazu, in Museum und Sammlungen nach Kunstwerken aus früherem jüdischen Besitz zu forschen und eine „gerechte und faire Lösung zu finden“. Und bald schon hatte Levi seinen ersten Fall.

Von Australien aus forderten die Nachkommen eines jüdischen Kunstsammlers ein Bild von Franz von Lenbach zurück, das in einem Darmstädter Museum hing. Am Ende kaufte das Museum das Werk, und das Geld wurde unter den Erben aufgeteilt. „Jeder Fall bringt Gefühle mit sich, Aufregung, und Sehnsucht“, sagt Levi – und manchmal seien die Nachkommen selbst überrascht über ihre Ansprüche. So machte er zusammen mit seinen Partnern die Erben eines jüdischen Sammlers ausfindig, der 1940 in Amsterdam Selbstmord begangen hatte. Die gesamte Familie wurde anschließend in Auschwitz ermordet - mit Ausnahme der nicht-jüdischen Schwiegertochter mit ihren beiden Kindern. Die Enkel wussten wenig über die schreckliche Familienhistorie, die ihnen plötzlich späten Wohlstand brachte.

Solche Geschichten erzählt Joel Levi mit Tränen in den Augen. Dutzende von Fällen hat er schon zu einem für seine Mandanten meist glücklichen Ende gebracht, in der Regel per Vergleich. Seine Motivation ist es, der furchtbaren Vergangenheit wenigstens post festum ein irgendwie versöhnliches Ende abzuringen. Und seine Offenheit dafür, bisweilen auch auf die Täter zuzugehen, führt er darauf zurück, „dass meine Familie nicht gelitten hat.“

Die Eltern waren schon vor dem großen Morden Mitte der dreißiger Jahre aus Deutschland ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina gekommen. Über den Holocaust wurde zu Hause nicht gesprochen. Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel öffnete ihm selbst Anfang der sechziger Jahre die Augen. „Ich studierte im vierten Semester Jura in Jerusalem, und ich saß jeden Tag im Gerichtssaal“, erzählt er. Später machte er sein Referendariat beim Eichmann-Ankläger Gabriel Bach. Aktiv hat er daran mitgearbeitet, das Verhältnis zwischen Deutschland und dem jüdischen Staat zu verbessern, vor ein paar Jahren ist er dafür sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Jederzeit ist er bereit, die Deutschen für ihre Aufarbeitung der Geschichte zu loben. Bei der Provenienzforschung geraubter Bilder, so sagt er, sei „Deutschland ein Vorbild in Europa“. Doch nun kommt der Fall Gurlitt ans Licht – und bringt auch für Joel Levi manches ins Wanken. „Es ist doch seltsam, dass das von der Staatsanwaltschaft fast zwei Jahre lang verschwiegen wurde“, meint er, „für die deutschen Behörden ist das eine Blamage.“

Nach allzu langer Verzögerung hofft er, dass durch die Arbeit der nun eingesetzten Task Force schnell Klarheit herrscht, auf welche Bilder jüdische Erben Ansprüche anmelden können. Hildebrand Gurlitt nennt er einen „totalen Verbrecher“, der zum Bespiel auch mit gefälschten Papieren nach dem Krieg gegenüber den Amerikanern seinen Besitz verteidigt habe. „Ich habe überhaupt nichts gegen seinen Sohn Cornelius“, sagt Levi, „aber als Erbe wusste er genau, wo das herkam.“

Für den Anwalt aus Tel Aviv ist der Fall Gurlitt jedoch „nur die Spitze des Eisbergs“ – und wenigstens für ihn liegt darin auch ein gute Nachricht. „Ich bin jetzt 75 Jahre alt“, sagt er, „und ich verspreche mir davon noch viel Arbeit und viel Genuss.“ Peter Münch

Für immer Glühwein

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Zu den erstaunlichen Vergnügungen der Stadtmenschen zählt es ja, sich vor Heiligabend bei kopfschmerzerregenden Heißgetränken auf Weihnachtsmärkten zusammenzuquetschen, im Getümmel zwischen Filz-Zipfelmützen- und Schmalzkuchenbuden seine Handtasche ausräumen zu lassen und die Aufenthaltsdauer in überfüllten dezemberlichen Einkaufsstraßen unnötig zu verlängern.

Zu den noch erstaunlicheren Vergnügungen zählt es, das alles nach Heiligabend zu tun.




Sie machen weiter. In Hamburg und in Lübeck, in Hannover und Braunschweig und Schwerin, überall im Norden drosselt das Jahr nun seine Reisegeschwindigkeit, bremst langsam ab und wird still zwischen den Jahren – und vergönnt den Menschen doch ein letztes bisschen Lärm: Weihnachtsmärkte ohne Weihnachten. Viele Menschen nehmen dieses Angebot dankend an. Das sagt eigentlich mehr über die Menschen als über die Märkte.

Es wird jetzt keine Adventsmusik mehr gespielt zwischen den Buden rund um die Hamburger Petrikirche, statt des zähen Geräuschbreis aus Weihnachtsliedern und Glockenbimmeln schleichen sich nun die Geräusche der Stadt zwischen die Gäste. Autohupen, Schimpfen, Möwenschreie. Das Klappern der Centstücke im Pappbecher der Bettlerin. Das Knistern des Fetts am Wurstgrill. Gesprächsfetzen. Tristesse. „Mann, ich bin so feiern gewesen gestern, ich könnt mich hier glatt aufn Boden legen“, ruft der Bäcker aus der Apfeltaschenbude dem Verkäufer gegenüber im „Warmer Burgunderschinken im ofenfrischen Brötchen“-Stand zu. „Ich lieg’ auch noch gefühlt im Bett“, ruft der Schinkenmann zurück. „Das ist nur mein Körper, der hier steht, das ist so ein Automatismus.“ Sie sind nicht die Einzigen, die müde sind. Trotzdem sind sie noch hier, trotzdem noch auf den Beinen.

Es gibt Länder in Europa, in denen alle Weihnachtsmärkte bis zum 6. Januar geöffnet haben. Weil die Kinder dann erst Geschenke bekommen, zum Fest der Heiligen Drei Könige. Es gibt in Deutschland auch jedes Jahr wieder Streit, wann die Märkte beginnen sollten und ob es respektvoll ist, dass manche schon im November öffnen, vor Totensonntag. Aber wie lange sie noch weitermachen, wenn die Geschenke längst ausgetauscht sind, vielfach auch schon wieder umgetauscht, wenn die Menschen weihnachtsmatt und satt sind: Danach fragt keiner. Es herrscht Milde, wenn es darum geht, wie lange es vernünftig ist, sich treiben zu lassen zwischen Schuppen mit Windlichtern in Katzenform, gehäkelten Fausthandschuhen in Regenbogenfarben und einander umarmenden Pfeffer- und Salzstreuerfiguren.

An den Rabatten kann der anhaltende Andrang zumindest nicht liegen – reduziert ist noch fast gar nichts. Ob der kleine Strick-Wichtel für 4,50 Euro jetzt wohl günstiger zu haben sei? Die Verkäuferin an der Petrikirche hebt die Brauen. „Wieso? Die sind doch das ganze Jahr über schön.“ Na ja. Der Mann, der in der Spitalerstraße Mistelzweige verkauft, gibt auch keinen Nachlass. Dafür hat er ein schlagendes Argument: „Da kannst du dich doch jetzt auch noch drunter küssen.“

Nur der Tee-Stand verspricht Prozente. Kaum nähert sich ein Kunde, schießt die Verkäuferin hinter den Beuteln hervor. „Alles zum halben Preis“, sagt sie und greift drei Teesorten: „Heart to Heart“, „Happy Emotion“ und „Beautiful Day“. Sie reißt die Dosen auf, es riecht nach süßlichen Räucherstäbchen. Schnell weiter. Nebenan steht eine Gruppe Rentnerinnen am Glühweinstand, aus Buchholz in der Nordheide. Die Damen haben schon ein paar Tassen genossen, es gibt auch heißen Eierlikör. Mit Schuss. Die Stimmung ist gehoben, es werden Schlager angestimmt, „Marlen, einer von uns beiden muss nun geh’n“. Das Ganze erinnert an Après-Ski im Hochzillertal, ein bisschen beklemmend, ein bisschen lustig. „Wir sind immer gerne hier“, sagt eine der Damen. „Bisschen gucken, bisschen was essen, bisschen trinken.“

Vielleicht ist das schon das ganze Geheimnis. Dass es zum Jahresende gar nicht mehr braucht als ein bisschen Lärm, zum Schluss, wenn alles andere schon still ist. Charlotte Parnack

Ungebrochen auf Konfrontation

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Zu Fuß sind es nur wenige Minuten von den Stufen der berühmten Christ-Erlöser-Kathedrale im Zentrum der russischen Hauptstadt zu den Studios des liberalen Internetsenders Doschd in den Räumen der ehemaligen Schokoladenfabrik Roter Oktober auf der anderen Seite der Moskwa. Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina brauchten für diesen Weg gleichwohl fast zwei Jahre. Er führte die beiden Aktivistinnen der Punkband Pussy Riot durch Moskauer Gerichtssäle und mehrere Straflager. Am Freitag empfing sie die russische Öffentlichkeit mit einer mehrstündigen, live übertragenen Pressekonferenz, in der die beiden ankündigten, weiter gegen Wladimir Putin kämpfen zu wollen.




„Was Wladimir Putin betrifft, hat sich unsere Haltung zu ihm nicht geändert“, sagte Tolokonnikowa. „Wir wollen weiter tun, wofür sie uns inhaftiert haben. Wir wollen ihn weiterhin vertreiben.“ Die 24-Jährige rief den vergangene Woche freigelassenen Unternehmer Michail Chodorkowskij dazu auf, sich mit ihnen zusammenzutun. Sie sei dafür, dass Chodorkowskij für das Präsidentenamt kandidiere. Aljochina kündigte an, sich mit einer eigenen Organisation für einen humaneren Strafvollzug einsetzen zu wollen. „In Russlands Straflagern gibt es Menschen, die sich am Rande des Todes befinden“, sagte sie. Die neue Organisation Zona Prawa (Zone des Rechts) wolle eine „Stimme der Gefangenen“ sein, sagte Tolokonnikowa.

Tolokonnikowa und Aljochina beteuerten, aus ihrem Ruhm kein Kapital schlagen zu wollen. Von einer Registrierung der Marke Pussy Riot sei ihnen nichts bekannt, erklärten sie. Die beiden waren nach 20 Monaten in Straflagern am Montag durch eine Massenamnestie freigekommen und hatten sich zunächst im sibirischen Krasnojarsk getroffen, bevor sie am Freitag nach Moskau flogen.

Die zahlreichen Freilassungen kreml-kritischer Häftlinge im Zuge einer Amnestie brachte oppositionell eingestellte Kreise in den vergangenen Tagen sichtlich aus dem Konzept. Während einerseits Jubel darüber herrschte, dass Gefangene freikamen, beteuerten alle im nächsten Atemzug, dass sich hinter der Entscheidung nichts weiter als eine PR-Offensive des Kremls vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi verberge. „Wir glauben nicht an ein Tauwetter“, sagte der Oppositionelle Leonid Wolkow, der vor der Strafverfolgung wegen Protesten gegen Putins Amtseinführung ins Ausland geflohen ist. „Warum sollten unsere Gerichte von einem auf den anderen Tag plötzlich human geworden sein?“ Das Oberste Gericht Russlands hatte in jüngster Zeit sowohl die Überprüfung der Urteile gegen Aljochina und Tolokonnikowa angekündigt, als auch die Revision der beiden Verfahren gegen Chodorkowskij und seinen Geschäftspartner Platon Lebedew, der noch in Haft ist.
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