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Mitloafer

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Bisschen französische Weltverzweiflungs-Bewältigung ist es schon auch: „Die Deutschen fallen aufs Neue in Paris ein“, steht in der Account-Beschreibung. Bisschen Frage der Zeit war es auch. Wenn etwas überhand nimmt, verliert es schließlich immer seinen Zauber. Die Wertigkeit bröckelt weg. Wir nennen das hier mal das „Tears in Heaven“-Phänomen: Ein eigentlich ja eben doch sehr schöner Song wird durch stete, überpenetrante Nutzung auf Trauerfeiern und in Fernsehherzschmerz-Beiträgen zum prototypischen Schmalztopf degradiert. Traurig.

Und weil das vom ehemaligen Tennisprofi Stan Smith endorste Turnschuhmodell von Adidas eben gerade die Straßen überpenetriert, ist es nur konsequent, dass es auf Instagram jetzt einen Hass-Account auf den Sneaker gibt. Stansmithophobe heißt der. Und er ist relativ lustig. Vorausgesetzt, man hat etwas übrig für Humor mit Proll-Schlagseite. In den eleganteren Momenten geht es nämlich um Mitläufertum. So zum Beispiel: Ein junger Mann steht in einer Bäckerei und bestellt laut Bildunterschrift „ein Croissant, ein Baguette, zwei Brote und etwas Persönlichkeit“:





Oder natürlich auch so:





In den weniger eleganten Momenten gibt es stattdessen den Dreisprung "Kunst, Romantik und Scheiße!":





Oder das "Dumm und Dumm gesellt sich gern"-Gefühl - zusammengefasst unter den Hashtags #jesiusbanal und #stopstansmith:





Und eigentlich wollten wir, also eigentlich ich als Besitzer von gleich drei Paar (eines ist aber vier Jahre alt, immerhin, gell?!), dann noch sagen: Ja, gibt jetzt schon viele, aber sind ja eben auch sehr elegant reduzierte Schuhe! Aber zumindest in Paris machen wir es den Hatern einfach auch zu leicht ...









jakob-biazza

Endgegner

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Joffrey stirbt in der 4. Staffel. Er trinkt vergifteten Wein. Ah,"Game of Thrones" noch nicht so weit gesehen? Sorry! Dann hasst du uns jetzt bestimmt für diesen Spoiler. Und wir hätten da zum Ausgleich vielleicht was für dich:





Google hat gerade das Patent für ein System angemeldet, das all jene Nachrichten in sozialen Netzwerken erkennt, die etwas aus Serien verraten, die wir gerade schauen. Statt "Ted und Robin sind doch zusammen! Ich wusste es!!!" stünde da ein Banner, das darauf hinweist, dass es sich hier um einen fiesen Spielverderber-Post oder -Tweet handelt. Der Leser kann dann selbst entscheiden, ob er ihn trotzdem lesen möchte.

Das ganze soll laut Times relativ simpel funktionieren: Entweder, man verknüpft sein Netflix-Konto mit den sozialen Netzwerken, oder man gibt direkt an, bis zu welcher Folge man eine Serie schon geschaut hat.
Sollte man selbst in einem Post oder Tweet spoilern, kann man das im System direkt angeben; alternativ filtert Google die kritischen Posts anhand von Stichworten heraus.
Ab wann man das Programm wirklich downloaden kann, ist leider noch nicht bekannt. Google betont, eine Patentanmeldung sei nicht automatisch eine Produktankündigung.

Bis es so weit ist, können wir ja noch etwas überlegen, was schlimmer ist: Das Ende von "Game of Thrones"vorzeitig erfahren, oder Google noch mehr Daten geben. Als Empfehlung vielleicht ein Satz, den die Kollegin eben herübergerufen hat: "Wenn eine Geschichte nicht mehr funktioniert, weil man das Ende kennt, ist die Geschichte eh nicht gut."

kristin-hoeller

Graue Stars

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Iris Apfel hat gerade das, was man einen guten Lauf nennt. Innerhalb von zwei Monaten hat die New Yorker Designerin zwei dicke Modelverträge abgeschlossen. Seit Januar ziert ihr Gesicht mit der berühmten Waschbärbrille die Werbeanzeigen der Schmuckmarke Alexis Bittar. Im Februar wurde bekannt: Apfel wird auch noch das neue Gesicht des Modelabels Kate Spade. Man darf Iris Apfel also als eines der gefragtesten It-Girls der Saison bezeichnen. Sie ist 93 Jahre alt.

War die Modeindustrie nicht vor kurzem noch der Ort, an dem man auf nichts so viel Wert legt wie auf Jugend? Gefolgt von Schlankheit und feinen Poren? Neuerdings scheint sich da was zu ändern.



Von oben links im Uhrzeigersinn: Iris Apfel, Joni Mitchell, Charlotte Rampling, Joan Didion, nochmal Iris Apfel (mit Karlie Kloss), Helen Mirren, Jessica Lange. 


Ebenfalls im Januar stellt das Pariser Modehaus Céline sein neues Kampagnengesicht vor: die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion, 80. Zwei Tage später schaltet das Label Saint Laurent eine Werbung mit Joni Mitchell, 71. Kurz darauf verkündet L’Oréal seine künftige Markenbotschafterin, die Sechziger-Jahre-Sängerin Twiggy, 65. (Als Ergänzung zur bisherigen Botschafterin Helen Mirren, 69).

So läuft es seit einiger Zeit. Louis Vuitton wirbt mit Catherine Deneuve, 71, die Kosmetikmarke Nars mit Charlotte Rampling, 69, GAP mit dem Adams-Family-Star Anjelica Huston, 63. Die Modebranche setzt also auf ältere Damen, um Produkte zu verkaufen, die vor ein paar Jahren noch an Mädchen gezeigt wurden, denen man noch keinen Führerschein zugetraut hätte. Gleichzeitig färben sich Lady Gaga oder Kelly Osbourne immer öfter die Haare grau. "Ältere Frauen sind die neuen It-Girls der Mode", verkündete daher diese Woche das US-Magazin Adweek. 

Wer die Mode der Zukunft verkaufen will, muss sich an die Älteren richten - die sind bald in der Mehrheit.



Gründe gibt es dafür mehrere. Da ist einmal die Demografie. Menschen über 60 sind die am schnellsten wachsende Altersgruppe der Welt. Im Jahr 2000 gab es von ihnen 600 Millionen, bis 2050 werden es geschätzte zwei Milliarden sein. Wer also Mode verkaufen will, handelt durchaus nachhaltig, wenn er sie für Ältere ansprechend vermarktet. Zumal die das meiste Geld haben.

Im Umkehrschluss bedeutet das: Junge Leute, die zunehmend und immer länger prekär leben, sind nicht mehr die Hauptzielgruppe. "Die Millenials haben es schwerer, was ihre Kaufkraft angeht", sagt eine Modekolumnistin der New York Times. Deshalb müssten gerade Luxusmarken, die teure Produkte verkaufen, ihre Werbung gezielt an reifere Kunden richten.

Es gibt da aber noch einen anderen Grund. Einen ästhetischen. Den erklärt Marcus Mattes, Professor für Mode- und Designmanagement an der AMD in München. Mattes beobachtet seit Jahren, wie die Branche sich abwendet vom klassischen jungen Model. "Das Glatte langweilt uns", sagt er. Magazine verwenden gerne Nicht-Models, Kosmetikfirmen werben offensiv mit Nicht-Perfektion. Die steile Karriere des schwarzen Models Chantelle Brown-Young, über die zuletzt viele Medien berichteten, zeige genau dieses Phänomen. Brown-Young hat wegen einer Pigmentstörung am ganzen Körper weiße Flecken. "Wir suchen neuerdings das Spezielle", sagt Marcus Mattes. 

"In Zeiten von Youtube-Stars suchen wir die Nachhaltigkeit", sagt der Modeprofessor. 



Dabei sei ein anderer Faktor viel wichtiger als das Alter von Iris Apfel oder Joni Mitchell. Nämlich deren Persönlichkeit. Schließlich sind es ja nicht irgendwelche 70-Jährigen, die da von den Plakaten blicken – sondern Frauen, die sich über Jahrzehnte einen Ruf erarbeitet haben. "In Zeiten, wo jeder mit zwei Youtube-Videos über Nacht berühmt werden kann", sagt Mattes, "sehnen wir uns mehr denn je nach wahrem Ruhm. Nach Nachhaltigkeit."

Was die alten It-Girls uns also über unsere Zeit verraten, abgesehen von der Überalterung unserer Welt? Es zählen in der Mode nicht mehr nur straffe Oberschenkel und feine Poren. Es zählt auch so etwas wie eine Lebensleistung. Eine Geschichte, die über das Äußere transportiert wird. Und vielleicht steckt dahinter sogar noch eine tiefere Einsicht über das flüchtige Wesen von Prominenz im 21. Jahrhundert. Denn die jetzt gefeierten grauhaarigen It-Girls werden vermutlich die letzten sein, deren Ruhm fünfzig Jahre lang währt.

Neue Hoheiten

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Eigentlich ist so eine Familie ein bisschen wie eine zusammengecastete Boyband: Jeder hat seine feste Rolle und die unterscheidet sich von den Rollen der anderen, wegen Abgrenzung und so. Da gibt es dann eine ruhige Person, eine draufgängerische, eine sensible, eine energische. Zum Beispiel. Und vor allem gibt es die Elternrollen und die Kinderrollen. Die Sache ist aber: So eine Familie hält sehr viel länger als eine zusammengecastete Boyband. Und wenn man fast 30 Jahre lang die immer gleiche Rolle innehatte und die immer gleichen übrigen Rollen beobachtet hat, dann ist man sie irgendwann leid.

Bei mir war das so. Alles war immer gleich. Klar, alle wurden älter und veränderten sich, aber innerhalb der Familie behielten sie doch ihre Rollen bei. Wann immer wir alle daheim waren, wurden meine Eltern zu Eltern und wir Kinder zu Kindern, obwohl wir doch längst erwachsen waren. Es gab da keine Überraschungen, ich konnte zum Beispiel ziemlich genau vorhersagen, wie ein Familientreffen ablaufen würde. Wer was sagen würde, wann wer gute oder schlechte Laune haben, wann sich welches Lager bilden, wann wer wen verletzten würde. Aber dann wurde mein Neffe geboren. Und auf einmal ist alles anders.




Altes Bild mit neuen Rollen

Wenn wir uns mit der Familie treffen, gibt es Veränderungen, die man auf den ersten Blick bemerkt. Meine Schwester geht zum Beispiel viel früher ins Bett und steht früher auf. Das ist ungewohnt. Meine Mutter trägt auf einmal ein Kind auf dem Arm. Sie sieht anders aus damit. Damit das Kind lacht, macht mein Vater lustige Geräusche, die ich noch nie von ihm gehört habe. Der Sound der Familien-Band ist mit dem neuen Bandmitglied ein anderer.

Aber auch darüber hinaus hat sich etwas verändert. Die Rollen sind nicht mehr die gleichen. Meine Schwester ist jetzt Mutter, da kann sie schlecht gleichzeitig noch Kind sein. Wir anderen Kinder sind auch weniger Kinder, weil es ja jetzt wieder ein richtiges Kind gibt. Es macht Kinderdinge, es ist hilflos wie ein Kind, es lacht wie ein Kind, es weint wie ein Kind.

Vor allem aber sind meine Eltern jetzt Großeltern. Es ist als sei auf einmal alles Strenge, Erzieherische verschwunden, an das sie als Eltern uns gegenüber gewöhnt waren. Es gibt da eine neue Sanftmut. Als Großeltern wollen sie nicht mehr erziehen, sie wollen das Kind halten und füttern, mit dem Kind spielen. Dabei haben sie aber nicht die Hoheit über das Kind – die hat meine Schwester, meine Eltern müssen sie fragen, ob sie das Kind mal mit in den Garten nehmen dürfen, sie bestimmt, wann es essen und wann es schlafen muss und darum nicht verfügbar ist. Und man selbst steht daneben und gerät aus dem Fokus des elterlichen Blicks. Man hat jetzt erwachsen und fertig zu sein, denn es gibt jemand anders, um den sich gekümmert, auf den geachtet werden muss. Und so seltsam das auch klingt: Das ist ungemein befreiend.

Wie ein kleines Zahnrad, das nicht mal selbst Zähne hat, die Maschine ändert



Denn man hat nicht nur erwachsen zu sein, man wird auch eher als erwachsen angenommen. Jahrelang war es zum Beispiel nicht möglich, meinen Eltern etwas abzunehmen, was sie traditionell immer gemacht haben. Auf einmal kann ich meiner Mutter beim Kochen helfen oder im Urlaub den Haustürschlüssel an mich nehmen. Das sind Kleinigkeiten, aber es sind Zeichen dafür, wie sich das große Ganze verändert hat. So wie die veränderte Silhouette meiner Mutter mit Kind auf dem Arm. Oder die neue Stimme meines Vaters.

Eine Familie ist ja nicht nur wie eine zusammengecastete Boyband, sie ist vor allem auch ein System, das sich über die Jahre festigt, es läuft wie eine Maschine, in der die Zahnräder aufeinander abgestimmt sind. Das neue Familienmitglied ist nicht nur eine Ergänzung dieser Maschine, es sorgt auch dafür, dass sich die Zahnräder verschieben, damit das neue, kleine Zahnrad richtig eingepasst werden kann, seinen Platz findet. Dieses kleine Zahnrad, das bisher nicht mal selbst Zähne hat, hat es geschafft, dass sich die alte Maschine, die schon jahrelang gleich läuft, verändert.

Und dann fällt mir da noch etwas auf, das sich verändert hat, etwas ganz Banales: Es ist viel unordentlicher geworden. Auf einmal besteht die Gefahr, im Wohnzimmer meiner Eltern auf einer Schildkröte mit Rollen auszurutschen. Aber auch das ist irgendwie schön.

Drake hat sein eigenes Google

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Dass es mal wieder ausgerechnet ihn erwischt, ist kein Zufall. Drake ist ja nicht nur ein Rapstar, sondern auch ein Mem-Star. Zur Erinnerung:





Drake hat im Internet den Ruf, eine Art Anti-Chuck-Norris zu sein: Zuvorkommend, sensibel, weich. Der Ruf hat damit zu tun, dass Drake aus der Mittelschicht stammt, regelmäßig mit seiner Mutter über rote Teppiche läuft und dieses aggressiv harmlose Lächeln hat.

[plugin imagelink link="http://www.shalomlife.com/img/2014/08/25250/0621_miami_heat_party_02_480w_.jpg" imagesrc="http://www.shalomlife.com/img/2014/08/25250/0621_miami_heat_party_02_480w_.jpg"] (Drake ist der rechts.)

Jedenfalls ist ihm seit gestern eine eigene Suchmaschine gewidmet: Let Me Drake That For You. Man kann dort alle möglichen Begriffe eingeben und nachsehen, in welcher Beziehung sie zu Drake stehen. Wir haben es mal testweise mit "Mom" gemacht. 





So. Nun ist Drake aber nicht der einzige, der ein eigenes Google hat. Ebenfalls seit ein paar Tagen gibt es eine eigene Suchmaschine für Zlatan Ibrahimovic. Keine Ahnung warum. Den schwedischen Fußballer und den Rapper verbindet nichts außer ihr Ruhm. Entsprechend spucken beide Suchmaschinen auch nichts Sinnvolles aus, wenn man bei Zlatan nach "Drake" sucht und umgekehrt. Aber bei der Suche nach Mems zu Zlatan merkt man schnell: Der ist in Schweden offenbar eine Art Chuck Norris.





jan-stremmel

Kannste abhaken

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Ich käme nie auf die Idee, nachts in ein Schwimmbad einzubrechen. Ich finde nichts daran, im Dunkeln in kaltes Chlorwasser und danach in nasser Kleidung über Maschendrahtzäune zu steigen. Ich will auch keinen Roadtrip mit einem alten VW-Bus machen. Es mag liebenswert aussehen, wenn in „Little Miss Sunshine“ eine verschrobene Familie mit einem Bulli quer durch Kalifornien fährt. Trotzdem finde ich es unsinnig, mit einem uralten Auto in den Urlaub zu fahren. Die besten Autos im Urlaub sind nämlich die, die funktionieren. Und die Ferien sind genauso schön, wenn man mit einem Ford wegfährt.




Spießigkeit (Abbildung ähnlich)

Der Einbruch im Freibad und der Trip im Bulli sind aber fester Bestandteil einer Art von Listen, die mir seit einer ganzen Weile ständig begegnen: To-Do-Listen zum Abhaken für eine vermeintlich erfüllte Jugend. Jede Woche erscheinen mehrere Artikel mit 100 Dingen, die man getan haben muss, bevor man 30, 20, 18 oder 16 ist. Sie füllen Frauenzeitschriften, Bücherregale und vor allem Online-Magazine.
Auf diesen Listen stehen meistens Dinge, die ein Gefühl von Freiheit und wildem Leben vermitteln sollen. Der Bulli und der Einbruch. Per Anhalter fahren. Draußen Sex haben. Eine Weltreise machen.

Diese Listen sagen: Wenn du jung bist, musst du Abenteuer erleben! Das Problem: Wenn alle dieselben Abenteuer erleben wollen, sind es keine Abenteuer mehr. Ideen sind nur so lange aufregend, bis sie in der gesellschaftlichen Mitte ankommen. Und das sind die meisten Punkte auf den Listen längst. Sie mögen mal etwas Besonderes gewesen sein - heute sind sie es nicht mehr. Viele wirken inzwischen so antiquiert, als hätten wir sie kommentarlos von unseren Eltern übernommen.

Als die vor gut 40 Jahren damit anfingen, Konventionen und Regeln zu brechen, war all das ja noch glaubwürdig. Da war eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Natur und Randale. Man hat neue Freiheiten mit langen Haaren und freier Liebe erstritten.

Aber heute? Ich muss keine Konventionen mehr brechen. Und ich möchte keinen Fremden küssen, nur weil man das mal gemacht haben muss. Ich möchte küssen, wen ich möchte. Und wenn das eben ein Leben lang die gleiche Person ist - was soll’s?!

Abenteuerlisten sind Sammlungen von Abenteuerstereotypen



Vielleicht greifen wir auf Motive aus der Jugend unserer Eltern zurück, weil in unserem Alltag Wagnisse und Nervenkitzel nicht mehr in der gleichen Form verankert sind? Weil sowieso alles erlaubt ist? Vielleicht zeigt das auch, dass unsere Generation nichts Einheitliches mehr hat, das sie zusammenhält. Weil wir die Welt differenzierter wahrnehmen? Und weil das so ist, haken wir auf unseren To-Do-Listen halt das ab, was auch Menschen vor 20 Jahren schon abgehakt haben. So werden die Abenteuerlisten zu Sammlungen von Abenteuerstereotypen.

Oder, fast noch schlimmer, zu utopischen, farbgefilterten Szenerien, die wir aus Hollywood-Filmen entlehnen. Die Romantik. Die Spannung. Das Abenteuer.

[plugin imagelink link="http://media.giphy.com/media/PtjndSE3o6sYo/giphy.gif" imagesrc="http://media.giphy.com/media/PtjndSE3o6sYo/giphy.gif"]

Aber es ist Quatsch zu glauben, jeder müsse schonmal barfuß im Regen getanzt haben. In Filmszenen mit beschwingter Musik landet das (glasklare!) Pfützenwasser, das unter den pedikürten Füßen aufspritzt, in glänzenden Perlen auf der Haut. Tatsächlich aber ist ein Regentanz nass und kalt, und danach hat man dreckige Füße und eine Scherbe in der Ferse.

Wir sollten endlich so mutig sein, eigene Vorstellungen von Abenteuern zu entwickeln und uns nicht von Utopien leiten lassen, die nicht zu uns passen. Das “Musst du mal gemacht haben”-Credo ist kaum weniger bieder als Briefmarkensammeln; nichts ist unorigineller, als sich nach einem Vergnügenskanon zu richten, der auf nahezu antiken Wunschvorstellungen und lebensfremden Hollywoodfilmen beruht. Wirklich jung ist, wer sich nicht an Listen hält.

Das neue Sizarr-Video ist da...

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Erst ist da eine Art Bildschirmschoner aus dem Jahr 2001. Weiße Linien, die im Rhythmus zittern. Während die ersten Takte losschieben, wird aus dem Bildschirmschoner dann eine gespenstische Nebelwelt. 

Sizarr, unsere Lieblings-Indiestreber aus der Pfalz, haben gerade ein neues Album draußen. Heute haben sie diesen Clip hier auf Youtube gestellt. "Baggage Man" ist ein (für Bandverhältnisse) geradezu beschwingt-zuversichtlicher Song. Wie gemacht fürs Wochenende, finden wir!

http://www.youtube.com/watch?v=_1_qn9yZRXc&feature=youtu.be

jan-stremmel

Mädchen, warum lobt ihr immer eure Frisuren?

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Die Jungsfrage

Neulich in der Kneipe: Die Dings kommt rein, und gleich krasser Schock. Hat voll kurze Haare, und auch noch ziegelrot gefärbt! Der T. und ich also: "Boah, du warst beim Friseur!" – "Krass." – "Auch’n Bier?" Eine wertfreie Begrüßung. Änderung registriert, dann normal weiter geplaudert.

Das Mädchen, das neben uns sitzt, aber gleich so: "Voooooll hübsch!" Und fährt der Dings direkt mit den Fingern durch ihre frisch – und wenn man ehrlich ist: mindestens eine Handbreit zu viel - gekürzten Haare. Und dann quatschen sie siebeneinhalb Minuten lang über den genauen Farbton und wie gut dieser eine Frisör den Pony aber mal wieder hingekriegt hat.

Hä?, dachten der T. und ich. Für eine direkte Begeisterungs-Offensive sahen wir nämlich eher keinen Bedarf. Es war nicht so, dass wir der Dings das Lob ihrer neuen Frisur nicht gönnen. Lob ist ja nicht nur nach bestandenen Examensprüfungen oder Kopfballtoren sehr angenehm, sondern auch, wenn es etwas betrifft, für das man gerade einen hohen zweistelligen Eurobetrag ausgegeben hat. Natürlich hätten wir der Dings nie das Offensichtliche gesagt, nämlich dass die Haare vor dem Frisörtermin irgendwie besser aussahen. Absichtlich verletzen ist scheiße. Aber: unehrliches Lob doch auch!

Irgendwas ist da komisch mit euch. Wir haben den Eindruck, dass ihr eure Mitmädchen beim ersten Zusammentreffen nach einem Frisörbesuch immer, immer, immer (!) lobt. Und zwar maximalüberdreht im höchsten Gang, als wäre es oberste Mädchenpflicht.

Warum nur? Könnt ihr nicht einfach mal ehrlich sein?

>>> Die Mädchenantwort von sina-pousset >>>
[seitenumbruch]



Ach, Jungs. Unsere Haare. Das scheint ja so ein undurchdringlicher Zauberwald für das männliche Hirn zu sein. Setzen wir mal die Heckenschere an. Fertig? Los.  

So ungefähr fühlt es sich an, wenn wir beim Frisör auf dem Stuhl sitzen. Jemand setzt die Schere an und danach ist erst mal nichts mehr, wie es war. Denn das, was bei euch auf dem Kopf eben so rumstoppelt oder mit Gel in Form zu bringen ist, ist bei uns ein komplexes Gebiet. Wir können mit unseren Haaren nämlich so ziemlich alles machen. Wir können unsere Haare kurz tragen, lang, mittel, im Bob, mit Fransen, mit Stufen, mit Locken, mit Pony schräg, Pony tief, Pony mini, vorne lang hinten kurz, vorne kurz Pony schräg hinten lang – kann mir noch jemand folgen? Eben.  

Wichtig ist: Mit jeder dieser Varianten sehen wir anders aus – womöglich völlig anders, so wie die Dings mit dem rotem Radikalcut. Kommt also ein Mädchen vom Frisör, hat sie sich für irgendwas zwischen Dings (Radikalveränderung) und Bums (so wie immer) entschieden. Jemand hat die Heckenschere angesetzt und sie sieht jetzt eben so aus, wie sie aussieht. Klar will sie wissen, wie genau. Nur "Scheiße" hören will sie nicht. Deswegen sagen wir auch mal: "Super", wenn wir "Scheiße" denken.  

Wir wissen: Frisörbesucher brauchen Liebe und Zuspruch, auf keinen Fall Kritik.


Denn es gibt diesen Moment. Wir sitzen auf dem Stuhl und verlangen: "Pony!", obwohl wir eigentlich meinen: "So wie immer, nur in schöner!" Manchmal kommen wir da eben auf komische Ideen, wegen der vielen Möglichkeiten. Das Problem: Wir wollen, dass der Frisör ein bisschen zaubert, obwohl er doch nur Haareschneiden gelernt hat. "Verwandeln" nennt man das.  Nicht nur phonetisch liegt das nah bei "Verschandeln". Frisöre können beides.  

Ein Frisörbesuch ist für uns also eine Wundertütensituation. Wenn etwas schief geht, unterscheidet sich unsere Fallhöhe von Eurer. Nichts geht so einfach bei uns: Nachschneiden, Nachwachsen, Abrasieren. Erst mal sehen wir so aus, so fremd, so neu, so gut oder schlecht. Im schlimmsten Fall auch einfach ganz beschissen. Nicht so, wie wir das wollten. Und noch viel schlimmer: nicht so, wie wir. Das kann passieren, wenn es so merkwürdige Dinge wie Beach-Strähnchen und Lob (Long Bob) gibt, die wir dann eben mal probieren wollen. Vielleicht aus demselben Grund, aus dem ihr gegen den Wind pinkelt: weil wir können.

So. Warum machen wir also anderen Frauen, die vom Frisör kommen, Komplimente? Ein einfaches Wort: Solidarität. Wir wissen, dass die, die gerade  ganz entspannt und neugeschoren im Türrahmen erscheint, vielleicht vorhin noch verzweifelt über dem Waschbecken hing. Wir wissen: Frisörbesuche erfordern Mut. Deswegen sagen wir gerne, dass es gut aussieht, auch gerne intensiv und mit ein paar Nebensätzen. Selbst wenn das nicht immer stimmt. Wir wissen: Frisörbesucher brauchen Liebe und Zuspruch, auf keinen Fall Kritik. Mit einem "Sieht scheiße aus" lebt es sich die acht Wochen, bis der blöde Pony endlich rauswächst, auch nicht entspannter. Also: Zeit verstreichen, Spitzen wachsen lassen und Kritik für später aufheben.

Ehrlich sein darf übrigens eine sofort: die beste Freundin. Von der wissen wir in der Regel nämlich, wie scheiße sie selbst mit Pony aussieht.

Wir haben verstanden: KW 15

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  • Zahnende Babys brechen einem das Herz.

  • Lachende Babys können es aber wieder kitten.

  • Im Winter vergisst man immer, dass es auch warm sein kann. Aber im Sommer nie, dass es auch kalt sein kann.

  • Da glaubt man jahrelang, man würde Joggen hassen – und dann ist man am Meer, rennt eine Stunde über den Deich und denkt dabei die ganze Zeit "Wie großartig, wie großartig, ich fühle mich gerade ganz großartig!"

  • Völlig unterschätzte Orte: Wintergärten.

  • Wenn man an einem Bestattungsinstitut skatet, kann es passieren, dass jemand rauskommt und sagt: „Da wird gerade einer verbrannt, was stimmt denn bei euch nicht?

  • Wenn man ganz unten im Haus wohnt, kann es sich lohnen, mal bis ganz nach oben zu laufen. Mitunter entdeckt man dann nämlich, dass man aufs Dach steigen und dort ziemlich gut sitzen kann.

  • Alte Frauen sind die neuen It-Girls.

  • Wenn man vom Sturm entwurzelte Bäume sieht, dann gruselt es einen. Und trotzdem wünscht man sich, man hätte gesehen, wie er umgefallen ist, der Baum.

  • Man ist nie zu alt für Ostereier-Suchen. 

  • Mit der U-Bahn umziehen folgt dem selben Amnesiekreislauf, wie alle bescheuerten Ideen: "Gute Idee." - "Nie wieder!!" - "Gute Idee."

  • Nimm das, Schwarmintelligenz: Der "Tastemaker" ist zurück.

  • In der U-Bahn sollte man stattdessen: tanzen! 

  • Spontan mit der S-Bahn die Unwetterstrecke abfahren und erst fünf Stunden später in der See-Sauna am Tegernsee sitzen: lohnt sich trotzdem.

  • Während eines traditionellen Birkenaufgusses wird zwölf Minuten lang nicht gesprochen und die Füße werden unbedingt auf dem Handtuch platziert. Sonst gibt es abschätzige Blicke (erträgt man nackt noch schlechter).

  • Auch mit 25 ist es nicht so leicht, auf die ernst gemeinte Aussage: "Im FKK-Bereich haben wir ein paar Eier versteckt" seriös zu nicken.

  • Es gibt PMS-Eiscreme in Sorten wie: "I think I'm dying" und "Don't come near me"

Ein Croissant mit Marmelaaaaad

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Wichtigster Tag der Woche?


Nicht leicht zu sagen: Montag laden liebe Menschen zum Essen, Mittwoch treffe ich eine tolle, aber viel zu selten gesehene ehemalige Kollegin. Samstag feiert ein sehr guter Freund eine lange überfällige Kombination aus Geburtstag (Februar) und Wohnungseinweihung. Geile Woche, merke ich gerade.


++++ Nachtrag: Eben kam per Mail doch noch ein wichtigster Tag rein, den ich gerne nachreiche! Am Montag endet nämlich das Crowdfunding für ein neues Album von Tex, Moderator von TV Noir, eigentlich aber vor allem selbst ein ganz schön wichtiger Singer-Songwriter in diesem Land. Außerdem derjenige, mit dem wir das Parkbank-Konzert mit Lasse Matthiessen veranstaltet haben. Das ganze wird kein klassisches Album, sondern ein handgemachtes Songbook mit Download-Code oder USB-Stick für die Musik. Und er hat auch längst mehr Geld beisammen als geplant. Aber: Mitmachen lohnt trotzdem. Was übrigbleibt, hilft TV Noir, noch schöner zu werden. Und das ist dann ja, nun ja, noch schöner eben! ++++

http://www.youtube.com/watch?v=E-oKhpxVURg#t=216

Kulturelles Highlight?


Dafür sehr eindeutig: Das wird von meiner Seite jetzt wirklich redundant, ich weiß, aber mei: Bilderbuch, again! Die Wiener spielen am Freitag ein sehr exklusives Studio-Konzert bei unseren Freunden von EgoFM. Da bin ich. Weil, ich sag’s jetzt einfach noch mal: Ich habe schon ganz schön lange keine deutschsprachige Musik mehr gehört, die so viel geil-exaltierte Pose vor sich herschiebt, ohne peinlich zu werden.
 Darauf für mich auch "ein Croissant mit Marmelaaaaaad".

http://www.youtube.com/watch?v=9Ocyk0OgyWY

Soundtrack?


Ich habe mir jetzt probehalber mal einen Streaming-Dienst heimgeholt. Deshalb war kurzzeitig ganz schöne Konfusion zwischen Hirn und Gehörgang. Weil: Ich kann jetzt ja die ganze Musik der Welt hören. Und deshalb habe ich ein paar Tage lang alternierend-blöden Systemen folgend (nach Streaming-Dienst-Empfehlungen, nach Neuerscheinungslisten, nach Covern, ohne Hinschauen) dauernd auf was anders gewurstfingert. Bis ich fast verrückt war. Dann bin ich zum Glück beim neuen Matthew-E.-White-Album „Fresh Blood“ hängengeblieben. Seitdem wate ich nur noch durch diesen karamell-cremigen Soul und höre Musik wieder, wie man das machen sollte: ein Album so lange auf Dauerrotation, bis ich sogar weiß, in welcher Tonlage der nächste Song anfängt, nachdem der vorherige verklungen ist.

Am Freitag erscheint dann endlich das neue Album der Alabama Shakes. Das wird den White wahrscheinlich ablösen.

http://vimeo.com/119183363

Kinogang?


Eher nicht. Es ist ja jetzt Frühling. Da will die Frau, die ich gut kenne, immer, sofort und die ganze Zeit raus. Ohne schon irgendwelche Kritiken gelesen zu haben, würde ich bei sehr schlechtem Wetter aber dem hier vielleicht ne Chance geben:

http://www.youtube.com/watch?v=pZmejAYYIU8

Eigentlich will ich aber am liebsten gleich noch mal „Das ewige Leben“ anschauen. So kaputt wie da war der Brenner nämlich noch nie. Ganz, ganz, ganz herrlich ist der!

http://www.youtube.com/watch?v=FnUyX6zyV8o

Wochenlektüre?


Man wirft Dave Eggers ja jetzt überall vor, mit seinem neuen Roman mit dem – tatsächlich etwas bemühten – Titel "Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?" endgültig den Status des Kanzelpredigers erreicht zu haben. Und es ist bestimmt überambitioniert, hier dem etablierten Feuilleton zu widersprechen. Aber: Wenigstens den Vorwurf, der Protagonist seines neuen Romans (der nur aus Dialogen besteht) sei ein moralinsaures Alterego, kann ich nicht gelten lassen. Thomas, so heißt er, entführt sechs Menschen (einen Astronauten, einen Kongressabgeordneten, einen Polizisten, einen ehemaligen Lehrer, eine junge Frau und die eigene Mutter), um ihnen Fragen zu stellen. Und die sind eben überhaupt nicht von einer übergestülpten Moral geprägt, sondern in so vielen Grautönen abwechselnd dumm, verbohrt und geisteskrank, dass sie eben gerade kein einheitliches Wertesystem widerspiegeln.

Was ich sagen will: Lieber das lesen als das zwar inhaltlich wahnwitzig wichtige, aber (absichtlich) stupide geschriebene „The Circle“.

Geht gut diese Woche:


Weiterhin Stan-Smith-Sneaker tragen.

Keine Chance hat diese Woche:


Den Schal die ganze Zeit in der Hand tragen wie in der vergangenen Woche.

Wer hat welchen Proviant dabei?

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Am Montag in der SZ: Das neue jetzt-Heft

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Wärst du jetzt vielleicht gern woanders? Weißt du schon, wo du in zwei Jahren sein wirst? Oder ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, du wärst geblieben, wo du vor zwei Jahren warst?

Wer heute jung ist, ist auch mobil: Entfernungen sind kaum noch Hindernisse, eher sind sie Verheißung. Nur: Das macht Entscheidungen über das Gehen oder Bleiben nicht leichter. Für dieses Heft haben wir deshalb die Geschichten hinter solchen Entscheidungen gesucht.

jetzt liegt am 13. April 2015 in deiner Süddeutschen Zeitung. Außerdem kannst du es digital auf dem Smartphone oder dem Tablet lesen - mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung. Du kannst die digitale Ausgabe des Hefts einzeln für 89 Cent oder zusammen mit der SZ vom Montag kaufen - für Abonnenten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.

Die einzelnen Texte aus dem Heft kannst du ab Montagabend auch auf jetzt.de im Label jetzt_Magazin nachlesen. Für eine erste Orientierung hier das Inhaltsverzeichnis:

4 „Das Wort ‚chillen‘ kann ich nicht leiden.“ #Werbistdugerade
6 Jetzt, wo die Truppen das Land verlassen, beginnt Khalil, seine Entscheidung zu bereuen. #Afghanistan #Rache #imstichgelassen
12 „Er sagte, dass er mich gern als Clown in der Show hätte.“ #Work&travel #Plötzlichberühmt #Zufall
16 Es ist ein bisschen wie im Schulbus, nur mit weniger Gedrängel. #Aufzug #Selbstversuch #Intim #Anonym
20 Wer hat welchen Proviant dabei? #Rätsel #Unterwegs #Essen
22 „Wir wollten das Ding gegen die Wand fahren. Aber die Wand war nicht stabil genug.“ #Deichkind #MenschÄrgereDichNicht #Interview #Scheitern



Wir wollten das ganze Ding gegen die Wand fahren. Aber die Wand war nicht stabil genug.

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Die Musiker von Deichkind haben ein eigenes Spiel dabei. „Bäm“ heißt das und es besteht aus einem sehr großen, laminierten Spielbrett mit vielen Aktionsfeldern, bei denen es hauptsächlich ums Trinken geht - und aus Spielkarten mit Aufgaben. „Befehl von ganz unten: fünf Felder zurück und dann machen“, steht auf denen zum Beispiel. Oder auch „Leck jemandem mit deiner Zunge übers Gesicht“. Die Band hat das Spiel selbst erfunden. Die Idee ist, mit Kryptik Joe, Porky und La Perla, die privat langweiliger heißen, beides parallel zu spielen. Ein Gespräch übers Scheitern also, bei einer Partie „Mensch, ärgere Dich nicht“, kurz MÄDN - und einer Partie „Bäm“ …

La Perla: Für „Bäm“ nimmt sich jetzt jeder ein Glas mit ein bisschen Alkohol drin!
Die Gläser sind die Spielfiguren?
La Perla: Natürlich.
Ich werfe schon beim zweiten Wurf die erste Sechs. Guter Start im MÄDN-Spiel, der tatsächlich so etwas wie Verärgerung auslöst.
Scheitern ist bei euch ja ein besonders spannendes Thema: Eigentlich wurdet ihr erst erfolgreich, weil ihr als reine Hip-Hop-Band kommerziell nicht mehr funktioniert und euch radikal verändert habt.
La Perla: Stimmt. Wir haben das Scheitern sogar bewusst provoziert. Auf das Hip-Hop-Ding hatten wir keinen Bock mehr. Wir wollten den Laden dichtmachen. Deshalb haben wir Müllsäcke übergezogen, uns live besoffen und sind zu Techno-Beats über die Bühne gekullert. Wir wollten den Bruch und dachten: Nach spätestens fünf Shows ist das endgültig vorbei.
Porky: Wir wollten das ganze Ding gegen die Wand fahren. Aber die Wand war nicht stabil genug.
Wie hat sich das angefühlt?
La Perla: Ein bisschen beängstigend und ein bisschen geil. Die Erfahrung, sich irgendwohin zu bewegen, wo es ungemütlich wird, wo man sich unwohl fühlt - Müllsäcke, halbnackt auf der Bühne …
Porky: … das ist ’ne Sucht …
La Perla: … mag auch sein, was ich aber sagen will: Ich musste mich plötzlich dazu verhalten. Ich musste kreativ mit einer Situation umgehen, in die ich mich nach dem ursprünglichen Plan nicht hineinbegeben hätte. Das ist ein unglaublicher Impuls für Ideen.
La Perla und Porky ziehen auch Figuren aufs MÄDN-Feld. Mehr nebenbei allerdings. Der Fokus liegt deutlich auf dem Gespräch.

Provoziert ihr das Scheitern manchmal immer noch?
La Perla: Irgendwie schon. Nimm unsere aktuelle Live-Show: Drei Jahre lang haben wir die konzipiert und gebaut. Eine Stunde vor Abfahrt hat das System, mit dem die Bühnenteile herumfahren können, das erste Mal funktioniert.
Da standest du als Regisseur in der Verantwortung.
La Perla: Ja, ja. Alle haben mich ständig gefragt: „Wird das denn fertig?!“ Und ich konnte den Typen immer nur sagen: „Klar wird das fertig!“ Dabei wusste ich, dass das noch lange nicht ausgemacht ist.
Ziemlich genau ab hier wird das MÄDN ignoriert, zugunsten von „Bäm“ und Interview.
Und wenn’s nicht geklappt hätte?
La Perla: Das haben natürlich alle gefragt in dieser Phase. Da konnte ich nur sagen: „Das überlege ich mir, wenn’s so weit ist. Zur Not schieben wir sie eben von Hand hin und her.“
Spielen und antworten gleichzeitig geht bei Deichkind grundsätzlich nicht. Wenn einer redet, halten die anderen inne und hören zu. Sehr genau. Das ist die Ernsthaftigkeit, mit der die Band alles macht: nachdenken, spotten, pöbeln - oder einem Bandkollegen, wie es die Spielkarte verlangt, übers Gesicht lecken. Wie Kryptik Joe jetzt bei Porky. Der anschließende Ekel wird heftig zelebriert. Dann kehrt die Konzentration zurück.
Kryptik Joe: Ich wollte auch mal sagen: Wir haben ja schon oft übers Scheitern geredet. Für den Zeitraum zwischen zweiter und dritter Platte war das ein sehr dominantes Thema. Aber ich finde die Frage bei der aktuellen Platte fast noch interessanter. Was heißt Scheitern heute? Wir haben mit dem Vorgängeralbum „Befehl von ganz unten“ ja alle Deichkind-Rekorde gebrochen. Damit jetzt umzugehen, ist für mich ein großes Thema.


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Hast du schon eine Antwort gefunden?

Kryptik Joe: Momentan habe ich meistens das Gefühl, Deichkind kann eigentlich nicht scheitern. Die Band wird es auch noch geben, wenn wir weniger Platten verkaufen.
Porky: Weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass es auch dann weitergehen kann.
La Perla: Ich sehe das anders. Jeder von uns definiert sich doch über Ziele, die er mit Deichkind erreichen will - künstlerisch oder kommerziell. Da können wir alle scheitern. Was ich aber immer öfter merke: Ich finde in dieser Gruppe ein Klima vor, das mir die Angst nimmt, zu scheitern. Man muss sich fürs Scheitern hier nicht schämen.
Kryptik Joe: Ich persönlich schütze mich vorm Scheitern, indem ich mir selten ganz konkrete Ziele setze. Ich glaube, das gilt auch für die Band. Die Ziele sind diffus.
Klingt ein bisschen nach einem Euphemismus für fehlenden Ehrgeiz.
Kryptik Joe: Vielleicht. Aber entscheidender ist doch: Unser Einfluss auf den Erfolg ist eh extrem begrenzt. Natürlich kann man handwerklich besser werden. Natürlich können wir fleißig sein. Aber man kann dabei auch voll am Zeitgeist vorbei arbeiten - und dann interessiert sich plötzlich keiner mehr dafür.
Ist das ein Ziel: den Zeitgeist treffen?
Porky: Das kann man nicht steuern. Das ist eben das Glück der Muse, oder wie auch immer man das nennen will.
La Perla: Für mich ist das schon ein Ziel. Wir verdichten Themen im Schaffensprozess. Und dadurch, dass die Gruppe so heterogen ist, ist die Chance auch hoch, dass etwas herauskommt, das Relevanz für viele Menschen hat.

Habt ihr dabei einen Geschmackrichter, der in letzter Instanz entscheidet?
Porky: Das ist eher wie bei einem Sieb mit mehreren Stufen. Jeder hat im Ausleseprozess seinen Platz, bei jedem bleibt was hängen. Und was am Ende durchkommt, ist hoffentlich gut.
Wer sind die Extrempole?
La Perla: Wahrscheinlich sind Ferris und ich am weitesten auseinander. Der will dann plötzlich wieder Pyrotechnik und immer noch mehr Action. Ich will aber, dass er als Ballerina verkleidet über die Bühne tanzt, weil ich glaube, dieser Bruch ist geil für sein Image. Wir haben da ganz schön lange heftig gegeneinander gearbeitet. Und irgendwann habe ich gemerkt: Wenn ich es schaffe, Ferris von einer Idee zu überzeugen, dann bekommt die dadurch eine Relevanz, die weit über meinen Geschmack hinausgeht. Wenn mir und ihm etwas gefällt, ist die Wahrscheinlichkeit extrem groß, dass das auch da draußen in vielen Menschen etwas auslöst. So funktioniert Deichkind.
Auch hier: großer Sportsgeist. Kryptik Joe spielt die Karte „64 Felder und machen“ - erfährt aber erst danach, dass das alle Felder auf dem Weg meint. Nach vier Feldern mit „großer Schluck“ und einem mit „Glas exen“ hat er einen leichten Zungenschlag. Und will wissen: „Hattest du nicht auch unangenehme Fragen?“
Eine wäre: Müsst ihr euch nicht dringend mal wieder neu erfinden?
Kryptik Joe: Wie meinst du das?
Viel größer kann eure Live-Show doch nicht mehr werden. Exzessiver auch kaum. Und der Exzess ist jetzt schon in großen Teilen inszeniert. Was kann also noch kommen?
La Perla: Für mich ist das eine ganz zentrale Frage. Natürlich sind wir bei der Show in Teilen an einem Punkt der reinen Inszenierung. Da ist der Kosmos Boygroup schon am ehesten die Referenz. Manchmal frage ich mich selbst, wo die Grenze zwischen Take That und Deichkind in dem Bereich noch ist. Aber jetzt pass auf: Da läuft also diese Show, da fährt Technik für Hunderttausende rum, und weißt du, worauf du guckst?
Sag schon.
La Perla: Nur auf die Typen! Die werden dir wieder total wichtig. Und schon sind da die nächsten Fragen: Was sind das eigentlich für Typen? Was wollen die? Warum stehen die auf dieser Bühne? Da tauchen schon wieder ganz neue Möglichkeiten für das Spannungsfeld aus Inszenierung und Authentizität auf. Keine Ahnung, was die Zukunft uns bringt. Aber ich habe das Gefühl, da steht uns noch ein riesiges Feld offen.

Und plötzlich ein Clown

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Andreas, 22,

wurde in Australien als Zirkusclown entdeckt.

Schon vor dem Abi war mir klar, dass ich danach gern Work & Travel in Australien machen möchte, aber was Ausgefalleneres als kellnern oder Früchte ernten. Als ich nachts mal nicht schlafen konnte, kam mir der Gedanke, dass es grandios wäre, im Zirkus zu arbeiten. Ich mochte die bunten Zelte schon als Kind.
Am nächsten Tag habe ich also recherchiert und noch von Deutschland aus Bewerbungen an Zirkusse geschrieben. Der Wanderzirkus Silvers hat mir tatsächlich geantwortet: Sie seien zum Zeitpunkt meiner Ankunft sowieso gerade in Melbourne, ich solle einfach vorbeikommen. Damals habe ich schon manchmal gezweifelt, ob ich mir da vielleicht eine Traumwelt zusammenschustere. Jetzt, mit ein bisschen Abstand, kann ich sagen, dass es die beste Entscheidung war, diesen Traum durchzuziehen, obwohl er für manche sicher absurd klang. Es hat mich in vielen Bereichen verändert.
In Melbourne habe ich mich wie verabredet bei dem Zirkus vorgestellt. Sie haben mir gleich einen eigenen Wohnwagen zugeteilt - da wurde ich richtig euphorisch. Dann habe ich allerdings realisiert, dass ich haupt-sächlich als Putzkraft arbeiten sollte: nach der Show die Manege saugen und das Popcorn von den Sitzen kratzen, beim Auf- und Abbau helfen - in der australischen Hitze war das besonders hart. Nach vier Monaten hätte ich wohl hingeschmissen, wenn ich mich nicht mit dem Zauberer Simon angefreundet hätte.
Simon und ich saßen abends oft vor seinem Wohn-wagen und tranken zusammen Wein. Irgendwann hat er dabei gesagt, dass er an einer neuen Illusion arbeitet und mich als Assistenten möchte. Der Trick hieß „Die durchstochene Jungfrau“, und ich musste dafür eine Artistin in eine Kiste tragen, die mit brennenden Dolchen durch-stoßen wurde. Das war nicht ungefährlich, die Dolche waren wirklich spitz. Bei der Premiere habe ich glücklicherweise alles richtig gemacht. Danach hat sich mein Verhältnis zu den Kollegen spürbar verändert. Ich war nicht mehr die gesichtslose Hilfskraft, sondern Teil der Truppe.
Nach einer Weile bat mich der Zirkusdirektor in seinen Wohnwagen. Wir haben Kaffee getrunken und irgendwann sagte er plötzlich: „Andy, wenn die Leute dich sehen, dann müssen sie lachen, dafür brauchst du gar kein Kostüm.“ Aus Höflichkeit habe ich darüber gelacht und bin gegangen. Erst später habe ich realisiert, wie er das meinen könnte. Also habe ich noch mal nachgehakt, ob das sein voller Ernst sei. Ja, sagte er, und dass er mich gern bei der nächsten Station als Clown in der Show hätte: in einer Cowboy-und-Indianer-Nummer mit seinem Sohn.
Bei der Premiere war ich sehr nervös - wir hatten zwar viel geprobt, aber vor richtigem Publikum hatte ich das ja noch nie gemacht! Als mich kurz vor der Show allerdings mein Clownsgesicht im Spiegel anschaute, verpuffte die Unsicherheit. Selbstbewusst ritt ich mit meinem Steckenpferd hinter dem Vorhang hervor in die Mitte der Manege, schlug dort ein Rad und rief: „Tadaaa!“ Und die Leute haben gelacht. Von da an war die Arbeit nur noch Spaß.
Insgesamt habe ich 61 Auftritte als Clown in Australien absolviert, oft zwei am Tag. Dazwischen gingen wir surfen oder baden im Meer. Ich habe viel vom Land gesehen, der Lohn stimmte mit 500 australischen Dollar auch. Ich konnte mir zusammen mit Freunden noch einen Bus kaufen und weiter durchs Land reisen. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich angefangen, in Stuttgart Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Außerdem arbeite ich an einem Buch über meine Zirkuszeit, mithilfe des Kabarettisten Eckart von Hirschhausen.
Ich trete aber auch bei Poetry Slams auf, weil ich durch die Zeit in Australien gelernt habe, dass ich genau
das weiterhin machen will: auf der Bühne stehen und Leute unterhalten.

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Felix, 26,

wurde während eines Auslandssemesters in Tokio als Model entdeckt.

Der Beginn meiner Modelkarriere war eigentlich unspektakulär: Ich war zum Fotografieren im Ueno-Park in der Nähe der Tokioter Kunstakademie, an der ich studierte. Auf einmal kam ein Typ hektisch auf mich zugelaufen. Im ersten Moment dachte ich, dass ich aus Versehen etwas verbrochen hätte - in Japan wird man schließlich nicht einfach so von Fremden angesprochen. Er fragte mich dann aber auf Englisch, ob ich schon mal gemodelt hätte. Ich verneinte perplex. Der Mann erzählte, dass sein Model für das morgige Shooting ausgefallen sei und ob ich nicht kurzfristig einspringen wolle, es sei auch gut bezahlt. Ich habe mich dann schon kurz gefragt, ob er mich vielleicht verarschen will. Und ob Modeln überhaupt mein Ding ist. Andererseits: In Japan sind die Menschen stets freundlich. Und außerdem war ich ja im Ausland, um neue Erfahrungen zu machen. Also sagte ich zu. „Zuerst fragte ich mich, ob ich gerade verarscht werde.“
Rückblickend war es wirklich super, dass ich in diesem Moment über meinen Schatten gesprungen bin. Ich war schon immer eher ein Typ, der offen ist für Neues. Aber durch diese Entscheidung habe ich mir spontan eine für mich damals noch völlig fremde Welt  erschlossen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Und ich habe gemerkt, wie viele Chancen mir das Leben bietet.
Als ich den Mann am nächsten Tag am Bahnhof traf, wurde mir erst klar, wie naiv ich eigentlich war. Der Typ führte mich zu einem schwarzen Bus mit abgedunkelten Scheiben, in den ich einsteigen sollte. Ich hatte immer noch keine Ahnung, um was für ein Shooting es eigentlich ging und ob das alles seriös war. Ich dachte noch: Okay, wenn du jetzt gekidnappt wirst, dann war’s das. Als mir drei nett aussehende Mädels aus dem Bus zuwinkten, war ich zwar noch nicht restlos überzeugt, aber ich stieg ein. Drinnen hingen überall Klamotten und ich wurde vielen netten Menschen vorgestellt, die mich alle anlächelten. So schlecht kann es nicht werden, dachte ich.
Nach 20 Minuten Fahrt kamen wir an einer Indoor-Eislaufhalle an und ich bekam Winterklamotten rausgelegt. Mehrere Stylisten kümmerten sich um mich, ich erfuhr, dass die Bilder für ein Magazin sein sollten. Der Fotograf hatte eine teure analoge Kamera, auch die Klamotten waren teuer. Es war mein Glück, dass der Fotograf ziemlich locker drauf war und mich nicht wie ein High-Fashion-Model behandelte, sondern wie einen langjährigen Freund. Wir tranken zusammen Kaffee und ich unterhielt mich mit ihm. Nebenbei knipste er Bilder. Am Ende drückte man mir einen Umschlag mit Geld in die Hand und fuhr mich heim.

Bei dem ersten Shooting sprach mich ein Stylist an, ob ich nicht zu einem Casting für die japanische Fashion Week kommen wolle. Ahnungslos bin ich auch dort hinmarschiert. Nach meinem Walk sagte die Jury nur: „Okay, danke schön.“ Ziemlich ernüchternd eigentlich, aber kurze Zeit später kam die Zusage.
Als ich an der Reihe war und zum ersten Mal um die Ecke ins gleißende Licht des Laufstegs bog, traf mich fast der Schlag. Bohrende Blicke von allen Seiten, es waren bestimmt 2000 Leute da. Totaler Fluchtmodus. Da ich aber nicht einfach wegrennen konnte, imitierte ich das, was ich aus dem Fernseher kannte: cool gucken, Verzweiflung nicht anmerken lassen.
Ich habe dann noch häufiger in Japan gemodelt und damit eigentlich mein ganzes Studium dort und noch eine schöne Reise finanziert. Zurück in Deutschland bin ich relativ schnell wieder in meinen Alltagstrott gekommen und habe auch nicht wieder gemodelt. Ich glaube, mein Erfolg in Japan lag vor allem daran, dass ich nicht der optischen Norm dort entspreche. Die Menschen in Tokio wollen möglichst wenig auffallen. Ich trage lange Haare und Bart, in einem japanischen Büro geht das nicht. Vielleicht wurde ich also auch ausgewählt, weil ich etwas verkörpere, das die Menschen dort selbst nicht problemlos leben können.

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Saskia, 26,
wurde Soap-Schauspielerin in der Türkei.

„Ein Jahr vor der Abiturprüfung, nach der zwölften Klasse, wollte ich raus aus Deutschland. Ich hatte schon eine Ausbildung zur Mediengestalterin abgeschlossen und war dabei, das Abi nachzuholen. Während eines  Urlaubs auf Malta mit meinem damaligen Freund entschied ich mich dann aber dagegen. Die Idee, länger auf Reisen zu gehen, war da schon jahrelang in meinem Kopf gewesen. Ich hatte nur nie den Mut gehabt, wirklich aufzubrechen.
Mein Freund und ich zogen also los nach Kroatien, von dort trampten wir nach Istanbul. Wir waren finanziell komplett auf uns gestellt, mussten also unterwegs jobben. Ich machte Gartenarbeit oder passte auf Truthähne auf, damit sie nicht von Wölfen gerissen wurden. Per Anhalter erreichten wir schließlich Istanbul. Nach einem Monat dort entschloss sich mein Freund, zurück nach Deutschland zu fliegen - es war ihm zu viel, er wollte zurück. Wir trennten uns, denn ich wusste: Ich will im Ausland bleiben.
„Ich hatte noch nie geschauspielert - nicht mal in der Theater-AG.“
Ich fing an, in dem Hostel zu arbeiten, in dem ich in Istanbul wohnte. Eines Tages stand der Manager einer türkischen Fernsehproduktionsfirma bei mir an der Rezeption. Er suchte eine Deutsche, die in einer Soap mitspielen wollte. Die Serie hieß „Seksenler“ - das heißt so viel wie „Die Achtziger“ - und lief regelmäßig im türkischen Fernsehen. Bei der Rolle handelte es sich um eine Punkerin - dass meine Haare zu dem Zeitpunkt pink waren: Zufall.
Ich sagte zu, dabei hatte ich bis dahin noch nie geschauspielert - nicht mal in der Theater-AG. Zwei- bis dreimal die Woche hatten wir Dreharbeiten, von morgens um neun bis abends um sieben. Ich hatte eigentlich keine Ahnung, worum es in der Fernsehserie ging, sie lief ja auf Türkisch. Das war für meinen Job aber auch gar nicht wichtig, das meiste dort war Improvisation: Es gab keinen vorgefertigten Text, mir wurde immer in Mini-Abschnitten mitgeteilt, was ich als Nächstes auf Deutsch sagen sollte. Die Kommunikation war oft etwas schwierig. Die Mitarbeiter dort verstanden kein Wort Deutsch, ihr Englisch war auch nicht gut. Mehrmals mussten sie sogar einen Übersetzer anrufen. Im Fernsehen wurde mein Text dann mit türkischen Untertiteln unterlegt.
Einmal wurde ich in Istanbul auch erkannt, obwohl ich privat viel weniger aufgebrezelt herumlief als in der
Serie. Ich beantragte gerade ein Visum, weil ich nach Indien weiterreisen wollte. Die Sachbearbeiterin dort fragte mich, ob ich das Punk-Mädchen aus „Seksenler“ sei. Wir haben zusammen ein Selfie gemacht, sie war superhappy.
Die Zeit beim Fernsehen war eine interessante Erfahrung für mich, eine gute Möglichkeit, etwas Neues zu machen. Auch wenn ich nicht weiter in diese Richtung gegangen bin, eine Bereicherung war es. Und gut verdient habe ich auch.
Ich glaube nicht an Schicksal, erst recht nicht mehr seit meiner Reise. Ein Freund, den ich unterwegs kennengelernt habe, meinte einmal: „You create your own reality.“ Dem kann ich mich anschließen. Vor meiner Reise dachte ich: Die Welt und mein Leben sind scheiße. Jetzt denke ich: Alles ist gut, wenn ich nur darauf vertraue, dass alles gut wird.


Frankfurt? Kann gut Gegensätze

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„Dass dir nachts an der Theke jemand erzählt, dass er Hotels in Abu Dhabi baut“, sagt Leo Fischer, ehemaliger Titanic-Chefredakteur und Frankfurter seit acht Jahren, „passiert dir nur in Frankfurt.“ Ein anderes Mal habe ihm ein betrunkener Rohstoffhändler gezeigt, wie er gerade mit seiner Rohstoffhandel-App mehrere Tonnen Coltan verladen ließ. „In Berlin machen sie ja alle das Gleiche. Hier nicht!“, sagt Leo.




Wenn man fürs Studium in eine neue Stadt zieht, gibt es viele Fragen: In welchem Viertel wohne ich am besten? Wo trifft man sich und wo gibt es die besten Drinks? Was muss ich wissen, um die Stadt zu verstehen? Wir beantworten diese Fragen im Studentenatlas auf jetzt.de und SZ.de für deutsche Studentenstädte. Wir starten mit Frankfurt, es folgen Dresden und Freiburg. Alle Informationen findest du unter sz.de/studentenatlas.

Frankfurt also. Mitten im Land, großer Umsteigebahnhof, großer Flughafen, Hochhäuser, Schnitzel mit grüner Sauce (schmeckt) und Apfelwein (schmeckt ab dem dritten Glas). Aber sonst? Ich weiß nicht viel über Frankfurt, das ist keine dieser Städte, bei denen alle „Da will ich unbedingt mal leben!“ schreien. Wie ist es, hier anzukommen? Welche Klischees stimmen und wie fühlt sich die Stadt an? Ich habe 24 Stunden, um das herauszufinden.

Als erstes will ich irgendwo rauf. Das Von-oben-Sehen hilft ja immer beim Verstehen. Also fahre ich vom Bahnhof zum Main Tower im Bankenviertel und dort auf die Aussichtsplattform, fast 200 Meter hoch. Über dem Main hängt Morgennebel. Frankfurt sieht groß aus und hört sich groß an, wie eine riesige Baustelle: ein ständiges Hupen und Hämmern und Sausen, viele Kräne und Autos, drumherum die Türme – der Skyper, die Commerzbank, der Eurotower, und, besonders abweisend, weil sehr schwarz und sehr glatt: die Deutsche Bank.

Wieder unten wirkt das Bankenviertel sehr still und klein. Vor allem die Neue Mainzer Straße, an der besonders viele der Türme stehen, ist geradezu lächerlich schmal. In einer hippen Bäckerei (Mann mit tätowierten Unterarmen, Frau mit Undercut, Sandwiches mit Auberginen) namens „Unser täglich Brot“ sitzen ein paar Klischees in Anzügen. Ausschließlich Männer. Bis eine Frau reinkommt, auch sie als Klischee: Sie trägt gertenschlanke Beine zum Bleistiftrock und bestellt einen grünen Smoothie zum Mitnehmen. Ich esse mein Sandwich und staune über die Ruhe. Wo sind bloß all die Menschen an diesem Dienstagmorgen? Mir wird das über Tag immer wieder auffallen, auf der Straße, in der Bahn, auf dem Campus: so richtig voll ist es nirgends.





Auch da nicht, wo vor Kurzem noch die Hölle los war: rund um den Neubau der EZB im Ostend. Die Zentrale liegt wie ein gerade gelandetes Ufo auf dem Areal der ehemaligen Großmarkthalle, die in das neue Gebäude integriert wurde. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ein ganz anderer Teil der Stadt. Runtergekommene Altbauten neben noch runtergekommeneren Neubauten, ein Laden für Autolacke, ein Thai-Imbiss, eine Sportsbar, eine Spielhalle. An einem Balkon hängt ein Plakat: „Wo Unrecht zu Recht wird, ist Widerstand Pflicht.“ Ich bekomme ein Gefühl, das mich durch den Tag begleiten und am Ende für mich viel von Frankfurt ausmachen wird: Diese Stadt kann gut Gegensätze. Aber die Gegensätze sind in sich und im Vergleich mit, sagen wir mal: der Welt, dann doch eher durchschnittlich. Bodenständig. Vielleicht liegt das ja auch an Hessen und seinen Menschen. Die Hessen, das wird Leo Fischer später noch sagen, könne nichts aus der Ruhe bringen, sie seien manchmal sogar apathisch. Es gebe da eine gewisse „Bräsigkeit“.

Frankfurter lieben an Frankfurt: die Internationalität


Ich fahre zur Uni. Der neue Campus im Westend ist wirklich schön: das kalksteinfarbene IG-Farben-Haus, der große Park mit Teich dahinter, der weitläufige Theodor-W.-Adorno-Platz. Hier gibt es tatsächlich mehr Menschen, trotz der Semesterferien, aber auch sie sind erstaunlich ruhig. Gerade läuft irgendeine Tagung, in sieben großen Sitzkreisen wird auf der Wiese leise diskutiert. Die Frankfurter Studenten sind unauffällig, nur die Dichte an Anzugträgern ist hier ein kleines bisschen höher als anderswo. Ich sitze in der Sonne und werde schläfrig. Frankfurter Bräsigkeit?

Frankfurter lieben an Frankfurt, dass es so international ist. Das betont Leo Fischer mit seinen Geschichten von interessanten Menschen, die er nachts in Bars trifft. Das betont auch Verena Boos, Autorin mit gerade veröffentlichtem Debütroman, die schon an vielen Orten gelebt hat und schließlich hier gelandet ist. Verena treffe ich in der Kleinmarkthalle, hier kriegt man persische Gewürze oder Kichererbsen im Zuckermantel, aber auch Frankfurter Rindswurst, die eine alte Dame mit bloßen Händen aus dem heißen Wasser fischt. Wurst heißt übrigens „Worscht“. Und den „Äbblwoi“ kriegt man in einem „Bembel“ (einer Steinzeugkanne). Wenn man diesen gemütlichen Dialekt neben den persischen Gewürzen hört – dann ist er wieder da, der Frankfurter Gegensatz.

>>> Warum Sachsenhausen nicht mehr so wichtig ist. Und wo die besten Studentenkneipen sind.

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Dann: das Frankfurter Bahnhofsviertel. Das ist berühmt. Als kleinkrimineller Drogensumpf mit Alkoholikerkneipen, aber auch als Ort, der in den vergangenen Jahren neu entdeckt wurde. In dem die einen Straßenzüge nach deutscher Innenstadt oder In-Viertel aussehen (Kaiserstraße, Münchner Straße), während in den anderen Laufhäuser, Stundenhotels und Druckräume sind (Elbestraße, Niddastraße). Und in dem die Mietpreise mittlerweile so hoch sind, dass man es sich kaum noch leisten kann, dort zu wohnen, die Studenten zum Beispiel leben darum eher in Bockenheim oder Bornheim, da ist es noch bezahlbar.

Im Yok Yok gibt es ein "Sparmenü": eine Flasche Club Mate und ein kleiner Wodka für 4,50 Euro


Ich treffe Marvin Mendel, der das Frankfurt-Blog thatscene.com schreibt: über Musik, Kultur, Cafés, die Frankfurter Eintracht. Er zeigt mir die Studentenorte des Bahnhofsviertels. Zum Beispiel das Kaiser P, einen Partyraum in der Kaiserpassage, zwischen Gemüseladen, Kosmetiksalon, Afro-Shop und orientalischer Mode. Oder die Terminus-Klause, eigentlich eine muffige Pilsstube, aber auf einmal zur Szenekneipe geworden. Oder das Yok Yok, einen Kiosk, der „Sparmenüs“ anbietet: eine Flasche Club Mate und ein kleiner Wodka für 4,50 Euro. „Im Yok Yok habe ich schon Silvester gefeiert“, sagt Marvin. Draußen auf der Straße ist mehr los als zwischen den Bankentürmen und rund um die Uni zusammen. Händler, die auf der Straße stehen und rauchen. Junkies, die torkeln. Männer in Anzügen, die Kaffee trinken. Frauen, die Rollkoffer ziehen. Touristen, die auf einen Stadtplan starren. Studenten, die flanieren. Und Ganoventypen, zu denen der Begriff „zwielichtig“ tatsächlich noch passt, gedrungen, mit kleinen Augen, aus denen sie von unten her in die Welt schielen.





Abends im Henscheid, der Titanic-Stammkneipe im ruhigen Bornheim, sage ich Leo Fischer, dass ich am nächsten Morgen zum Frühstücken nach Sachsenhausen will, ein beliebtes Altbau- und Touristenviertel, pittoresk und voller Apfelwein-Kneipen. Leo rät ab. „Sachsenhausen ist nicht mehr so wichtig“, sagt er, „fahr lieber ins Europaviertel.“ Das hatte ein Bekannter, den ich nach Tipps fragte, auch gesagt. „Eine neue Plastikgegend“, nannte er es. Ein Wohnviertel mit kühler, moderner Architektur und einer riesigen Mall namens „Skyline Plaza“. Wahrscheinlich ist das der Ort, an dem Frankfurt über die Stränge schlägt, in seinem Versuch, großstädtisch und international zu sein. Dabei ist es eben gerade dann charmant, wenn es nicht verleugnet, dass es auch sehr hessisch und klein ist. Wenn der Rohstoffhändler in einer Kneipe, in der man ein „Sechser-Bembel" bestellt, tonnenweise Coltan verschiebt. Frankfurt ist provinziell-international. Und als ich am nächsten Morgen eben doch nach Sachsenhausen fahre und dann am Museumsufer entlang und über den Holbeinsteg zurück auf die andere Mainseite spaziere, ist es noch dazu: schön. Das muss ja auch mal gesagt werden.

Verweile doch

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Seit es Instagram gibt, gibt es eigentlich nichts mehr, was wir nicht sehen können – irgendwo gibt es immer jemanden, der schon mal ein Foto von genau der Sache gemacht hat, die einen genau jetzt interessiert. Sei es ein limitiertes Paar Sneaker von 1997 oder ein Bild aus der kleinsten Bar einer mazedonischen Kleinstadt, völlig wurscht, Hauptsache Hashtag Dingsbums gesucht und schon hat man's.

Heute in der Rubrik "Irgendjemand hat’s sicher schon gehashtagged": Das Coachella-Festival kurz vor Eröffnung, Hashtag #emptycoachella. Wie bei einem Kindergeburtstag kurz bevor die Gäste kommen steht alles noch ganz still und glänzend da und rührt sich nicht.













Das ist, wenn man mal drüber nachdenkt, eigentlich das Allerbeste überhaupt - egal ob bei dem eigenen Geburtstag, auf einem Schulfest, einem Clubabend oder auch nach wochenlanger Arbeit an einem Kunstwerk: ganz kurz den Moment zu genießen, in dem gerade alles fertig ist, alles aufgebaut, alles getrocknet, bereit für den Beginn des eigentlichen Lebens. Noch ist alles frisch und unzerstört und noch hat niemand was Böses gesagt. Noch ist alles bei sich und man kann sich kurz, ganz kurz freuen, dass jetzt alles genau so ist, wie es gedacht war und wie es sein sollte - der unrealistischste Lebens-Zustand überhaupt.

Und dann muss man auch schon wieder loslassen, auf dass kommen möge, was kommen muss. Vielleicht die Sintflut. Beziehungsweise, in diesem Fall: die Hipsterflut.

mercedes-lauenstein

Schmerzen kennen keine Altersgrenze

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Das größte Zelt überspannt eine Fläche so groß wie ein Fußballfeld. Der Raum füllt sich mit dem Dampf der tanzenden Massen, und wenn ein Regenschauer auf die Plane prasselt, hört es niemand, weil die Boxen alles überdröhnen. Das „Lowlands“ ist eines der größten Festivals der Niederlande. 55000 Besucher drängen jedes Jahr zu den Bühnen, im vergangenen Jahr spielten hier Snoop Dogg, Mandio Diao und die Kaiser Chiefs. Nach zwei Stunden sind die Eintrittskarten meist schon ausverkauft.




Wendy Bax

Hier, mitten zwischen den feiernden Menschen, könnte man doch auch ein Zelt aufstellen. Wendy Bax, 29, findet die Vorstellung interessant: Die Leute würden reinkommen, denkt sie, vielleicht würden sie sich setzen. Ein Mitarbeiter würde sie unverfänglich in ein Gespräch verwickeln, sie nach ihrem Namen fragen. Irgendwann würde er das Gespräch auf das Thema lenken, um das es eigentlich gehen soll. Denn mit dem Zelt wollen Wendy und ihre Freunde ja Aufmerksamkeit schaffen für die eigene Sache. Die eigene Sache ist: der Tod.

Bis jetzt ist das nur eine Idee. Eine Idee, die seltsam wirkt, weil man sich nicht vorstellen kann, wie das zusammenpasst: Gespräche über den Tod und ein Festival – ein Ort, an dem junge Menschen feiern und es genießen, jung zu sein. Genau darum geht es aber: Zeigen, dass der Tod auch im Leben eines 20-Jährigen plötzlich zentral sein kann.

Die Idee stammt von „NVVE Jongeren“, einem Verein aus den Niederlanden, Wendy hat ihn gegründet. NVVE Jongeren ist die erste Sterbehilfe-Vereinigung für junge Erwachsene. So etwas gab es bisher nirgendwo – denn dass auch Jugendliche so unerträglich leiden, dass sie nur der Tod erlösen kann, ist ein Tabuthema. Bei schwerkranken Alten wird über einen Sterbewunsch zumindest gesprochen. Bei Jugendlichen wird er meistens ignoriert.
 
Wendy redet darüber. Es ist, wenn man so will, ihre letzte große Aufgabe. Wendy ist selbst unheilbar krank. Seit sie den Verein gegründet hat, bekommt sie viel Aufmerksamkeit: Niederländische Tageszeitungen druckten ihre Geschichte, auch eine Frauenzeitschrift interessierte sich für sie.
 
Sie trifft sich mit Journalisten meist in einem Café in einem Einkaufszentrum in ihrem Heimatort Lelystad, gut 40 Kilometer östlich von Amsterdam. Im Eck, vor der Tür zum Mitarbeiterraum, sitzt sie: eine junge Frau mit rosa-farbener Strickmütze, die einen kahl gewordenen Kopf verdeckt. Sie trägt eine Kette mit einem gläsernen Herzchen. Ihr Händedruck ist sanft, am Anfang spricht sie leise – als wolle sie nicht, dass die anderen Besucher des Cafés hören, worüber sie redet. Als hätte sie Angst, dass es die Leute verschreckt, wenn sie das Wort „Tod“ hören.

Wendy studiert noch, als sie 2008 krank wird. Sie ist ständig müde, das Bewegen schmerzt, das Liegen auch. Ihr Körper fühlt sich an wie aufgeblasen. Nach langer Suche finden die Ärzte schließlich den Grund: Veränderte Blutzellen und Tumore. Wachsende Tumore. Viel will Wendy nicht erzählen aus dieser Zeit und über die Details ihrer Krankheit. Die Erinnerungen sind zu schmerzvoll.

Auf einer Info-Veranstaltung für Sterbehilfe fragten sie Wendy: "Was willst du denn hier?"


Heute bekommt Wendy einen Medikamentencocktail, dessen Zusammenstellung nach wenigen Wochen immer wieder verändert wird. Wenn sie aufsteht und duscht, legt sie sich danach wieder hin. Wenn sie zur Toilette geht, muss sie sich danach eine halbe Stunde ausruhen.

Im Herbst 2011 erklären die Ärzte ihr, dass es für sie keine Therapie mehr gibt. Es dauert ein halbes Jahr, bis sie wirklich versteht, was das heißt. Irgendwann traut sie sich, mit einer Freundin darüber zu sprechen: Sie wolle sich informieren, wie man ein Leben freiwillig beenden kann.

In den Niederlanden gibt es dafür die „Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende“, kurz NVVE, eine Organisation mit 160 000 Mitgliedern, deren Durchschnittsalter bei 71 Jahren liegt. Die NVVE unterhält eine Beratungshotline, schickt Lobbyisten ins Parlament nach Den Haag. Es gibt sogar eine „Lebensende-Klinik“: ambulante Teams, die ins ganze Land ausrücken, um beim Schritt aus dem Leben zu unterstützen. Die NVVE organisiert regelmäßig öffentliche Treffen, bei denen Experten über die Rechtslage informieren.

Zu einem solchen Treffen geht Wendy Bax. Ihre Haare hat sie damals noch nicht verloren, nach außen scheint sie gesund. Solche Veranstaltungen finden meist in Hotels statt. Im Foyer bauen Mitarbeiter dann einen Informationsmarkt auf. Es gibt Beratungsstände, an denen man Hilfe beim Ausfüllen einer Patientenverfügung bekommt. NVVE-Mitglieder können sich für 37,50 Euro einen briefmarkengroßen Anhänger mit ihrem Foto, ihrem Namen und ihrem Geburtsdatum drucken lassen. Außerdem steht darauf ein kurzer Satz: „Reanimiert mich nicht.“ Wer diese Marke trägt, darf in einem Notfall nicht wiederbelebt werden.

„Ich fühlte den Druck, mich rechtfertigen zu müssen.“


Die Veranstaltungen sind für ältere Menschen ausgelegt. Am Nachmittag steht eine Präsentation auf dem Programm, nach einer Viertelstunden Pause läuft ein Dokumentarfilm über ein „erfülltes Leben“, es folgt ein Vortrag über Sterbehilfe und Demenz. Was Wendy nicht sieht: junge Menschen. Es sitzen ausschließlich Leute über 60 im Publikum. Und alle wundern sich, wenn sie Wendy sehen. „Was willst du hier?“, fragen sie. „Bist du lebensmüde? Du hast dein Leben doch noch vor dir!“

Noch am selben Abend, als sie zu Hause ankommt, reift bei Wendy die Idee, eine Jugendabteilung zu gründen. „Ich war nicht nur die einzige junge Besucherin“, sagt sie. „Ich fühlte auch den Druck, mich rechtfertigen zu müssen.“ Sie merkt: Wenn ein 70-Jähriger todkrank ist, braucht er sich für einen Sterbewunsch nicht zu erklären. Wenn das Leben einer 27-Jährigen dem Ende entgegengeht, wird ihr Todeswunsch nicht ernst genommen.

>>> In den Niederlanden können theoretisch auch Kinder Sterbehilfe bekommen.

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Als Wendy das erste Mal nach Amsterdam fährt, zum Sitz der NVVE, wird sie freundlich empfangen. Aber auch dort hat bis dahin noch niemand darüber nachgedacht, gezielt junge Menschen anzusprechen. Auch dort hat man den Wunsch nach einem geplanten Lebensende vor allem als eine Angelegenheit für Leute gesehen, deren Leben als abgeschlossen gilt. „Bei Jugendlichen geht man davon aus, dass alles noch kommt“, sagt Wendy. Sie erzählt von Ärzten, die Gespräche über Sterbehilfe bei jungen Leuten abbrechen und sagen: Vielleicht gibt es in zehn Jahren eine Behandlungsmethode. Die Frage ist: Wie soll ein Jugendlicher bis dahin durchhalten?





In den Niederlanden, wo Sterbehilfe bekommen kann, wer „aussichtslos und unerträglich leidet“, dürfen Ärzte nur Personen über 18 Jahren beim freiwilligen Lebensende helfen. Zwischen 12 und 17 Jahren müssen die Eltern einbezogen werden. Der Patient füllt ein Formular aus und bestimmt den Zeitpunkt. Ein zweiter, unabhängiger Arzt prüft, ob die Voraussetzungen erfüllt sind. Eine landesweite Kommission kontrolliert die Abläufe.

Im Nachbarland Belgien hat das Parlament im vergangenen Jahr die Altersgrenze für Sterbehilfe vollständig aufgehoben. Theoretisch können dort Kinder und Babys das Recht auf Sterbehilfe in Anspruch nehmen, wenn die Eltern zustimmen. Ein extremer Schritt, der damals weltweit viel Aufmerksamkeit erregte. Befürworter loben das Gesetz, weil sie nicht akzeptieren wollen, dass ein 17-Jähriger genauso leiden kann wie ein 18-Jähriger, aber keine Möglichkeit hat, Hilfe beim Sterben zu bekommen. Gegner finden, für eine solche Entscheidung brauche man eine gewisse Reife und Lebenserfahrung. Psychiater wollen das Alter, in dem das Gehirn solch weitreichende Entscheidungen abschätzen kann, auf 23 Jahre determiniert haben.

In Deutschland ist aktive Sterbehilfe verboten. Bei der Hilfe zum Suizid bewegen Ärzte sich in einer Grauzone. Die Bundesregierung plant zurzeit eine Reform dieses Gesetzes, lehnt aber eine offene Regelung wie in den Niederlanden oder Belgien ab.

Wendy sagt: Schmerzen kennen keine Altersgrenze. Und sie erzählt, dass viele der unheilbar kranken jungen Menschen, die sie in den vergangenen Monaten getroffen hat, deutlich älter und reifer wirken als Gleichaltrige. Vielleicht sogar reifer als manch älterer Erwachsener. Sie seien selbstsicherer, umsichtiger und willensstärker. Sie beschäftigen sich mit dem Tod, weil sie müssen. Deshalb findet Wendy es falsch, Gesetze zu verabschieden, die so tun, als könnten tödliche Krankheiten nur Körper über 18 befallen.

„Ich fand es schön, meine Beerdigung selbst planen zu können.“



In den Niederlanden haben im Jahr 2013 laut dem aktuellsten Bericht 4 829 Menschen Sterbehilfe bekommen. 73 davon waren jünger als 40. Das sind nur 1,5 Prozent aller Fälle, es ist aber die höchste Zahl, die bisher registriert wurde.

Wendy kennt diese Zahlen und viele persönliche Geschichten hinter den 1,5 Prozent. Seit die Jugendabteilung vor gut einem Jahr gegründet wurde, sind 2000 Menschen Mitglied geworden. Mit Dutzenden Jugendlichen hat sie seither gesprochen und oft dasselbe gehört: Es gebe keinen Ort des Austauschs für junge Todkranke. „Es kann ein sehr einsamer Prozess sein“, sagt Wendy. Bevor sie NVVE Jongeren gegründet hat, war sie zu oft alleine mit ihren Ängsten und Sorgen. In einer Silvesternacht lag sie weinend im Bett und übergab sich wegen der Nebenwirkungen der Medikamente, während ihre Freunde ins neue Jahr feierten.

In diesen Wochen trifft sie sich mit dem Kernteam ihrer Organisation, um den Sommer zu planen. Elf Leute sind das, gerade diskutieren die Idee, beim „Lowlands“-Festival im August ein Zelt aufzubauen. Seit Ende März organisieren sie Treffen, die anfangs „Death Cafés“ hießen und jetzt „Café Doodnormaal“ genannt werden – „Café Todnormal“. Sie reservieren an einem Freitagabend einen Tisch in einer Bar, um über Leben und Tod zu diskutieren. Im März war Wendy mit zehn Freiwilligen auf einem Lehrgang, um zu üben, wie man solche Gespräche führt: keine Freundschaften knüpfen, sondern Distanz einhalten. Empathisch auftreten, aber nicht bemitleidend.

Und Wendys eigener Tod? Sie lächelt. Sie hat eine Liste geschrieben mit Behandlungen, die sie nicht will. Maschinen sollen abgestellt werden, wenn sie ins Koma fällt; die Medikamente abgesetzt, wenn die Nebenwirkungen schmerzvoller werden als die Krankheit. Auch die Beerdigung sei schon geplant. Vielleicht klinge es merkwürdig, sagt sie, „aber ich fand es schön, das selbst planen zu können.“ Sie wünsche keinen Kaffee und Kuchen hinterher. Am Ende aber müsste ihre Familie einen Weg finden, wie sie am besten Abschied nehmen kann. „Ich bin ja nicht mehr dabei.“

Viertelkunde: Frankfurt

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 Diese Liste für Neumünchner erscheint im "Studentenatlas", ein Projekt von jetzt.de und SZ.de. Mehr Infos dazu findest du hier. Eine interaktive Frankfurt-Karte für Studenten findest du hier.


Nordend


Das bekommst du hier: die Berger Straße, auf der sich Clubs, Bars und Cafés aneinanderreihen; mit dem„Mampf“ die beste Jazzbar der Stadt; die meisten Studenten; kleine Ateliers, Bücherläden und Parks.
Das bekommst du hier nicht: ein tolerantes Ordnungsamt bei nächtlichen WG-Partys; wenig Mitbewerber für ein WG-Zimmer; ausreichend Abstellplätze für Fahrräder.
Durchschnittsmiete Nordend: 16,75 €/qm

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Bornheim


Das bekommst du hier: die"Bernemer Zeil", wie die Bornheimer die Obere Berger Straße und damit ihre alternative Einkaufs- und Flaniermeile zur großen Shoppingmeile in der Innenstadt nennen; mit dem Stadion des FSV Frankfurt am "Bornheimer Hang" die kleine, aber ebenso traditionsreiche und gelassenere Fußball-Alternative zur großen Eintracht; das Berger Kino, in dem man alle Filme abseits des Mainstreams sehen kann; Studenten, Studenten, Studenten.
Das bekommst du hier nicht: Ruhe; Nähe zu Hauptbahnhof und Flughafen; gelassene Politiker, die anstatt nach Modernisierung zu streben das Viertel so belassen wollen, wie es ist; einen Park, den man sich nicht mit einem anderen Viertel teilen müsste (Ihren Park "müssen" sich die Bornheimer mit den Bewohnern aus dem Nordend teilen).
Durchschnittsmiete Bornheim: 13,18 €/qm

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Westend


Das bekommst du hier: mit die teuersten, aber auch schönsten Wohnungen in ganz Frankfurt; Gentrifizierung at it's best; junge Familien, Nähe zum Uni-Campus.
Das bekommst du hier nicht: abgeranzte Bars; bezahlbaren Wohnraum; besetzte Häuser wie in den sechziger und siebziger Jahren.
Durchschnittsmiete Westend: 16,92 €/qm

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Altstadt / Innenstadt


Das bekommst du hier: das Mainufer; das Bankenviertel; mit der „Zeil“ eine der berühmtesten Einkaufsstraßen Deutschlands; einige der namhaftesten Bars und Clubs der Stadt in Fußweite; viele Touristen; teuren Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt am Römer.
Das bekommst du hier nicht: Parkplätze; Ruhe; schöne Grünanlagen und Parks; etwas, das nicht Mainstream ist.
Durchschnittsmiete Altstadt/Innenstadt: 17,96 €/qm

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Bockenheim


Das bekommst du hier: den früheren, mittlerweile fast aufgelösten Haupt-Campus der Uni; viele kleine Theaterbühnen; das größte Multi-Kulti-Angebot in Frankfurt; die größten und tollsten Tapas ( im „Latablarasa“)
Das bekommst du hier nicht: Snobs; Banker; den Main; Ruhe vor Messebesuchern.
Durchschnittsmiete Bockenheim: 13,55 €/qm 

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Gallusviertel


Das bekommst du hier: einen Penny-Supermarkt (an der Mainzer Landstraße), der dem verrücktesten und berühmtesten Lidl Deutschlands auf St. Pauli an manchen Abenden sehr, sehr nahe kommt; genügend Büdchen für Feierabendbier und Currywurst; Arbeiterviertel-Atmosphäre; noch relativ günstige Wohnungen; das Bahnhofsviertel mit all seinen Schön- und Schäbigkeiten
Das bekommst du hier nicht: kurze Wege zur Uni; Neubauwohnungen, frische Luft
Durchschnittsmiete Gallusviertel: 14,09 €/qm 

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Sachsenhausen


Das bekommst du hier: vom Goetheturm aus den besten Blick auf die Skyline; die gemütlichsten Weinstuben der ganzen Stadt; Fluglärm; alte Menschen;
Das bekommst du hier nicht: schnelle Verbindungen zur Uni; ausreichend WG-taugliche Wohnungen; ein gutes Bier.
Durchschnittsmiete Sachsenhausen: 15,86 €/qm


(Quelle Mietpreise)


Macho-Google

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Kann man ewig weitertreiben, das Spiel: Gibt man Babysitter ein, kommen nur Frauen. Gibt man Reinigungskraft ein – nur Frauen. Gibt man Sekretärin ein: Nur Frauen. Na gut, das macht das ‚-in’ hinterm Namen. Aber gibt man zum Beispiel Sekretär ein, kommt nicht etwa ein freundlicher Empfangsherr, nein, es kommen MÖBELSTÜCKE! In der Google-Welt gibt es keine männlichen Sekretäre.

Aber wir wollen hier gar nicht so auf die Kacke hauen. Nur ein bisschen nacherzählen, was die Universität Washington neulich untersucht hat. Genau diese Frage nämlich: ob Google einem etwas über die Gender-Stereotypen der Gesellschaft verraten kann. Kann es. Tendenziell. Aber, das hat die Studie auch zutage gebracht, Google fördert diese Klischees sogar noch - unter den Suchergebnissen für CEO finden sich unter 100 Treffern gerade einmal elf Frauen, während die tatsächliche Prozentzahl der Frauen in Chefetagen bei etwa 27 Prozent liegt. Mei, was soll Google jetzt auch punktgenau in der Bildersuche die genauen Statistiken abbilden können, kann man sich jetzt fragen. Stimmt. Wär aber doch schon wichtig, sagen die Forscher, denn eventuell beeinflussen genau solche feinen Unterschiede in den Google-Ergebnissen sehr stark die Wahrnehmung der Nutzer. Und fördern überkommene Geschlechterklischees. Leuchtet ein. Kann man mal drüber nachdenken.

Und das hier sind unsere eigenen Testergebnisse:

CEO:





Arzt:





Reinigungskraft:





Sekretär:





Sekretärin:





mercedes-lauenstein

Es wird eng

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Foto: Juri Gottschall

Ich fahre nicht gern Aufzug. Bis ich anfing zu arbeiten, habe ich möglichst selten einen betreten, dann plötzlich täglich. Ich nehme das hin, so eine Fahrt zwischen fünf und 30 Sekunden ist ja zu kurz, um sich richtig unwohl zu fühlen. Aber lang genug, um sich ein bisschen unwohl zu fühlen. Irgendwas ist besonders im Aufzug. Man verhält sich anders, spricht anders, die Atmosphäre ist anders.
Den Aufzug gibt es erst seit etwa 160 Jahren. Er ist das einzige Transportmittel, das Menschen in der Vertikalen befördert, ein beengter Raum, den man oft mit Fremden teilt. „Es gibt wahrscheinlich kaum einen anderen Ort, an dem Anonymität und Intimität so zusammenkommen“, sagt Professor Andreas Bernard, der seine Promotion über die „Geschichte des Fahrstuhls“ verfasst hat.

Was passiert mit den Menschen, wenn sie Aufzug fahren? Gibt es bestimmte Aufzug-Verhaltensweisen? Einen Aufzug-Knigge? Ein spezielles Aufzug-Gespräch oder einen typischen Aufzug-Witz? Und wenn ja: Unterscheiden sie sich je nach Gebäude, in dem sich der Aufzug befindet? Je nach Zusammensetzung der Fahrgäste?

Um das herauszufinden, muss man länger mitfahren als fünf bis 30 Sekunden. Rauf und wieder runter und wieder rauf und wieder runter. In verschiedenen Aufzügen. Ich will das machen. Und suche mir drei aus, in denen ich jeweils etwa zwei Stunden verbringe:

1. Der SZ-Aufzug
Im Gebäude des Süddeutschen Verlags, 27 Stockwerke hoch, gibt es sechs Aufzüge, in jeden passen etwa 20 Menschen. In das Gebäude und in die Aufzüge darf nicht jeder rein. Deshalb fahren hier oft Kollegen oder vom Sehen Bekannte zusammen.

2. Der Aufzug im Kreisverwaltungsreferat München
Menschen gehen hier ins Bürgerbüro oder aufs Standesamt, sie melden Adressen um oder treten aus der Kirche aus. In der Mitte der offenen Eingangshalle gibt es zwei gläserne Aufzüge, aus denen man in die Halle und links und rechts in die Flure schauen kann. Ein öffentlicher Raum, jeder kann herkommen.

3. Der Olympiaturm-Lift
Der Olympiaturm in München ist ein beliebtes Ziel für Touristen, um auf die Stadt und die Berge zu schauen. Zwei Aufzüge für jeweils 30 Personen fahren mit sieben Metern pro Sekunde zur Aussichtsplattform auf 185 Metern Höhe. Mit einem Aufzugführer.

Der Raum
Der erste Mensch, den ich beim Aufzugfahren beobachte, bin ich selbst, im SZ-Hochhaus. Mir fällt auf: Ich stehe gern hinten links in der Ecke. Ich schaue mir an, wie sich zusteigende Fahrgäste bewegen. Jeder scheint mit dem Rücken zur Wand stehen zu wollen. Ein junger Mann macht einen Schritt in den Lift und dockt dann mit einer eleganten Drehung in der anderen Ecke an, mir gegenüber. Eine Frau lehnt sich daneben an die Wand.

Zur Mittagszeit werden die Aufzüge voll. Alle versuchen, einen Wandplatz zu ergattern. Es ist ein bisschen wie im Schulbus, nur mit etwas weniger Gedrängel. Wer es nicht schafft, muss in der Mitte stehen und dreht sich sofort mit dem Gesicht zur Tür. Deswegen bin ich später im Olympiaturm- Lift kurz irritiert: Herr Schell, der Aufzugführer, wendet seinen Fahrgästen das Gesicht zu. Ich fühle mich beobachtet, obwohl er leicht schräg an die Decke schaut.

Andreas Bernard erzählt mir von Erving Goffman, einem US-Soziologen, der in den Siebzigerjahren ebenfalls Menschen in Aufzügen beobachtet hat. „Er hat gesehen, dass es im Aufzug ein immergleiches Gesetz der Verteilung gibt“, sagt Bernard. „Der Erste bewegt sich frei, der Zweite stellt sich diagonal zu ihm, der Dritte und der Vierte in die dritte und vierte Ecke, der Fünfte in die Mitte. Danach wird es schwierig.“ Heißt: Es wird eng.

Die Intimität
Die Proxemik, eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Distanz zwischen Individuen beschäftigt, hat die Abstände definiert, die wir anderen gegenüber einhalten, um uns wohlzufühlen. Die „persönliche Distanz“, zum Beispiel in einem Gespräch, liegt bei 45 bis 120 Zentimetern, die „Intimdistanz“ bei unter 45 Zentimetern. Im Aufzug können beide leicht unterschritten werden.

[seitenumbruch]

„Intim“ ist ein Wort, das gut zum Fahrstuhl passt. Fast alle Aufzüge, die ich benutze, sind verspiegelt, sodass ich mich sehr auf mich selbst zurückgeworfen fühle, wenn ich allein bin. Meistens richte ich meine Frisur aber wende sofort den Blick vom Spiegel ab, wenn die Fahrt stoppt. Ich will ja nicht eitel wirken.
Der Moment, bevor die Tür aufgeht, ist seltsam. Wer wird dahinter sein? Ungefähr so müssen sich die Teilnehmer in der Fernseh-Flirtshow „Herzblatt“ gefühlt haben. Was danach kommt, ist allerdings das Gegenteil von Flirten: Jeder versucht, den Blickkontakt zu vermeiden. Ich starre meistens auf die Stockwerkanzeige. Im SZ-Aufzug gibt es einen Bildschirm, auf dem die Nachrichten durchlaufen vermutlich nur, damit man einen Fixpunkt hat. Im Kreisverwaltungsreferat lesen viele das Infoschild, auf dem steht, was sich in welchem Stockwerk befindet. Sie lesen es hochinteressiert und viel zu lang.

„Das sind Übersprungshandlungen“, sagt Andreas Bernard. „Man muss die peinliche Situation überspielen.“ Denn das Gefühl, das einen im Fahrstuhl so beklemmt, ist vor allem: Scham. In seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus dem Jahr 1903 schreibt der Soziologe Georg Simmel über die damals ganz neue Kulturleistung des Menschen, in der Großstadt zu leben: Auf dem Land lebte man in Ruhe und im kleinen Kollektiv, in der Stadt aber herrscht ständige Reizüberflutung und Anonymität; um das nervlich stemmen zu können, musste man zwangsweise abstumpfen, sich abschotten und hörte am Ende auf, die Nachbarn zu grüßen. Daraus hat sich entwickelt, was wir heute jeden Tag sehen: Wir sitzen in der S-Bahn oder im Bus mit unzähligen fremden Menschen eng beieinander und trotzdem ist jeder für sich. Wir lesen Zeitung, sehen aus dem Fenster oder auf unsere Handys. Das ist ganz normal. Aber im Aufzug: zu kurz die Fahrt, um etwas zu lesen, kein Fenster da und meistens auch kein Handyempfang. Dort sind wir irritiert von der Nähe und versuchen, uns „in einer Begegnung möglichst nicht zu begegnen“, wie es in einem Artikel im Manager Magazin über das Aufzugfahren heißt.

Im Olympiaturm-Aufzug ist es am einfachsten, die Situation zu überspielen. Zum einen gibt es eine Ansage vom Band, die Details zum Turm und zum Olympiapark erklärt. Das lenkt ab. Zum anderen ist da der Druck auf den Ohren. Viele stöhnen gemeinsam auf, wenn der Aufzug bremst. Menschen, die sich gleichzeitig die Nase zuhalten, grinsen sich an. Der Ohrendruck verbindet die Fahrgäste, die sowieso schon mehr miteinander verbunden sind als anderswo: Sie alle machen einen Ausflug, sie haben alle das gleiche Ziel.
Auf dem Amt ist das anders. Von allen Orten, an denen ich den Aufzug nutze, gibt es dort die irritierendsten Situationen. Die, die wirklich gleichzeitig anonym und intim sind. Zum Beispiel, als eine Frau und drei Männer einsteigen. Sie sind chic angezogen und reden leise auf Türkisch miteinander. Die Frau riecht nach Parfüm und Zigaretten und hat eine Traube heliumgefüllter Herzluftballons dabei, die kaum in den Aufzug passt. Der jüngste der Männer nestelt an seinem Sakko herum, der älteste drückt die Fünf. Auf dem Infoschild steht: „5. OG: Referatsleitung; Trausäle“.

Irgendwann später kann ich riechen, dass die Gruppe wieder runtergefahren sein und ich sie verpasst haben muss der Geruch von Parfüm und Zigaretten hängt in der Luft. Irgendjemand ist jetzt verheiratet, und ich war fast dabei.

Die Gespräche
Dass wir das Nicht- Kommunizieren in Verkehrsmitteln erst lernen mussten, dazu kann Andreas Bernard eine Anekdote erzählen, von einem Onkel aus Niederbayern, der in den Sechzigerjahren nach München kam. „Er hat es nicht ausgehalten, stumm Straßenbahn zu fahren er hat jeden begrüßt.“ Im Aufzug wird man schnell zum Onkel aus Niederbayern: Keiner würde Hallo und Tschüss sagen, wenn er Tram fährt, aber im Lift scheint das Grüßen ein ungeschriebenes Gesetz zu sein. Sogar im Aufzug auf dem Amt, in dem ansonsten viel geschwiegen wird und wo die Menschen sehr bei sich sind: Paare reden leise miteinander („Es gab übrigens keinen Blumenkohl mehr …“), maximal fragt jemand, wo denn das Geburtenbüro sei. Aber meistens: Stille.

In den anderen Aufzügen wird immer wieder versucht, diese Stille zu durchbrechen. Je länger ich fahre, desto besser kann ich mit der Situation spielen. Am Nachmittag stehe ich mit einem Kaffee im SZ-Lift, mir gegenüber ein älterer Herr. Ich schaue ihn kurz an. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Endlich reagiert er. „Käffchen, damit der Motor nicht stottert?“, fragt er. Wir lachen. Sobald jemand etwas sagt, und sei es auch Nonsens, ist das unfassbar erleichternd. Wie Durchatmen.

„Das grundsätzliche Temperament der Leute zeigt sich im Fahrstuhl ganz klar“, sagt Andreas Bernard. „Wer ruhig ist, zieht sich zurück. Wer extrovertiert ist, dreht auf.“ Der Fahrstuhl sei eine Art soziale Experimentiermaschine: „Sag mir, wie du dich im Fahrstuhl verhältst, und ich sage dir, wer du bist.“ Wenn die SZ-Fahrstühle voll sind, kann man das gut beobachten. Die einen schweigen, die anderen werden zu Unterhaltern und machen naheliegende Witze: „Nehmen Sie mich noch mit?“ Sie scherzen über den vollen Aufzug, über das Essen in der Kantine, über Berufliches. Und sie -sprechen dabei sehr laut. Sie beziehen alle mit ein und schaffen eine Kurzzeit-Gemeinschaft. Meistens macht es das leichter, die Sekunden in der engen Kiste auszuhalten.

Herr Schell, der Aufzugführer im Olympiaturm, beobachtet seit drei Jahren die Fahrgäste hier. Er ist also Experte für Aufzug-Gespräche und -Scherze. Typische Fragen: „Wie oft am Tag fahren Sie?“ oder „Macht Ihnen das noch etwas aus?“ Die Italiener, sagt Schell, zählen oft laut die Höhenmeter mit, warum ausgerechnet sie, weiß er nicht. Studenten reden generell viel, über die Uni meist. Eltern sagen ihren Kindern mit Ohrendruck laufend: „Du musst schlucken, schluuucken!“ Und Schüler in Gruppen tun beim Anhalten gern so, als müssten sie sich übergeben. Sie finden das witzig und wollen natürlich, dass alle sie dabei sehen.

Und dann noch die Angst
Wie gesagt: Ich fahre nicht gern Aufzug. Das geht vielen so, die Enge macht’s, das Eingesperrtsein. „Die Klaustrophobie ist erst mit dem Fahrstuhl entstanden“, sagt Andreas Bernard. „1879 wurde sie zum ersten Mal beschrieben und war sofort an den Fahrstuhl gebunden.“
Vielleicht muss man sich einfach damit konfrontieren. Denn nachdem ich mehrere Stunden in Aufzügen herumgestanden habe, fühle ich mich darin wohler. Sicherer. Ich habe das Gefühl, diesen seltsamen Nicht-Ort besser zu verstehen und besser einschätzen zu können. Das merke ich, als ich auf einer Aufzugfahrt in die Kantine auf und ab springe, um den anderen zu zeigen, wie der Fahrstuhl dann schwankt. Mir macht das Spaß. Aber mein Chef, der hat Angst.
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