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Der Aufklärer

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Foodwatch-Gründer Thilo Bode streitet gern, Berührungsängste kennt er dabei nicht. Zu den Gegnern, die Deutschlands bekanntester Aktivist ins Visier nimmt, zählen stets die Großen und Mächtigen. Auch der frühere Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, hat damit seine Erfahrungen gemacht. Der dürfte nach dieser Konfrontation wenig Freude daran haben, nicht nur als Banker, sondern auch als Hungermacher in Erinnerung zu bleiben. Dieser uncharmante Beiname haftet Ackermann an, seit Foodwatch vor gut vier Jahren die umstrittene Rolle der Banken als Spekulanten an den Agrarmärkten beleuchtete und dabei neben anderen vor allem die Deutsche Bank und deren Chef in den Blick nahm.



"Ich bin ein Anhänger des fairen Freihandels, trotzdem bin ich gegen TTIP", sagt Thilo Bode. Für sein neues Buch hat er in den vergangenen Monaten viel mit Wirtschaftsvereinen diskutiert. Die machten ihn noch wütender.

Bode ist die treibende Kraft hinter Foodwatch. Der frühere Greenpeace-Chef hat die unabhängige Verbraucherorganisation 2002 gegründet. Seitdem nimmt er den Lebensmittelsektor kritisch unter die Lupe und mischt sich immer wieder in die Politik ein. Vehement hat er für die sogenannte Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln in der Europäischen Union gekämpft. Sie sollte es Verbrauchern möglich machen, Dickmacher und andere ungesunde Lebensmittel leicht an der Verpackung zu erkennen. Am Ende hat er verloren, doch das Votum im EU-Parlament gegen die Ampel war denkbar knapp. Für den bekennenden Weltverbesserer war die Niederlage trotzdem auch irgendwie ein Erfolg, seitdem nehmen sie ihn ernst in Brüssel und Berlin – und die Zahl der Foodwatch-Mitglieder, die mit ihrem Beitrag die Arbeit der Organisation finanzieren, hat deutlich zugenommen.

Da schien es nur eine Frage der Zeit, bis er auch das heftig diskutierte Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der Europäischen Union entdeckte. Er selbst bezeichnet sich als Spätzünder bei diesem Thema. Zunächst habe er nicht so viel auf die ersten Proteste gegeben, gibt er zu. „Ich bin Ökonom, Freihandel ist für mich erst einmal eine gute Sache.“ Bode hat Volkswirtschaft und Soziologie in München und Regensburg studiert. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit Direktinvestitionen in Entwicklungsländern beschäftigt.

Anfang 2014 seien ihm dann doch Zweifel gekommen, und er habe sich eingearbeitet, sagt er. In dieser Zeit hätten sich auch die Nachfragen von Foodwatch-Mitgliedern gehäuft. „Wir haben festgestellt, dass es einen riesigen Aufklärungsbedarf gibt“.

Zusammen mit dem Journalisten Stefan Scheytt hat er sich an die Arbeit gemacht. Sie haben in Brüssel und Berlin recherchiert, mit Handelsexperten, Juristen, Befürwortern und Gegnern gesprochen, die verfügbaren Verhandlungspapiere analysiert und Anfragen an die Bundesregierung verschickt. Das Ergebnis haben sie in einem Buch zusammengefasst, das soeben erschienen ist.

Dass TTIP und seine Macher dabei nicht gut wegkommen, dürfte nicht überraschen, darauf weist bereits der Titel hin: „Die Freihandelslüge: Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet.“ Die „Transatlantic Trade and Investmentpartnership“, so der offizielle und sperrige Titel des Abkommens, ist ein komplexer Stoff, der in dem Buch allgemein verständlich erklärt wird. Neben den bekannten Streitpunkten wird beschrieben, was sich in den vergangenen Monaten vor und hinter den Kulissen der Gespräche abgespielt hat – und wie sich die anfangs leise Kritik zu einem lauten Proteststurm gegen das Abkommen entwickeln konnte.

Immer mehr Menschen in Deutschland bezweifeln, dass sie von einem transatlantischen Abkommen profitieren werden. Einer neuen Emnid-Umfrage zufolge, die Foodwatch in Auftrag geben hat, halten nur noch 39 Prozent der Deutschen TTIP für eine gute Sache, 40 Prozent befinden es für schlecht. Die Zustimmung ist in den vergangenen Monaten deutlich gesunken. Als Meinungsforscher dieselbe Frage im Oktober stellten, lagen die Befürworter noch bei 48 Prozent und im Februar 2014 gar bei 55 Prozent. „Je mehr die Leute wissen, umso weniger hat das Abkommen eine Chance“, meint Bode.

Dabei habe er eigentlich gar nichts gegen Freihandel einzuwenden, betont er. An dieser Grundhaltung habe sich durch das Buch nichts geändert. „Ich bin ein Anhänger des fairen Freihandels, trotzdem bin ich gegen TTIP.“ Das klingt zunächst nach einem Widerspruch, der für ihn aber keiner ist. „Was hier passiert, hat mit Freihandel wenig zu tun. Hier geht es um ein Abkommen, bei dem die Interessen der Konzerne gesetzlich verankert werden sollen, und das erschüttert die Grundlagen unserer Demokratie.“

In den vergangenen Monaten hat Bode viel diskutiert, auch mit Vertretern der Wirtschaft. Das habe ihn nur noch mehr gegen das geplante Bündnis eingenommen, meint er. „Wütend macht mich, wie die Befürworter Vorteile aufbauschen und Risiken kleinreden.“ Er ist sich sicher: „Wir, die Bürger, werden wenig zu sagen haben, wenn das beschlossen wird.“ Deshalb könne man nicht einfach abwarten, bis ein Vertrag fertig auf dem Tisch liege. Damit spielt er auf die Tatsache an, dass ein Abkommen, wenn es erst einmal ausgehandelt ist, nur als Ganzes von Parlamenten und Länderregierungen angenommen oder abgelehnt werden kann, Änderungen wären dann nicht mehr möglich.

Im Gegensatz zu manch anderen lauten TTIP-Gegnern kann man Bode eine Expertise in Sache Freihandel nicht absprechen. Er kennt die Wirtschaft aus unterschiedlichsten Perspektiven. Ende der Siebzigerjahre arbeitete er als Projektmanager für die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Danach war Bode für ein paar Jahre in führender Position bei einem Düsseldorfer Metallunternehmen tätig und dort für die Auslandstöchter zuständig. Bis er schließlich 1989 die Seite wechselte, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland wurde und sechs Jahre später an die Spitze der internationalen Dachorganisation rückte.

Für die KfW setzte er Entwicklungshilfeprojekte in Nordafrika um. „Ich habe dort den Freihandel gegen Kritiker verteidigt, die es auch zu dieser Zeit schon reichlich gab.“ Viele hätten den internationalen Handel mit der „Ausbeutung durch Imperialisten“ gleichgesetzt. Ein Pauschalurteil, über das sich Bode heute noch ärgern kann. Er ist überzeugt, dass eine arbeitsteilige Weltwirtschaft Vorteile für alle haben kann. Die Schattenseiten des internationalen Handels waren aber schon damals nicht zu übersehen. „In der Praxis habe ich erlebt, wie die überzeugende Theorie des Freihandels durch Macht und nationale Interessen beschädigt wird.“ So werde es etwa Tunesien bis heute durch Handelsschikanen schwer gemacht, Olivenöl in die EU zu exportieren, weil das den Interessen der europäischen Öllieferanten Spanien oder Italien zuwiderläuft. Stattdessen bekomme Tunesien Entwicklungshilfe für Bewässerungsanlagen, um Weizen anzubauen, der für dieses Klima nicht geeignet ist.

Für Bode ist solches Verhalten Verrat an der Freihandelsidee – und den wirft er auch den amerikanischen und europäischen TTIP-Verhandlern vor. Stutzig gemacht habe ihn ein Satz aus dem zunächst geheim gehaltenen Verhandlungsmandat, das die Regierungen der EU-Länder der Kommission gaben. „Dort steht, dass Investoren durch TTIP das ‚höchstmögliche Maß an Rechtsschutz und Rechtssicherheit‘ gewährt werden soll“, so Bode. Von Pflichten sei dagegen nicht die Rede. „Dass Bürger und die Zivilgesellschaft ebenfalls ein Recht darauf haben, dass ihre Interessen gewahrt werden, davon steht nichts im Mandat“, kritisiert er.

Die Menschen seien sensibilisiert, spätestens seit der Diskussion um das Chlorhühnchen wisse jeder, dass das Abkommen auch den Lebensmittelbereich stark tangieren werde. Dass führende Politiker wie die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström gebetsmühlenartig wiederholen, dass europäische Standards keinesfalls gesenkt würden, findet Bode geradezu beunruhigend. Damit würden die jetzigen Standards quasi festgeschrieben, kritisiert er.

„Von Verbesserungen spricht niemand, dabei sind unsere Lebensmittelstandards nicht automatisch gut oder gar besser als die der USA“, sagt Bode. So gebe es nach wie vor keine transparenten Herkunftsangaben für Fleischprodukte in der EU. In den USA stemme sich die Lebensmittelindustrie mit aller Macht gegen eine Gentechnik-Kennzeichnung. „Ginge es wirklich um freien Handel für alle, dann müssten lückenlose Angaben über die Herkunft und Herstellung der Zutaten klar und deutlich auf der Verpackung stehen. Doch darüber reden die Verhandler erst gar nicht.“

Die wohl wichtigste Frage bleibt für den Buchautor Bode nach den intensiven Recherchen aber nach wie vor offen: „Warum lassen sich unsere Volksvertreter durch ein Freihandelsabkommen in ihren demokratische Rechten so sehr einschränken?“

37 Körperverletzungen am Tag

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Als am vergangenen Freitagabend am Stuttgarter Bahnhof Bad Cannstatt die S 1 aus Herrenberg einfuhr, war es bereits zu spät. In dem Zug saßen Fans des VfB Stuttgart, die zum Spiel gegen Hertha BSC fuhren. Auf dem Bahnsteig standen Hertha-Fans und mit ihnen befreundete Anhänger des Karlsruher SC. Als sie von der Polizei in den Zug gedrängt wurden, stießen sie dort auf die Stuttgart-Fans – eine Begegnung, bei der man nicht dabei gewesen sein will. Die Stimmung im Wagen sei „extrem aggressiv“ gewesen, berichten Fahrgäste hinterher. Das Ergebnis der kurzen Fahrt zum nächsten Bahnhof: ein verdreckter und demolierter S-Bahn-Wagen – sowie mehrere völlig verängstigte Pendler, die so eine Situation nie wieder erleben wollen. Ihr einziges Glück dabei: Die wirklich gewalttätigen Ausschreitungen rund um dieses Spiel fanden an diesem Abend nicht in der S-Bahn statt, sondern auf offener Straße.



Besprühte S-Bahn in Berlin: Die Zahl der Graffiti-Sprühereien ist vor allem während des Lokführerstreiks im Herbst 2014 gestiegen.

Für Gerd Neubeck, Sicherheitschef der Deutschen Bahn, ist das jedoch nur ein schwacher Trost. Insgesamt sei Bahnfahren zwar eine sehr sichere Angelegenheit, sagte er am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung des jährlichen Sicherheitsberichts des Konzerns. So sei die Wahrscheinlichkeit, im Zug oder am Bahnhof Opfer einer Körperverletzung zu werden, deutlich geringer als im allgemeinen öffentlichen Raum. Trotzdem ärgert sich Neubeck natürlich über jede einzelne Tat. Vor allem über die immer wieder eskalierende Randale von Fußballfans – und noch mehr über die zum Teil nonchalante Haltung der dazugehörigen Clubs. „Dabei wäre das Problem ganz leicht zu lösen“, sagt Neubeck. Wer auch immer eine Großveranstaltung initiiere, bei der in der Regel viel Alkohol im Spiel sei, etwa ein Fußballspiel, ein Volksfest oder ein Popkonzert, der könnte Busse chartern oder spezielle Züge und so dafür sorgen, dass die Besucherströme getrennt von anderen Fahrgästen anreisen könnten. „Dann wäre alles kanalisiert und sicher.“ Doch häufig sehen sich die Veranstalter gar nicht in der Verantwortung.

Insgesamt ist die Zahl der Körperverletzungen, die in Zügen oder an Bahnhöfen begangen wurden, 2014 erneut um sieben Prozent auf 13650 Fälle zurückgegangen. Im Schnitt kam es täglich 37 mal zu einer Körperverletzung – und das bei 7,5 Millionen Fahrgästen pro Tag. Zum Vergleich: In Niedersachsen mit seinen ebenfalls 7,5 Millionen Einwohnern gebe es täglich 145 Körperverletzungsdelikte, sagte Neubeck. Auch die Buntmetalldiebstähle und der Vandalismus gingen im vergangenen Jahr zurück. Angestiegen dagegen ist die Zahl der Graffiti-Sprühereien, und zwar vor allem im Oktober und November, als viele Züge wegen mehrerer Streiks der Lokomotivführer längere Zeit stillstanden. „Beim ersten Streik hat es ganze zehn Minuten gedauert, da hatten wir schon das erste Graffiti“, sagte Neubeck. Insgesamt entstand der Bahn durch die Sprayer ein Schaden von gut acht Millionen Euro.

Mit Sorge sieht Neubeck auch, dass die Zahl der Übergriffe gegen das Bahnpersonal erneut gestiegen ist. 1500 Mal kam es im vergangenen Jahr zu einer Aggression gegenüber Mitarbeitern der Deutschen Bahn – ein Anstieg um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Meist seien die Kollegen von DB Sicherheit betroffen oder Zugbegleiter, die die Fahrkarten kontrollierten. Sie würden angespuckt, geschlagen oder gestoßen. Das sei ein Phänomen, das auch die Polizei, Mitarbeiter von Jobcentern oder Bürgerämtern zunehmend beobachteten: „dass ein Mensch völlig unvermittelt ausrastet und gewalttätig wird“. Neubeck hält es für eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, dieses Problem in den Griff zu bekommen. „Wir müssen uns fragen, warum ist das so und was können wir dagegen tun?“

Flirt mit dem Feind

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Das Vorgehen ist auch für Washingtoner Verhältnisse grob: Inmitten heikler internationaler Verhandlungen wird der amtierende Präsident vom eigenen Parlament hintertrieben. 47 republikanische Senatoren haben der Führung Irans am Montag in einem Brief von jedem Einlenken im Atomstreit abgeraten. Ein allfälliges Abkommen mit Präsident Obama sei ohne Zustimmung des Kongresses nur temporär, könne nachträglich vom Parlament verändert oder von Obamas Nachfolger „mit einem Federstrich“ aufgehoben werden, schreiben die Volksvertreter. Mit diesem Präsidenten, so die implizite Botschaft, lohnt sich keine Einigung.
Das Weiße Haus reagierte scharf. Nie in seinen 36 Jahren im Senat habe er Vergleichbares erlebt, teilte Vizepräsident Joe Biden schriftlich mit. Dass eine Gruppe von Senatoren sich direkt an ein anderes Land wende, an einen „langjährigen Widersacher“ noch dazu, dass sie die Autorität des Präsidenten infrage stellten, das sei präzedenzlos und „unter der Würde“ der Institution: „Dieser Brief gefährdet die Handlungsmacht jedes künftigen amerikanischen Präsidenten, egal ob Demokrat oder Republikaner.“

Obama selber behalf sich mit Sarkasmus. Es sei „etwas ironisch“, dass die Republikaner nun gemeinsame Sache mit iranischen Hardlinern machten. „Das ist eine unübliche Koalition.“ In Iran wettern vor allem ultrakonservative Kriegstreiber gegen jeden Kompromiss mit den USA.



Obama übt Kritik an der unüberlegten Handlung der Republikaner

Das Schreiben der Republikaner markiert einen neuen Höhepunkt im inneramerikanischen Streit über den richtigen Umgang mit Teheran. Falken aus beiden Parteien kritisieren Obamas Bemühen um eine diplomatische Lösung schon seit Monaten als verfehlt. „Schurkenstaaten“ gehörten bestraft, nicht angehört: Der Präsident begehe einen Fehler, wenn er sich mit einem Regime zusammensetze, das Israel von der Landkarte tilgen wolle und den Besitz von Nuklearwaffen anstrebe. Mehrmals haben einflussreiche Stimmen im Senat gedroht, die laufenden Gespräche über eine Beschränkung des iranischen Atomprogramms mit neuen Sanktionen zu stören. Obama hat vor einem solchen Schritt gewarnt und sein Veto in Aussicht gestellt.

  Mit ihrem Brief an Iran hat die konservative Fraktion des Senats nun doch noch ein Störfeuer gezündet und am Präsidenten vorbei operiert. Verfasst hat das Schreiben der derzeit jüngste Abgeordnete der kleinen Kammer, der 37-jährige Tom Cotton aus Arkansas. Er ist vergangenes Jahr mit Unterstützung der rechtskonservativen Tea-Party-Bewegung in den Senat gewählt worden. Cotton sieht nichts Unerhörtes in seinem Vorgehen: „Präzedenzlos ist, dass ein amerikanischer Präsident ein Nuklearabkommen mit dem weltführenden Sponsorstaat des Terrorismus aushandelt, ohne den Kongress miteinzubeziehen“, sagte er dem Sender CNN. Er habe die Iraner mit seinem Brief über die Feinheiten des amerikanischen Systems aufklären wollen.

Ob Cotton der richtige Mann für einen Fernkurs in Verfassungsrecht ist, wird allerdings in Zweifel gezogen. „Der Brief enthält mehrere unkorrekte Aussagen darüber, wie die Dinge laufen“, sagte eine Sprecherin des Außenministeriums. Das Weiße Haus sei absolut berechtigt, ein dauerhaftes Abkommen mit Iran zu schließen; der Kongress könne dessen Bedingungen nicht nachträglich ändern. Sieben der 54 Republikaner des Senats haben das Schreiben nicht unterzeichnet. Und es wird bereits die Frage laut, ob Cotton mit seinem Brief nicht selber US-Gesetze verletzt habe. Der Logan Act von 1799 verbietet es „unbefugten Personen“, mit ausländischen Regierungen zu verhandeln.

Bisher blieb Kritik an der internationalen Politik des Präsidenten in Washington. Eigene Verhandlungen des Parlaments sind tabu. Doch nun scheint der republikanisch dominierte Kongress seine Lust an direkter Außenpolitik zu entdecken. Vergangene Woche weilte der um Wiederwahl kämpfende israelische Premierminister Benjamin Netanjahu in Washington und durfte vor dem Kongress über die Risiken eines Abkommens mit Iran sprechen. Netanjahu war vom Sprecher des Repräsentantenhauses und ohne das Wissen des Weißen Hauses eingeladen worden. Der Besuch hat das sonst so solide israelisch-amerikanische Verhältnis belastet.

Der Brief ist nun bereits die zweite Brüskierung des Präsidenten durch die konservative Mehrheit des Parlaments. Die Regierung Obama warnt vor einer Vermengung von Parteipolitik und Außenpolitik: Die USA würden durch Polittaktierer in Richtung Krieg gedrängt, sagte Obamas Sprecher Josh Earnest. Man werde unbeirrt am diplomatischen Kurs festhalten. Am Sonntag reist Außenminister John Kerry erneut für Verhandlungen mit iranischen Gesandten in die Schweiz. Das iranische Außenministerium hat den Brief der Republikaner derweil als „Propaganda-Trick“ ohne juristischen Wert abgetan.

Bürgermanager für Deutschland

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Die einen mogeln bei der Steuererklärung, andere trinken nach Feierabend Bier, essen täglich Schokoriegel, radeln ohne Helm, verschwenden Plastiktüten oder versäumen ihre Vorsorgeuntersuchung – die Menschen haben viele Schwächen. So viele, dass ihre Verfehlungen in Wirklichkeit der Normalfall sind. Genau das macht die privaten Laster zur politischen Frage. Wenn nämlich mangelnde Selbstkontrolle und Gedankenlosigkeit zusammenkommen, hat das für die Menschen und ihre Gesellschaft nachteilige Folgen. Jeder weiß zum Beispiel, dass Energiesparen wichtig ist. Aber wie bringt man die Menschen dazu, es auch zu tun?



Menschen haben Laster: Jeder weiß, dass Rauchen schlecht ist. Aber wie bringt man die Menschen dazu, es zu lassen? Das Stichwort heißt "Nudging".

Die Bundesregierung sucht nun Hilfe bei drei Experten aus der Verhaltensforschung und Psychologie. Ihre Aufgabe: Sie sollen die Bürger dazu bringen, vernünftig zu handeln – ohne sie zu bevormunden. Ein freundschaftlicher Stups soll ausreichen, um eine Entscheidung in die richtige Richtung zu lenken. „Nudging“ heißt das Instrument, das hier genutzt wird, englisch für „anstupsen“.

„Ein Nudge ist etwas, das erstens Aufmerksamkeit erregt und zweitens das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern kann, ohne Handlungsoptionen auszuschließen“, sagt Lucia Reisch, Professorin an der Copenhagen Business School und Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen. „Ein Nudge ist nur ein Anstoß, keine Anordnung; die Wahlfreiheit bleibt erhalten.“ Wenn in der Kantine also das Obst auf Augenhöhe platziert wird und die Nachspeisen eher versteckt, dann ist das ein Nudge. Den Pudding ganz vom Speiseplan zu streichen, hingegen nicht.

Angela Merkel ist nicht die erste Regierungschefin, die ihre Bürger mit wirkungsvollen kleinen Psychotricks auf den rechten Pfad lotsen möchte statt mit Verboten, Sanktionen und Strafen. Der britische Premierminister David Cameron wollte schon im Jahr 2010 wissen, wie sich die Bereitschaft zur Organspende verbessern lässt und wie man das Volk dazu bringt, mehr Geld in die Altersvorsorge zu stecken. Er gründete dazu das Behavioural Insights Team (siehe unten). Inzwischen gilt Camerons Schubsertruppe als Vorbild der Bewegung, an deren Arbeit sich auch die Bundesregierung orientieren will.

Eine ähnliche Beratereinheit wie die Briten hat die dänische Regierung eingerichtet, außerdem ist dort ein Forschungsverbund zu dem Thema sehr aktiv, das Danish Nudging Network (siehe unten). Auch in den USA wird längst gestupst: Kalifornische Kommunen etwa haben ihre Bewohner informiert, wie viel Strom sie im Vergleich zu ihren Nachbarn verbrauchen. Weltweit setzen 136 von 196 Nationen Nudging ein, haben Forscher rund um den britischen Geografen Mark Whitehead herausgefunden. 51 unter ihnen haben dazu eigens eine nationale Behörde geschaffen.

Populär gemacht haben die Methode der Ökonom Richard Thaler von der Universität Chicago und der Harvard-Jurist Cass Sunstein. Sie verdichten in ihrem 2008 veröffentlichten Buch „Nudge“ (deutscher Untertitel: „Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) die Erkenntnisse der Verhaltensforschung auf 350 Seiten. Ihre wichtigste These: Im Alltag ist der Homo oeconomicus, dessen Verhalten stets vernunftgetrieben ist, selten anzutreffen. Die Menschen, so glauben die Wissenschaftler, können nicht richtig mit Risiken umgehen, es mangele ihnen an Rationalität. Zugespitzt formuliert: Thaler und Sunstein halten die Menschen für fehlbar – faul, dumm, gierig, schwach –, mithin für ökonomisch therapiebedürftig. Sie wollen ihnen helfen – indem sie ihre Schwächen ausnutzen.

Die Industrie tut das schon lange, allerdings ohne den moralischen Anspruch. So gelingt es Apple, mit Voreinstellungen seiner iPhones dafür zu sorgen, dass Käufer vor allem hauseigene Software verwenden. Geändert werden diese Vorgaben (sie sind hier der Nudge) nur selten, das wissen Verhaltensforscher, und das wusste offenbar auch Apple-Gründer Steve Jobs, der von sich behauptete, viele Bedürfnisse der Nutzer früher zu erkennen als diese selbst: „Es ist nicht die Aufgabe des Konsumenten, zu wissen, was er will.“

Auch Werber lieben Nudges. Moderne Fernsehspots zum Beispiel erzählen gern Geschichten von sympathischen Menschen und zeigen nur beiläufig die Handys, Autos, Biermarken, die uns zu cooleren, sportlicheren, geselligeren Typen machen sollen. So schlicht der Trick ist, er scheint zu funktionieren.

Ein Experiment der Cornell Universität zeigt: Hängt man Spiegel in Kantinen auf, greifen die Gäste seltener zu fetten Bagels und Doughnuts – sie sehen nämlich ihre überzähligen Pfunde. Der Spiegel gibt den Nudge. Ein anderes Beispiel findet sich auf der Herrentoilette des Amsterdamer Flughafens Schiphol – und nicht nur dort: Männer wollen zielen. Klebt man auf den Boden eines Pissoirs das Bild einer Fliege (es kann auch ein Fußballtor oder eine Zielscheibe sein), geht nicht so viel daneben.

Neu ist das alles nicht. Auch in Deutschland wird Nudging schon längst verwandt – in staatlichem Auftrag und selbstverständlich zu unserem Besten, wie die Bürgermanager stets beteuern. Wird eine Frau 50, bekommt sie automatisch eine Einladung zum Mammografie-Screening, damit Brustkrebs früh erkannt werden kann. Mit Termin und Ort. Das ist kein Zwang, das ist ein Nudge. Wer nicht hingehen will, lässt es eben bleiben. Alternativ könnte man Frauen einfach über Nutzen und Schaden des Röntgens informieren. Oder aber, wenn man denn überzeugt vom Sinn der Untersuchung ist, das Screening vorschreiben oder höhere Krankenversicherungsbeiträge von jenen fordern, die sich davor drücken.

Das Nudging ist die sanftere Methode: Niemand soll zu seinem Glück gezwungen werden, aber nachhelfen möchte man schon. Die Verfechter dieses Paternalismus halten es für legitim, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben besser, gesünder und länger zu machen. „Wichtig ist, dass die Verhaltensänderung ohne jeden Druck erzeugt wird, sie muss freiwillig erfolgen“, sagt die Ökonomin Reisch, die sich vor allem mit Konsumverhalten und Gesundheitsfragen beschäftigt. „Nudges sind kein manipulatives Instrument, sondern transparent. Die Ziele, für die sie eingesetzt werden, müssen demokratisch legitimiert sein und die Wohlfahrt steigern.“

Kritiker halten die Stupser hingegen eher für rüde Rempler und warnen davor, dass die Menschen bevormundet und entmündigt werden – ohne, dass sie es merken. „Der Bürger wird wie ein Schaf behandelt, wie jemand, den man von außen steuern muss, dem man keine vernünftige Entscheidung zutraut“, findet der Psychologe Gerd Gigerenzer, Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Dem Forscher wäre es lieber, die Politiker würden auf Bildung setzen. So könnte man Kinder schon in der ersten Klasse mit gesundem Essen vertraut machen, ihnen später den Umgang mit Geld, Gesundheit, Alkohol und Handys beibringen. „In einer modernen Demokratie brauchen wir kompetente Bürger, nicht Menschen, die paternalistisch geleitet werden von der Wiege bis zur Bahre“, ist Gigerenzer überzeugt.

Vielen Bürgern dürfte die Vorstellung nicht gefallen, dass sie mit raffinierten psychologischen Kniffen zur Vernunft gebracht werden sollen. Denn: Otto Normalverbraucher ist ein Homo sapiens, auch wenn er Schokolade liebt.

Gefährliche Spiele

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Auf dem Bildschirm sind sie unsterblich. Jede Viertelstunde zeigt das französische Fernsehen, wie Camille Muffat, 25, die Schwimm-Olympiasiegerin mit dem schüchternen Lächeln, aus dem Becken steigt. Wie Florence Arthaud, 57, Frankreichs Segelikone, auf ihrem Boot Wind und Wetter trotzt. Und wie Alexis Vastine, der Boxer, verzweifelt: Wieder und wieder können die Franzosen auf der Mattscheibe erleben, wie sich der 28-Jährige wütend zu Boden wirft, nachdem ihn die Ringrichter 2012 bei Olympia in London um seine Medaille brachten.

Alle drei leben virtuell fort – weil sie fürs Reality-TV gestorben sind. Bei der Produktion einer Survival-Show im Westen Argentiniens sind die drei französischen Sport-Stars in der Nacht zum Dienstag verunglückt. Zwei Hubschrauber sollten die Sportler sowie fünf Mitarbeiter der neuen Abenteuer-Serie „Dropped“ („Ausgesetzt“) in die hohen, kargen Berge bringen. Doch kurz nach dem Start kollidierten die beiden Helikopter in der Luft. Das ist in einem Video zu sehen. Für die acht Franzosen und die beiden argentinischen Piloten kam jede Hilfe zu spät.  



Unfälle in Reality Shows regen eine neue Debatte über das Konzept des Formats an

Nun trauert Frankreich. Noch in der tiefsten Nacht hatte der Élysée-Palast per präsidentieller Verlautbarung den Angehörigen kondoliert. Am Vormittag tritt François Hollande dann persönlich vor die Kameras: „Sie sind gestorben, weil sie Grenzen sprengen wollten.“
Das klang, als habe der Präsident das Skript von „Dropped“ gelesen. Frankreichs größter Privatkanal TF1 hatte die neue, noch nicht gesendete Reality-Show in Auftrag gegeben, das Drehbuch versprach puren Überlebenskampf: Zwei Teams von anfangs vier Heroen sollten – ohne Karte, ohne Kompass – innerhalb von zwei bis drei Tagen und Nächten den Weg aus der Wildnis zurück in die Zivilisation finden. Dabei würden sie von einer TV-Crew am Boden sowie von Drohnen aus der Luft gefilmt. Mit dabei: ein Survival-Experte und (hinter den Kulissen) ein Arzt. Gewonnen hätte jeweils die Mannschaft, die als erste eine Steckdose findet, um ihr Handy aufzuladen – und beim Sender anruft. Die Verlierer-Equipe sollte vor laufender Kamera Selbstkritik üben und jeweils das schwächste Teammitglied aussortieren.

Diese Regel hat sehr wahrscheinlich Sylvain Wiltord, 40, das Leben gerettet. Der frühere Fußballstar, der im Jahr 2000 mit Frankreichs „Blauen“ Europameister wurde, befand sich bereits wieder daheim in Paris, als er von dem tragischen Unglück erfuhr. „Ich trauere um meine Freunde, ich zittere, ich bin entsetzt“, twitterte der Kicker. Auch Alain Bernard, 31, durfte sich als Überlebender fühlen. Der mehrfach dekorierte Schwimm-Olympionike in Peking und London sollte von der „Dropped“-Crew ebenfalls am Montag ausgesetzt werden. In letzter Minute entschied man aber, Bernard solle wegen drohender Überlast der ersten beiden Hubschrauber lieber in einen dritten Helikopter steigen.

Glücklich zeigte sich ebenso Amaury Leveaux. Auch der 29-jährige Franzose ist ein ehemaliger Held des Wassers: Bei den Olympischen Spielen in Peking schwamm er mit Bernard, vier Jahre später in London war er mit Camille Muffat in einem Team. Und wie viele Ex-Hochleistungssportler verbringt auch er seine Zeit seither in der medialen Welt zwischen Sport und Spiel, meist als Kommentator beim Radiosender RMC. „Ich sollte bei ‚Dropped‘ mitmachen“, sagte Leveaux in einem Interview, „aber ich hab’s abgelehnt. Dann haben die jemand anderes gefragt.“ Camille.

„Die“, das ist die auf Abenteuer-Shows spezialisierte französische Produktionsfirma „Adventure Line Productions“ (ALP). Sie war bereits vor zwei Jahren in die Schlagzeilen geraten. Damals hatte der um den Hauptpreis von 100 000 Euro wetteifernde Kandidat Gérald Babin, 25, während der Aufnahmen zu der ALP-Überlebensshow „Koh Lanta“ einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Kurz darauf beging ein die Kandidaten betreuender Arzt Selbstmord. „Koh Lanta“ war die Vorlage für „Dropped“, und ein Geschäftsmodell. Nach einer Studie der Medienagentur Vivaki spielte „Koh Lanta“ 2014 – im ersten Jahr nach der vom Unfall erzwungenen Sendepause – bei sieben Millionen Zuschauern Werbeeinnahmen in Höhe von 12,7 Millionen Euro ein. Bei Produktionskosten von 500000 bis 600000 Euro pro Episode habe die Survival-Show dem Sender TF1 an jedem Sendeabend mindestens 600000 Euro Reingewinn beschert.

Tödliche Unglücksfälle wie diese geben aber auch einer alten moralischen Diskussion neue Nahrung: Sind Reality-Shows, in denen sich Menschen beweisen, bewähren, erniedrigen, überhaupt noch tragbar? Natürlich: Das Publikum liebt derartige Sendungen, die – wie das deutlich harmlosere RTL-„Dschungelcamp“ – trotz oder gerade wegen ihres Voyeurismus und der Präsentation von Prominenten in finanziellen Schwierigkeiten Beachtung finden. Aber auch Todesfälle, wie sie schon 1970 in Wolfgang Menges’ TV-Drama „Das Millionenspiel“ vorausgeahnt wurden, hat es immer wieder bei Sendungen dieser Art gegeben. So ertrank im Jahr 2009 ein 32 Jahre alter Kandidat einer pakistanischen „Survivor“-Show während einer Prüfung: Er sollte einen See mit sieben Kilo Zusatzballast durchschwimmen. In der bulgarischen Version von „Survivor“ war kurz zuvor ein 53 Jahre alter Kandidat nach einem Herzanfall gestorben. Als erstes Reality-Show-Opfer überhaupt gilt der 23 Jahre alte amerikanische Boxer Najai Turpin, der sich vor zehn Jahren gegen 15 andere Boxer in der NBC-Serie „The Contender“ bewähren wollte, sich dann aber während der Dreharbeiten das Leben nahm. Sein Manager erklärte, seine vertraglichen Verpflichtungen hätten Turpin in den Tod getrieben. Zwischen 2005 und 2010 begingen mindestens neun Teilnehmer von Reality-Shows in Frankreich, Schweden, Australien, Indien und den USA Selbstmord. In der Öffentlichkeit gerieten ihre Namen bald in Vergessenheit.

Die Sonne sehen

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„Ich rede mit allen, solange man mit denen reden kann.“ Das hat Jürgen Domian einmal gesagt und sich als Nachttalker der jungen WDR-Welle 1Live und des WDR Fernsehens nun schon 20 Jahre lang daran gehalten. Wer ihm ein paar Nächte lang lauscht, merkt schnell, dass Domian immer dann gut ist, wenn er mit Menschen redet, mit denen man nach landläufiger Meinung eigentlich nicht reden kann, weil deren Probleme so übermächtig wirken, dass sich kaum jemand sonst den Dialog zutraut.

Er hat mit Müttern geredet, die ihr Kind verloren haben. Er hat Todkranken Trost zugesprochen. Er hat Menschen auf sexuellen Abwegen zugehört, hat ihnen kluge Fragen gestellt und so manche Erkenntnis befördert. Er hat ruhig weitergeredet, wenn ihm Unerhörtes zu Ohren kam, wenn andere das Thema aus Verklemmtheit vielleicht längst ins Lächerliche gezogen hätten. Domian hat dann die ihm eigene Besonnenheit und Ruhe ausgestrahlt, die ihn letztlich unangreifbar gemacht haben und ihm all jene Tugenden verliehen, die man sonst von guten Pfarrern erwartet.
 


Jürgen Domian hört nach 20 Jahren als Fernseh-Seelsorger auf
Nun will er aufhören, sagt er. Mit 57 Jahren. Auf eigenen Wunsch. Er wolle öfter mal die Morgensonne sehen, hat er als Begründung angefügt. Das klingt nach 20 Jahren Nachtschicht einleuchtend, und auch die Anstalt, bei der Domian fest angestellt ist, zeigt offensiv Verständnis. Allerdings verliert der WDR im kommenden Jahr, wenn Domian zum letzten Mal läuft, auch eine wichtige Marke, denn Domian steht als grundsolide Instanz für einen Dialog, der niemanden verurteilt, der ein Ohr für alles hat, solange es ernst vorgetragen und auch so gemeint ist.

Im Prinzip hat Domian anfangs jene Rolle übernommen, die einst der Dr. Sommer in der Bravo ausfüllte. Lange vor der digitalen Inflation im Internet hat er so ein Forum geschaffen für Fragen, die man sonst nirgendwo loswurde.

Die Frage „Bin ich Domian?“, gilt inzwischen als stehende Redewendung, wenn sich jemand mit dem Problem eines anderen überfordert sieht. Die Vorstellung, irgendwer könne den Nachtfalken mit der samtenen Stimme ersetzen, wirkt absurd. Insofern muss vor allem der WDR trauern, dass ihm eine einmalige Kompetenz abhandenkommt.

Möglicherweise freut man sich dort aber auch ein bisschen, denn eine Sendung wie Domian zu nachtschlafender Zeit erfordert mehr Personal, als man gemeinhin annimmt. Rechercheure, Redakteure, Techniker und Psychologen haben über die Jahre im Hintergrund am Erfolg von Domian mitgewirkt. So etwas kostet. Auf jeden Fall mehr als das Zusammenstellen einer netten Musikstrecke nach Mitternacht. Dem Ziel des WDR, Stellen einzusparen, mag das entgegenkommen. Das Profil als Anbieter von Außergewöhnlichem schärft es nicht gerade. Könnte also sein, dass die Anstalt irgendwann mal Beratungsbedarf hat. An Domian wird sie sich dann nicht mehr wenden können.

Labor-Werte

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„Aus Tradition Grenzen überschreiten“ – so lautet das Motto der Universität Leipzig. Die Grenze, die eine dort lehrende Biochemie-Professorin überschritten haben soll, ist damit gewiss nicht gemeint. In einem E-Mail-Verkehr, den die Zeitschrift India Today in ihrer Onlineausgabe öffentlich gemacht hat, schreibt Annette Beck-Sickinger an einen indischen Studenten, der sich um ein Praktikum an ihrem Institut beworben hatte: „Wir hören viel über die Probleme mit Vergewaltigungen in Indien. Ich habe viele Studentinnen in meiner Gruppe und kann diese Haltung daher nicht unterstützen.“ Sie vergebe keine Praktika an männliche indische Studenten. In einer weiteren Mail von Beck-Sickinger an den Studenten steht: „Natürlich können wir die indische Gesellschaft nicht verändern oder beeinflussen. Wir können nur hier in Europa unsere Konsequenzen daraus ziehen.“



Die Biochemie- Professorin Beck-Sickinger wehrt sich gegen die Vorwürfe


Mehrere indische Medien griffen die Aussagen auf und auch in den sozialen Netzwerken wurde Beck-Sickinger harsch kritisiert. Eine Frau vermutet „Rassismus unter dem Deckmantel feministischer Solidarität“. An anderer Stelle schreibt ein Kommentator: „Der Rassismus lebt im Land der Nazis fort.“
In einer von der Leipziger Hochschule verbreiteten Erklärung zu dem Vorfall wies Beck-Sickinger am Dienstag den Rassismusvorwurf zurück. Sie entschuldige sich aber für Äußerungen zu den Verhältnissen in dem Land: „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Es sei nie ihre Absicht gewesen, Indiens Gesellschaft herabzusetzen. Außerdem habe sie die Mail gar nicht in der veröffentlichten Form verfasst, sie sei „aus Einzelteilen anderer Mails zusammengesetzt worden“.

Sie habe „überhaupt nichts gegen indische Studenten – im Gegenteil“, schrieb Beck-Sickinger. Sie habe den Studenten abgelehnt, da ihre Labore voll besetzt seien. Der junge Mann jedoch habe dies nicht akzeptiert und sie in eine Diskussion über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Indien verwickelt. In diesem Zusammenhang habe sie auch die Vergewaltigungen angesprochen.

Laut Leipziger Uni stammen vier von 30 Studenten in einem von Beck-Sickinger betreuten Modul aus Indien; auch habe die Professorin zwei indischen Gaststudenten ein Laborpraktikum gewährt.
Der Bewerber, der bisher anonym geblieben ist, beschwerte sich bei Beck-Sickinger über die „Verallgemeinerung“ in ihren Aussagen: „Wenn ich Sie wäre, hätte ich eher gar nicht geantwortet, bevor die Konversation in so eine Richtung geht.“ In der folgenden Antwort der Wissenschaftlerin – auch sie wurde bei India Today veröffentlicht – ist keine Rede mehr davon, dass sie die erste ihrer Mails gar nicht in der publik gewordenen Form verfasst hätte. Beck-Sickinger schreibt, künftig auf derlei Anfragen nicht mehr antworten zu wollen. „Nun ist es aber schon zu spät, und ich kann nur noch für die Zukunft daraus lernen.“
Der deutsche Botschafter in Indien, Michael Steiner, schrieb umgehend an Beck-Sickinger, solch simples Bild eines Landes sei einer Professorin nicht angemessen. „Indien ist kein Land von Vergewaltigern.“

Abschied und Willkommen

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Es ist nicht so lange her, da hagelte es Alarmmeldungen beim Thema Auswanderer: Mehr als 100000 Deutsche verließen jedes Jahr das Land, Ärzte, Spitzenforscher aber auch Hoffnungslose, hieß es vor zehn Jahren. Es waren die Jahre der schmerzhaften Hartz-Reformen, die Zahl der Arbeitslosen erreichte Rekordwerte, Besserung war nicht in Sicht, Deutschland galt als kranker Mann Europas. Da passte es ins Bild, dass zwischen 2005 und 2009 etwa 250000 Deutsche das Land verließen – die Rückkehrer sind da schon abgezogen. Die Aufregung ist mittlerweile verebbt, Forscher haben sich des Themas angenommen – und rücken das Bild vom Auszug der Hoffnungslosen zurecht: Nach wie vor ziehen zwar jedes Jahr etwa 150000 Einheimische fort, doch die meisten kommen zurück – bereichert um Erfahrungen und Perspektiven.



Arbeiten, wo andere Urlaub machen. Für viele hat sich dieser Traum nicht gelohnt

Dies ist das Ergebnis einer Studie zu Auswanderern und Rückkehrern, die Forscher des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) zusammen mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und der Uni Duisburg-Essen am Dienstag in Berlin vorgestellt haben. Die Wissenschaftler haben 800 Auswanderer und 900 Rückkehrer befragt. Warum sind sie weggegangen? Mit welchen Erwartungen? Wie war das neue Leben im Ausland? Und warum kommen sie nach Deutschland zurück – oder eben nicht? Die Antworten, sagen die Forscher, sind zwar nicht repräsentativ für alle Aus- und Rückwanderer; doch die Studie bietet den bisher besten Einblick, wer da geht und kommt – und warum.

Der typische Auswanderer ist demnach nicht der Hoffnungslose oder Verarmte, und auch nicht der Provinz-Wirt aus dem Privatfernsehen, der sich seinen Traum vom Strandrestaurant erfüllen will. Vielmehr handelt es sich in der großen Mehrheit um junge, top ausgebildete Leute, die neue Erfahrungen, fremde Kulturen oder ein attraktiver Job ins Ausland locken. Immerhin 41,4 Prozent der Befragten nannten jedoch auch eine Unzufriedenheit mit dem Leben in Deutschland als Motiv. Tatsächlich erfüllt sich für die meisten der Wunsch nach einem höheren Einkommen, allerdings hat das seinen Preis. So sagten 43,5 Prozent der Befragten, dass sich die Auswanderung negativ auf ihren Freundes- und Bekanntenkreis ausgewirkt habe.

Über Tausende Kilometer hinweg lassen sich Freundschaften schwer pflegen. BiB-Direktor Norbert Schneider spricht von ambivalenten Folgen für die Wandernden: „Sie erzielen oft ein höheres Einkommen und haben einen höheren Berufsstatus“, erführen aber vielfach „auch eine Art sozialer Desintegration durch den Verlust von Freunden und Bekannten“. Man kann es auch auf die Formel bringen: Geld oder Freunde.
Die Sehnsucht nach Freunden und Familie spielt denn auch eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zurückzukommen. Fast die Hälfte gibt die Familienangehörigen als wichtiges Motiv an, fast ein Viertel Freunde. Von den Auslandsdeutschen wollen insgesamt 41 Prozent wieder in die alte Heimat, gut ein Drittel will dagegen fort bleiben, gut ein Viertel ist unentschlossen.

Es bleiben also bei Weitem nicht alle weg, die einmal ausgewandert sind, unter dem Strich hat das Land seit 2009 pro Jahr lediglich 25000 Bundesbürger verloren. Die Forscher sprechen daher eher von einer „Brain Circulation“ also einem Kreislauf, als einem „Brain Drain“. „Abwanderung sollte nicht einseitig als Verlust, sondern auch als Chance wahrgenommen werden“, sagt Cornelia Schu, die Direktorin des SVR-Forschungsbereichs. Die Auswanderer kehrten oft mit neuen Fähigkeiten und Kontakten zurück.
Diese positive Sichtweise hängt allerdings auch mit der günstigen Entwicklung der Bundesrepublik zusammen: Anders als vor zehn Jahren geht es Deutschland im Vergleich zu den meisten Industrieländern wirtschaftlich gut, es gibt Jobs und Möglichkeiten. Hinzu kommen Rückkehrerprogramme, die bereits Hunderte Wissenschaftler an deutsche Unis und Forschungsinstitute vermittelt haben. Sie könnten noch ausgeweitet werden auf andere Bereiche, sagen die Autoren der Studie, auch um den Mangel an Fachkräften zu lindern.

Für viele Auslandsdeutsche ist die Rückkehr auch finanziell attraktiv. Mitarbeiter mit Auslandserfahrung sind gefragt und oft gut bezahlt. Allerdings trifft das laut der Studie nur auf Hochqualifizierte zu. Andere Rückkehrer sehen zwar Freunde und Familie wieder, müssen aber mit einem geringeren Einkommen rechnen. Die Motive der Rückkehrer gleichen denen der Auswanderer: beide nennen häufig eine interessantere Arbeit oder bessere Arbeitsbedingungen, manche haben im Lauf der Jahre offenbar auch die Qualitäten der Bundesrepublik schätzen gelernt. Jedenfalls beschleicht gut 40 Prozent eine Art von Unzufriedenheit im Ausland, viele bevorzugen das „Lebensgefühl“ in Deutschland, andere schätzen eine bessere medizinische Versorgung (19,3 Prozent) oder weniger Kriminalität (15 Prozent).

Es ist freilich nicht so, dass sich Auswanderer dies immer aussuchen könnten. Als Spaniens Wirtschaft vor zehn Jahren boomte, suchten Tausende Deutsche ihre Zukunft unter der südlichen Sonne, unter ihnen viele Akademiker. Dann kam 2008 die Wirtschaftskrise. Viele Auswanderer verloren ihren Job – und kehrten gezwungenermaßen zurück.

Mit 40 entdecken Frauen den Alkohol

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Männer trinken mehr Alkohol als Frauen. Junge Menschen trinken mehr Alkohol als alte Menschen. Ach was, und Wasser ist nass?

Zugegeben: Auf ihre zwei wesentlichen Aussagen reduziert, fehlt der Studie aus einem britischen Fachjournal der ganz große Wow-Effekt. Bei genauerem Hinsehen verblüffen die Ergebnisse dann doch. Denn Männer trinken nicht nur mehr Alkohol als Frauen – sie trinken viel, viel mehr. Und die zweite Überraschung: Je älter Männer werden, desto seltener greifen sie zur Flasche – bei Frauen ist das umgekehrt: Ihr Alkoholkonsum steigt bis zum Alter von 40 Jahren kontinuierlich an und sinkt erst danach wieder langsam ab.



Die Wissenschaftler haben aus den Datensätzen eine selbsterklärende Grafik gebastelt.

Die Studie basiert auf neun unterschiedlichen Datensätzen; bei einigen Umfragen haben die Probanden nur angegeben, ob sie regelmäßig, selten oder nie trinken. Deshalb lässt sich die exakte Anzahl an Drinks pro Woche nur schwer festlegen, die Zahlen an der y-Achse sind also eher Circa-Angaben. Ohnehin wären die Ergebnisse nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar: Die Umfragen stammen nur aus Großbritannien, und das Trinkverhalten der Deutschen unterscheidet sich vermutlich von dem der Briten.

Aber die Tendenz dürfte in beiden Ländern ähnlich sein: 25-jährige Männer gönnen sich im Schnitt rund 20 Drinks pro Woche (entsprechend einem Bier oder einem Glas Wein), Frauen erreichen ihren alkoholischen Höhepunkt 15 Jahre später und konsumieren dabei fast zwei Drittel weniger als Männer im trinkfreudigsten Alter.

Abstinenzler sind selten: Nur rund 10 Prozent der Männer verzichten komplett auf Alkohol, erst bei den Über-90-Jährigen steigt der Anteil auf über 20 Prozent. Frauen trinken insgesamt etwas häufiger überhaupt keinen Alkohol, dort erreicht die Abstinenzler-Kurve bereits unter den 75-Jährigen 20 Prozent.

Was die Wissenschaftler unbeantwortet lassen:

  • Warum entdecken mittelalte Frauen die Lust am Alkohol?

  • Was bringt Menschen dazu, mit 90 Jahren aufzuhören, Alkohol zu trinken? Schließlich sind sie mit Alkohol 90 Jahre alt geworden.

  • Ist das Glas Rotwein jetzt gesund oder nicht? (Andere Wissenschaftler sindsichdanichtso ganzeinig.)

  • Ab welcher Menge ist Alkohol wirklich schädlich? (Zum Glück gibt es dafür das Lexikon des guten Lebens.)

"Süß sind die ja alle"

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[plugin imagelink link="http://doug.com/remote.jpg.ashx?cache=true&quality=90&format=jpg&maxwidth=1200&urlb64=aHR0cHM6Ly90cmFja3kuY29tL3RyYWNrLzMzNzY0MS9hdHRhY2htZW50LzE2MTc3MQ&hmac=LNICyMy9jRQ" imagesrc="http://doug.com/remote.jpg.ashx?cache=true&quality=90&format=jpg&maxwidth=1200&urlb64=aHR0cHM6Ly90cmFja3kuY29tL3RyYWNrLzMzNzY0MS9hdHRhY2htZW50LzE2MTc3MQ&hmac=LNICyMy9jRQ"]Das ist Biddy, ein berühmter Instagram-Igel. Letzte Woche ist er im Alter von vier Jahren gestorben. Mach's gut, Biddy! 

jetzt.de: Hallo, gibt es bei Ihnen Igel?
Angelina Krontiris, Filialleiterin: Nein. Wir könnten wahrscheinlich welche über den Großhandel bestellen. Würde ich aber nicht befürworten.

Warum nicht?
Bei solchen exotischen Haustieren muss man sich mit den Haltungsbedingungen schon sehr gut auskennen. Wie wärme- oder kälteempfindlich sind die, hält man sie im Terrarium, im Stall, oder lässt man sie ganz frei laufen?

Ein Igel ist also eher kein gutes Haustier?
Höchstens für jemanden, der sich seit Jahren damit beschäftigt und wirklich gut auskennt. Wir prüfen das bei jedem Tier, das wir verkaufen.

Wie denn?
Wir fragen erstmal, wie der Kunde sich das vorgestellt hat. Wenn jemand einen Hasen im Käfig halten will, finden wir das zum Beispiel nicht gut. Bei Familien fragen wir auch, ob nur das Kind sich das Tier wünscht und die Eltern eigentlich nicht. Das ist fast eine Garantie dafür, dass das Tier irgendwann im Heim landet.

http://www.youtube.com/watch?v=Guc_XHlFB_4
Schon süß. Leider.

Ich rufe an, weil ich gelesen habe, dass in den USA immer mehr junge Leute einen Igel wollen. Wegen all der süßen Youtube-Videos.
Ach, süß sind die ja alle, wenn sie klein sind. Aber diese Trends sind schlimm. Besonders bei den Reptilien. Da will plötzlich jeder so einen Exoten und dann werden sie größer und uninteressant und irgendwo ausgesetzt. Und dann findet man eine zwei Meter lange Python im Englischen Garten.

Nicht Ihr Ernst!
Alles schon passiert. Zur Zeit hat wieder jemand eine Schnappschildkröte in irgendeinem See in Franken ausgesetzt. Vor ein paar Jahren ist einem 19-Jährigen in Mülheim eine Königskobra aus dem Terrarium entwischt. Da musste drei Wochen das Mehrfamilienhaus geräumt werden, bis die Schlange jämmerlich in einer Falle eingegangen ist... Schrecklich ist das.

So ein Igel ist ja wenigstens nicht gefährlich.
Stimmt. Aber wenn der ausbüchst und sich fortpflanzt, gibt’s eine Faunaverfälschung.

Was heißt das?
Dass sich Hybriden bilden, die in dem Lebensraum eigentlich nicht vorkommen. Zum Beispiel zwischen einem afrikanischen Igel und dem europäischen. Im schlimmsten Fall endet das so wie mit den Kaninchen in Australien, die eingeführt wurden und ganze Arten ausgerottet haben.

Gibt es denn sowas wie Haustier-Trends?
Klar. Bei „Findet Nemo“ war es ganz schlimm. Da sind viele gekommen und wollten für ihre Kinder so einen Clownfisch. Dabei ist das ein Salzwasserfisch, die sind sehr kompliziert zu halten, da muss man echt viel drüber wissen. Extrem ungeeignet für Kinder.

Wollten Sie als Kind auch ein bestimmtes Tier?
Ja, ich wollte unbedingt ein Degu.

Ein was?
Degu, eine Rattenart aus Südamerika. Extrem süß. Hatte ich irgendwo im Fernsehen gesehen. Meine Mutter hat mir dann ein Fachbuch gekauft, das sollte ich lesen und einen Aufsatz drüber schreiben. Nach der Hälfte war’s mir schon zu kompliziert, da war das Thema gestorben.

Eines wüsste ich noch gern: Wissen solche kleinen Tiere überhaupt, wer ihr Herrchen ist?
(Ruft) Uah, da müssen Sie mal bei uns vorbeikommen! Wir haben Meerschweinchen und Hasen, die springen mir auf den Schoß zum Schmusen! Und Igel erkennen Menschen auch. Viele unserer Kunden füttern ja wilde Igel an, wir verkaufen auch spezielles Futter. Die Tiere wissen genau: Wenn die Alte in den Garten kommt, gibt’s Essen!

Die Zeitvertreiber

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"Einmal war ich während der Vorstellung Kaffee trinken."


Philipp, 30, Schauspieler:

„Als freischaffender Schauspieler arbeite ich meistens an mehreren Theatern gleichzeitig und muss parallel Texte für verschiedene Stücke lernen. Freie Momente gibt es in der Garderobe, wenn ich gerade auf meinen nächsten Auftritt warte. Es gibt Vorstellungen, in denen muss ich zwei Stunden überbrücken, weil ich ganz zu Beginn des Stückes einen Auftritt habe und den nächsten erst wieder am Schluss. In größeren Theatern kann man während dieser Zeit einfach in die Kantine gehen. Einmal – aber das ist schon Jahre her und nie wieder vorgekommen, weil streng verboten – war ich während einer Vorstellung mit Freunden sogar mal Kaffee trinken auf dem Weihnachtsmarkt.

Meistens vertreibe ich mir die Zeit aber mit meinem Handy, lerne Text, bereite Inszenierungen vor oder gehe im Kopf meine Einkaufsliste für zu Hause durch.

Wenn man beim Fernsehen arbeitet, ist es noch extremer als im Theater, da wartet man fast durchgehend. Manchmal schlafe ich dann einfach ein, bis der Regisseur mich mit seinem „Und, bitte!“, aus meinen schönen Träumen reißt. Je länger ich warten muss, desto mehr Süßigkeiten esse ich außerdem – ich bin nämlich süchtig nach Gummibärchen.“
[seitenumbruch]



"Wenn ich eine längere Zeit überbrücke, lese ich gerne Blogs."


Christoph, 26, Mitarbeiter bei Harvest:

„Die Zieblandstraße, in der unsere Modeboutique ist, ist eine Nebenstraße ohne viel Laufkundschaft. Das heißt: Es geht meistens recht ruhig bei uns zu. Unsere Kunden sind zum Großteil echte Stammkunden und kommen ganz gezielt. So richtig durchgehend etwas los ist deshalb auch nur, wenn es aufs Wochenende zugeht. Montag und Dienstag sind definitiv die ruhigsten Tage.

Es sieht aber nur von außen so aus, als hätte ich Leerlauf. Oft bin ich ziemlich gut damit beschäftigt, unseren Onlineshop zu pflegen: Bestellungen bearbeiten, E-Mails beantworten und so weiter.

Wenn ich wirklich mal eine längere Zeit überbrücke, lese ich gerne Blogs. Meine beiden liebsten sind im Moment: greetingsfrombeyond, das ist recht derb, da geht es vor allem um Tattoos, Mode und Sex. Und: ignant.de, ein Blog aus Berlin, das sich mit Kunst und Design befasst. Die Ruhe hier nervt mich nie. Im Gegenteil. Ich kann mich super konzentrieren und fühle mich immer sehr aufgeräumt. Früher habe ich in einer Werbeagentur gearbeitet, da ging es sehr viel chaotischer und stressiger zu.“
[seitenumbruch]


"Wenn ich faul bin, spiele ich statt zu lernen Candy Crush."


Alina, 25, Abiturientin:
„Je nachdem, wie lang das jeweilige Theaterstück dauert, kommt es schon mal vor, dass wir in der Garderobe ein bis zwei Stunden am Stück warten müssen. Mal kurz auf die Toilette zu gehen, ist während dieser Zeit schon okay. Aber länger dürfen wir nicht weggehen. Erstens kann es jederzeit vorkommen, dass ein Gast rauskommt und seine Sachen braucht, und zweitens müssen wir ja auch aufpassen, dass nichts wegkommt.

Wenn die letzten Nachzügler nach Beginn des Stücks eingetroffen sind, wird es plötzlich ganz ruhig. Die Lichter gehen weitestgehend aus, es muss absolute Stille herrschen und wir können uns eine kleine Leselampe holen, uns hinsetzen und lesen. Wir dürfen auch Musik hören oder auf dem Tablet was anschauen – aber natürlich nur mit Kopfhörern.

Zur Zeit nehme ich mir aber meistens nur meine Lernsachen mit, ich hole nämlich gerade mein Abi nach. Wenn ich faul bin, spiele ich statt zu lernen Candy Crush oder chatte mit Freunden auf Whatsapp oder Facebook. Ich mag die Zeit des Wartens, man ist so frei und kann nebenbei noch so viel anderes Zeug erledigen. Ich muss sagen, dass ich nie einen angenehmeren Job hatte.“
[seitenumbruch]


"Ich bin newssüchtig."


Daniel, 27, Musiker bei The Marble Man:

„Als Band ist man meistens schon Stunden vor dem Konzertbeginn vor Ort, da wartet man natürlich viel: bis die Technik eingestellt ist, bis du beim Soundcheck drankommst. Da muss man dem Schlagzeuger dann zuhören, wie er 100 Mal seine Trommeln ausprobiert. Abhauen kann man nicht, man wird ja zwischendurch immer wieder gebraucht. Man hat also oft fünf Minuten Wartezeit, dann wieder etwas zu tun, dann wieder Wartezeit. Das kann sich auf Dauer schon lähmend anfühlen. Eine Zeitlang haben wir viel Quizduell gegeneinander gespielt. Das ist sehr symptomatisch für die Beschäftigungsmöglichkeiten, die einem bei dieser Art des Wartens bleiben: Es geht fast nur zielloses Zeug. Ich bin ziemlich newssüchtig, und weil ich jetzt hauptberuflich in der Investmentbranche arbeite, checke ich ziemlich oft Wirtschaftsnachrichten – financialtimes.com oder economist.com zum Beispiel.

Allerdings kann das Warten auch sehr schöne Seiten haben. Oft genieße ich die Momente, in denen ich vor einem Konzert rumsitze. Da kriegt man den Kopf so schön frei, weil man ja weiß: Ich kann jetzt nichts anderes tun, als einfach nur hier zu sein, ein bisschen was vorzubereiten, ein bisschen mit den Bandkollegen zu quatschen und ein Bier zu trinken, bevor es richtig losgeht.“

Hey, das ist doch der Typ aus Hangover!

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2009 war für Thaddeus Kalinoski ein ziemlich mieses Jahr. Erst kündigt er seinen Job als Hotelmanager in Philadelphia, um mehr Zeit für seine Frau zu haben und die kriselnde Beziehung zu retten. Die sagt ihm dann aber trotzdem Lebewohl, woraufhin Kalinoski seinen Frust in Alkohol ertränkt und Fast Food in sich hinein stopft. Innerhalb kurzer Zeit nimmt  er zehn Kilo zu, kümmert sich nicht mehr um sein Äußeres und hört auf sich zu rasieren.

[plugin imagelink link="http://www.brobible.com/life/article/the-hangover-zach-galifianakis-impersonator/" imagesrc="http://i2.wp.com/www.brobible.com/wp-content/uploads/2015/01/Thad-Young.jpg?resize=640%2C484"]Ein Foto von Thaddeus Kalinosk aus seinem früheren Leben als Hotelmanager.

Eines Tages habe er dann vor dem Spiegel gestanden und gedacht: „Warte mal, du siehst aus wie Alan“, erzählt Kalinoski der Daily Mail. Alan ist einer der Charaktere in der Trilogie The Hangover, im Film verkörpert vom Schauspieler Zach Galifianakis. Zusammen mit einem Freund reist Kalinoski daraufhin probeweise ein Wochenende nach Las Vegas, wo The Hangover spielt. „Ein Wochenende, das alles verändert hat“, sagt er.

Kalinoski wird zum perfekten Doppelgänger


In Vegas ist er der Star, wird ständig auf die Ähnlichkeit angesprochen, wildfremde Menschen spendieren ihm Drinks und wollen Partys mit ihm feiern. Er bleibt in Vegas, schaut sich Hangover Hunderte Mal an, kauft sich die Outfits, die Galifianakis trägt, adaptiert dessen Sprachstil und wird so zum perfekten Doppelgänger.

[plugin imagelink link="http://www.brobible.com/life/article/the-hangover-zach-galifianakis-impersonator/2/" imagesrc="http://i1.wp.com/www.brobible.com/wp-content/uploads/2015/01/Zach-Galifinakis-Impersonators.jpg?resize=640%2C480"]Just a normal day at the office.

Europäer seien super freundlich und hätten einfach nur Spaß daran, zusammen mit ihm zu feiern. Abende mit Australiern würden sich dagegen schon eher wie echte Arbeit anfühlen, denn „die trinken den ganzen Tag und die ganze Nacht und ich glaube, dass es Teil meines Jobs ist, mit ihnen mitzuhalten“, sagt Kalinoski.

Einmal mit einem Typ aus Hangover feiern? Macht 1000 Dollar!


Am spendabelsten seien die Besucher aus Dubai und anderen Emiraten und Staaten im Nahen Osten. So spendabel, dass Kalinoski mittlerweile eine Viertelmillion Dollar pro Jahr verdient. Wer ihn als Partygast anheuern will, zahlt 1000 Dollar pro Nacht; meist kommt noch ordentlich Trinkgeld dazu.

Schnell wird seine Performance über die Stadtgrenzen von Vegas hinaus bekannt, und die Produzenten von The Hangover heuern Kalinoski als Double für den dritten Teil an. Prominente schießen Selfies mit ihm, er wird Frauen umschwärmt („I have been approached by absolutely stunning women, who almost beg to sleep with me […] I won't give numbers, but I have done okay for myself.”), und trotzdem ist sein Job kein reines Vergnügen. In den ruhigeren Monaten im Winter müsse er eine Auszeit nehmen und auf Alkohol und Fast Food verzichten, um einmal grundlegend zu entschlacken, sagt Kalinoski.

[plugin imagelink link="https://uk.yahoo.com/movies/this-zach-galifianakis-lookalike-earns-250-000-a-113333481791.html" imagesrc="https://s.yimg.com/cd/resizer/2.0/FIT_TO_WIDTH-w500/d683c8a0b887c32f5ef9137022f8ceca16b41fef.jpg"]Selfie mit Mike Tyson.

So märchenhaft die Geschichte klingt, ist Kalinoski doch Realist genug, um ihr Ende vorauszusehen. Länger als ein paar Jahre halte er das nicht durch: „Es macht Spaß, aber meine Leber und mein Schlafrhythmus leiden.“ Zu seinen eigenen gesundheitlichen Bedenken kommt noch ein weiteres Problem: Der letzte Hangover-Film ist zwei Jahre her, allmählich ebbt die Begeisterung ab – und der echte Zach Galifianakis hat in der Zwischenzeit ordentlich abgespeckt, sodass auch sein Doppelgänger erstmal auf Diät gehen müsste.

Quellen:
Zachonthevegastrip, Brobible, Instagram, Daily Mail

Attacke auf Uber

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Immer, wenn es regnet oder – wie in den vergangenen Monaten eigentlich durchgängig – schneit, sind alle gelben Taxis belegt, und Uber hebt die Preise an, zum Teil auf das Vierfache. Eine zehnminütige Fahrt kann mit der Taxi-alternativ-App schnell 30 Dollar kosten. Dann steht der New Yorker im Schneesturm und verflucht Uber. „Unsere Kunden werden nicht überrascht und müssen keine willkürlichen Extragebühren zahlen“, sagt Shahar Waiser. „Bei uns weiß man immer schon vorher, was man bezahlt.“

Waiser ist angetreten, um Uber die entnervten Kunden abzujagen. Der 40-Jährige hat schon mehrere Unternehmen in Israel, Russland und San Francisco gegründet, darunter den russischen Groupon-Rivalen Vigoda. Nun ist der in Russland geborene Israeli Gründer und Chef von Gett, einer App, mit der man Fahrdienste rufen und bezahlen kann. Auf die Taxi-Idee kam er, als er im Silicon Valley auf einen Wagen zum Flughafen wartete. Er kam und kam nicht – und als er bei der Zentrale anrief, hatten die ihn einfach vergessen.
 


Die App "Uber" hat einen ernstzunehmenden Rivalen bekommen: Getttaxi lockt die Fahrer mit besseren Arbeitsbedingungen

Seine Unternehmen gründet er immer, wenn er im richtigen Leben einen Bedarf sieht, sagt er. Gett ging 2010 in London und Tel Aviv an den Start. Inzwischen ist das Unternehmen laut Waiser der nach Umsatz größte internationale Rivale von Uber. Alle Gett-Fahrten zwischen der 59. Straße und der Houston Street in Manhattan kosten zehn Dollar – weniger als alle anderen Taxidienste. In der Rushhour steigt die Flatrate auf 20 Dollar. Die Preise außerhalb des Zentrums hat Gett gerade um ein Viertel gesenkt, um Marktanteile zu ergattern.

Während Uber von Amerika aus nach Europa und Asien wachsen will, drängt Gett aus dem Ausland nach Amerika, in Ubers Heimatmarkt. Die App ist in Großbritannien, Israel und Russland unter dem Namen Gettaxi bekannt und schreibt in 24 der 32 Städte bereits Gewinne, die Waiser jetzt in New York reinvestiert. Die Metropole ist ein schwieriger Markt. Neben Uber gibt es zwar keine größeren Mitfahr-Apps, aber die gelben Taxis sind mächtig und überall, außerdem gibt es kleinere Fahrservices in der Taxi-Preisklasse und gute öffentliche Verkehrsmittel. New York sei ein riesiger Markt, sagt Waiser. „Und wir glauben, dass es noch nicht genug Wettbewerb gibt.“

Uber hat allein in der jüngsten Finanzierungsrunde 2,8 Milliarden Dollar eingesammelt – und ist damit schwer zu schlagen. „Die hohe Bewertung von Uber hilft aber uns allen, sie zeigt, wie groß der Markt ist“, sagt Waiser – groß genug für zwei junge, ehrgeizige Unternehmen. „Trotz der hohen Bewertung sind sowohl Uber als auch wir noch immer am Anfang des Weges.“ Gett hat 207 Millionen Dollar von Investoren bekommen, dieses Jahr will das Start-up eine halbe Milliarde Dollar Umsatz schreiben. Vorteile gegenüber Uber verspricht sich Waiser auch mit Geschäftskunden. Große Firmen seien von Ubers teilweise illegalen Praktiken abgeschreckt. Gett arbeitet mit den Behörden zusammen, alle Fahrer haben eine Taxi-Lizenz.

Doch die wachsende Popularität macht Gett zu schaffen. Oft gibt es nicht genug Fahrer, Kunden müssen lange warten. „Als wir mit der Flatrate im September angefangen haben, waren wir überrascht über die hohe Nachfrage. Wir hatten Probleme, sie zu bedienen“, gibt Waiser zu. Seitdem versucht das Unternehmen, neue Fahrer anzulocken – und von Uber abzuwerben. Jetzt seien die Gett-Taxis in der Regel innerhalb von fünf bis sieben Minuten beim Kunden. Das stimmt zwar noch nicht ganz, im East Village muss man gerade 18 Minuten warten – aber die Wartezeit schrumpft, und die Zahl der Fahrer wächst.

„Wir bieten ihnen faire Löhne, fast doppelt so viel wie bei Uber“, sagt Waiser. „Und das Trinkgeld dürfen sie zu 100 Prozent behalten.“

Teurer Kick

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Pharrell Williams war am Dienstag bitter enttäuscht, wie er später über seinen Anwalt Howard King ausrichten ließ: „Er ist noch immer unerschütterlich davon überzeugt, dieses Lied aus eigenem Herzen, eigenem Verstand und eigener Seele heraus erschaffen zu haben.“ Dieses Lied, das ist der Pop-Song „Blurred Lines“, ein Sommerhit im Jahr 2013 von Williams, Robin Thicke und dem Rapper T.I. – und die Geschworenen in Los Angeles haben entschieden, dass es Marvin Gayes „Got to Give It Up“ aus dem Jahr 1977 zu sehr ähnelt.



Die Ähnlichkeit des Songs "Blurred Lines" mit Marvin Gayes "Got to Give it up" kostet Pharrell Williams 7,4 Millionen Euro.

Der 41-jährige Williams und der 38-jährige Thicke müssen als Autoren des Hits knapp 7,4 Millionen Dollar an die Nachkommen von Gaye bezahlen, der Rapper T.I. und das Plattenlabel Interscope wurden nicht belangt. Gaye ist 1984 von seinem Vater erschossen worden, er hatte sein geistiges Eigentum seinen Kindern Nona, Frankie und Marvin III. vermacht. Die hatten schon im August 2013 geklagt. Nona sagte nach dem Urteil: „Ich fühle mich jetzt frei – befreit von den Ketten von Pharrell Williams und Robin Thicke und den Lügen, die erzählt wurden.“

Der Prozess war deshalb interessant, weil er auch einen Einblick lieferte in den Entstehungsprozess kommerziell erfolgreicher Songs und eine ganze Branche. Auch wenn bei den Anhörungen stets von Kreativität, Inspiration und Hommage die Rede war, ging es zunächst einmal um sehr viel Geld.

Schon die Anklageschrift machte deutlich, dass die Gaye-Erben das Vermächtnis ihres Vaters nicht dadurch ehren wollen, indem „Blurred Lines“ nie mehr im Radio gespielt wird und sämtliche Downloads und Konzerte verboten werden – es ging einzig um finanzielle Kompensation. Eine einstweilige Verfügung will der Anwalt der Gaye-Familie erst jetzt anstreben.

Dazu musste erst einmal festgestellt werden, wie viel sich mit so einem Song heutzutage eigentlich verdienen lässt, wo doch die Musikindustrie – je nach Metapher – noch immer am Boden liegt, in den Seilen hängt oder den Bach runtergeht. „Blurred Lines“ führte in vierzehn Ländern die Charts an, alleine in den USA wurde der Song mehr als sieben Millionen Mal verkauft, dazu hörten ihn laut Interscope mehr als 242 Millionen Menschen im Radio. Es kam auch heraus, dass der Song durch Verkäufe, Downloads und Videostreams 23,8 Millionen Dollar eingespielt hat – Konzerterlöse, Einnahmen aus Folgeprojekten (Williams etwa verdiente als Juror der TV-Sendung „The Voice“ etwa acht Millionen Dollar) und Merchandising wurden nicht mitgerechnet. Nach Abzug der Vermarktungs- und Distributionskosten von sieben Millionen Dollar sollen Williams und Thicke jeweils mehr als sieben Millionen Dollar verdient haben.

Anschließend ging es darum, wie das Lied mit den frivolen Textzeilen und dem auf Skandal getrimmten Oben-Ohne-Video eigentlich zustande gekommen ist. In mehreren Interviews hatte Thicke angegeben, dass er sich von Williams einen Song wie „Got To Give It Up“ gewünscht habe. Williams wiederum hatte in Interviews gesagt, dass er beim Komponieren „so getan habe“, als sei er Marvin Gaye. Während der Verhandlungen zeichneten sie dann ein anderes Bild von der Entstehung: Thicke gab an, ohnehin andauernd zugedröhnt gewesen zu sein („high von Alkohol und Vicodin“). Williams behauptete, das Lied innerhalb einer Stunde geschrieben, in der gleichen Nacht mit Thicke in den Glenwood Place Studios im Norden von Los Angeles aufgenommen und den Rap von T.I. kurz darauf hinzugefügt zu haben. Einer der kommerziell erfolgreichsten Songs des Jahres 2013 wurde also in weniger als 24 Stunden produziert.

„Als Künstler bekommt man einen Kick, wenn man neue Dinge über den Äther sendet. Das Letzte, was man möchte, ist von jemandem zu nehmen, den man liebt“, sagte Williams in der Verhandlung, gestand beim Vorspielen der beiden Basslinien jedoch: „Das hört sich an, als würden Sie das gleiche Ding spielen.“ Natürlich sei das Haupt-Instrument ein Fender-Rhodes-Keyboard, es gebe diese prägende Basslinie und eine Kuhglocke komme auch noch vor. Die Nachkommen von Gaye würden jedoch, so sagt Williams, darauf bestehen, nicht nur einen Song zu besitzen, sondern ein komplettes Genre: „Ich habe nicht kopiert, sondern nur gefühlt. Ich habe den Vibe der späten Siebzigerjahre kanalisiert.“

Durch diese Aussage wurde der Prozess natürlich noch einmal auf eine andere, größere Ebene gehoben. Nicht nur im Mainstream-Pop, auch in anderen Genres wie Hip-Hop und Heavy Metal verschwimmen mitunter die Grenzen zwischen Hommage und Plagiat. Künstler beziehen sich aufeinander, schicken sich gegenseitig Referenzen, entwickeln Werke weiter. „The Message“ von Grandmaster Flash & The Furios Five etwa ist eine politisierte Fortsetzung des Partyklassikers „Rapper’s Delight“ der Sugarhill Gang, „Jungle Boogie“ von Kool & The Gang kommt in Songs von Madonna, Janet Jackson und den Beastie Boys vor, James Brown und Public Enemy sind laut WhoSampled die am häufigsten zitierten Künstler.

Das gehört zur Musikgeschichte mit dem einen Unterschied, dass diese Referenzen heutzutage in Datenbanken gesammelt sind – jederzeit abrufbar, aber auch jederzeit überprüfbar. Und mit dem zweiten Unterschied, dass Thicke und Williams ihre musikalische Hommage nicht versteckt verschickten, sondern den künstlerischen Wert ihres Werks dadurch erhöhen wollten, indem sie in zahlreichen Interviews damit prahlten, sich an Marvin Gaye orientiert zu haben. Und natürlich mit dem dritten Unterschied, dass sich bei „Blurred Lines“ eine Klage und ein langwieriges Gerichtsverfahren aufgrund der zu erwartenden Millionen tatsächlich lohnte. Musikwissenschaftler und Anwälte erwarten nun, dass das Urteil weitere Klagen zur Folge haben werde.

Williams’ Anwalt Howard King sagte: „Dieses Urteil betrifft die Kreativität junger Menschen, die darauf hoffen, auf den Schultern anderer Musiker stehen und Kunst schaffen zu dürfen.“ Natürlich meinte er damit vor allem seinen Mandanten. Der hatte im vergangenen Jahr über seine Plattenfirma erlaubt, dass jeder seinen Song „Happy“ verwenden und damit Videos drehen darf. Millionen Menschen klatschten in die Hände, sie fühlten sich ein paar Minuten lang wie ein Zimmer ohne Dach und wussten, was Glücklichsein bedeutet.

Auf und ab

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Für die Finanzierung seines Buchladens habe sich seine Hausbank nicht erwärmt, erzählt Klaus Bittner. Wenn er mit Maschinen handeln wollte, ja, dann könne man miteinander reden, bekam er zu hören, aber nicht bei Büchern. Und Sicherheiten hatte er auch kaum: „einen R 16, einen Haufen Bücher und 7000 DM“. Auch andere Banken gaben ihm Ende der Siebzigerjahre einen Korb. Dabei war die Welt des Buchhandels damals noch ziemlich heil. Die Leute kauften ihre Bücher oft beim Buchhändler um die Ecke, den es auch noch überall in der Provinz gab. Amazon, das Schreckgespenst der Buchhändler, gründete Jeff Bezos erst 1994.

Bittner hat dann aber doch noch eine Bank überzeugt, und so sitzt er gut gelaunt auf dem schwarzen Sofa im hinteren Teil seines Ladens in der Kölner Innenstadt und plaudert über die Lage des Buchmarktes, während die ersten Kunden den Laden betreten. Er hat sich in dem schwierigen Markt behauptet und gehört auch zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe „5Plus“, eines Zusammenschlusses von mittlerweile acht literarisch ausgerichteten Buchhändlern aus dem deutschsprachigen Raum, die sich 2009 fanden.
 


Amazon vertreibt die Kunden mit Berichten über prekäre Arbeitsbedingungen. Unabhängige Buchhändler profitieren davon

Eine Allianz von Individualisten? Bittner war anfangs skeptisch gewesen, aber er hat sich gerne eines Besseren belehren lassen. Die „riesige Resonanz“ habe ihn überrascht, sagt er, vielleicht seien die Medien froh gewesen, dass da einige Buchhändler mal nicht jammerten über den scheinbar uneinholbaren Siegeszug des Internethandels, sondern ein Zeichen setzten. Ihm habe die Aktion viele neue Kunden beschert. Es gebe sogar welche, die es sich zum Ziel gemacht hätten, alle beteiligten Buchhandlungen zu besuchen: Da komme dann jemand und sage, „ich war bei Ihrem Kollegen in München und soll Sie herzlich grüßen“.

Es gibt aber auch viele Einzelkämpfer: Als Frithjof Klepp 2012 seinen Buchladen gründete, legte er die Messlatte hoch. Über dem Laden in Berlin Mitte prangt selbstbewusst der Slogan: „Ocelot, not just another bookstore“. Der Name der Raubkatze symbolisierte die Unabhängigkeit eines Buchhändlers, der selbst entscheidet, was er in die Regale stellt, und der fest davon überzeugt ist, dass er dem Kunden einen Mehrwert gegenüber dem Suchalgorithmus des Internets bieten kann. Klepp hatte seit 1996 eine Menge Erfahrungen im Buchhandel gesammelt, im klassischen Buchgeschäft genauso wie beim Online-Buchhandel. In seinem Laden wollte er das Beste aus beiden Welten verbinden und bot deswegen neben ausgewählten Büchern auch elektronische Lesegeräte an, gründete einen Online-Shop. Den Standort des Ladens wählte er geschickt, gleich neben der Stadtteilbibliothek mit Hunderten Besuchern täglich. Klepp schuftete und bloggte, organisierte und rechnete und übernahm selbst Schichten an der Espressobar im Laden – bald war er selbst eine Marke.

„Frithjof Klepp hat mit dem Ocelot-Projekt einen Netzraum geschaffen, durch den wir uns bewegen können (...) Erworben wird der Anschluss an ein Netzwerk, das die Atmosphäre in unseren Taschen bis an die Orte trägt, wo wir die Bücher aufschlagen und weiterlesen“, jubelte zum einjährigen Bestehen Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste in Berlin. Ein Jahr später folge die große Ernüchterung: Klepp meldete Insolvenz an. Er habe sich verkalkuliert, so habe er die Anlaufkosten des Online-Handels zu gering veranschlagt. Klepp ging in die Offensive, wohl von der Hoffnung getragen, jemanden zu finden, der mit einsteigt in den Laden, in den er so viel Herzblut gesteckt hatte. Anhänger organisierten einen Flashmob, verabredeten sich also, um gemeinsam auf einen Schlag in dem Laden einzukaufen. Sie riefen Social-Media-Aktionen wie Supportocelot ins Leben. „Danke“ prangt in diesen Tagen in großen Lettern auf dem Schaufenster der Buchhandlung. Gereicht hat es aber nicht.

Klaus Bittner hat den Durchbruch zu dem hinteren Teil des Ladens selbst gestemmt, seitdem ist er 122 Quadratmeter groß. Die Schwerpunkte waren von Anfang an moderne Literatur, Lyrik und Bühnenliteratur. Das habe sich im Laufe der Jahre inhaltlich nicht wesentlich geändert – „das eine ist gewachsen, das andere kleiner geworden“, sagt er. Heute gibt es jedoch auch Kochbücher und Kinderbücher im Sortiment, auf Wunsch von Mitarbeitern. Er gab ihnen freie Hand. Fragt man ihn nach seinem Erfolgsrezept, dann spricht er vor allem von seinem Team, das er in den höchsten Tönen lobt. Jeder von ihnen ist auf der Suche nach Perlen im Meer der Neuerscheinungen. Weil die Kunden ihnen vertrauen, verkaufen sie auch von unbekannteren Titeln schon einmal 200 bis 500 Exemplare. Vor allem müsse man ehrlich zu den Kunden sein, sagt Bittner und erzählt eine Anekdote seines Lehrmeisters. So hätten die Auszubildenden früher gelernt, dem Kunden alleine wegen eines Covers etwas über ein Buch zu erzählen, ohne den Klappentext, geschweige denn eine Zeile des Buches gelesen zu haben. Er wisse nicht, ob die Anekdote stimme, aber so etwas könne man nicht machen.

Bittner zufolge hat sich die Lage für kleinere Buchhändler seit ein bis zwei Jahren zum Besseren gewendet: „Wir bekommen mehr Zulauf, und der Umsatz ist wieder konstanter.“ Profitiert habe man sicher auch von der Berichterstattung über die Arbeitsbedingungen bei Amazon. Immer wieder erzählten ihm Kunden, dass sie dort nicht mehr einkauften. „Da sage ich wunderbar, danke!“ Die Zahl der Laufkundschaft habe zugenommen, daneben gebe es jedoch viele Stammkunden, einige mit einer im Zeitalter des jederzeit „Überallbesorgenkönnens“ unglaublichen Loyalität. Da sei ein Kunde aus Berlin, der drei Mal im Jahr vorbeikomme, um all das abzuholen, was er zwischendurch bestellt habe, und was in einem eigens für ihn im Keller eingerichteten Fach gelagert worden sei. Ein anderer Kunde half Bittner über die schwierigen Anfangsjahre hinweg. Der vermögende Kölner beauftragte ihn, für seine drei Kinder eine Privatbibliothek über moderne Literatur zusammenzustellen. Alle 14 Tage trafen sie sich und besprachen Neuanschaffungen, zwei Jahre lang.

Trotzdem war es mühselig. Die Miete und die Gehälter für die Mitarbeiter waren fix, also habe er vor allem bei sich gespart, erzählt Bitter, der sich in den ersten Jahren 250 DM, später lange Zeit 500 DM auszahlte. Das Geschäft lief mit der Zeit besser, zumal er auch für Bibliotheken und Institute den regelmäßigen Ankauf von Büchern übernahm. Seit 15 Jahren geht es richtig „gut“, erzählt er. Wichtig sei es wohl, dass „wir uns inhaltlich treu geblieben sind“, sagt Bittner, dessen Sache es nie wäre, Kaffee oder Schokolade anzubieten. Das Internet ist für ihn ein unverzichtbares Hilfsmittel und er liebäugelt auch damit, einen speziellen Online-Shop anzubieten, in dem die Kunden Bücher finden, die längst vergriffen, bei ihm aber noch zu haben sind – ob bestimmte Lyrikbände oder Literatur aus Lateinamerika. „Ich muss doch meinen Keller leer kriegen“, scherzt er.

Ocelot-Gründer Frithjof Klepp ist hingegen bei einem Telefonat im Februar gar nicht fröhlich zumute. „Es sieht nicht gut aus“, sagt der Buchhändler schmallippig und verweist an die Insolvenzverwalter von der Kanzlei Wallner-Weiss. „Der Geschäftsbetrieb werde Mitte März eingestellt“, sagt dort eine Mitarbeiterin. Eigentlich habe man ja eine Perspektive für den Weiterbetrieb gesehen, aber Klepp habe sich anders entschieden. Wieso und weshalb, ist nicht zu erfahren, auch nicht von Klepp selbst. Er lässt die Nachrichten auf seinem Handy unbeantwortet, und der Laden ist zeitweise geschlossen. „Achtung, Ocelot ist krank. Die Grippewelle hat nun auch uns erwischt“, steht auf einem Schild.

Klaus Bittner hat kürzlich seinen 65. Geburtstag gefeiert – im Sommer steht das 35-jährige Bestehen seiner Buchhandlung an. Er hat mit seiner Frau darüber geredet, ob er weitermachen solle, und sich dafür entschieden. Der niedrige Rentenbescheid mag eine Rolle gespielt haben, materiell reich wird man auch als erfolgreicher Buchhändler nicht, aber vor allem liebt Bittner sichtlich seinen Beruf und die Bücher. Zu Hause hat er seit einem Umzug nur noch die wichtigsten Bücher, „drei Regalmeter Essenz“, sagt er, andere habe er an die Hilfsorganisation Oxfam gespendet oder verkauft. Wenn er jetzt etwas daheim lese und einen bestimmten Text brauche, wie zuletzt einen von dem Schriftsteller Thomas Bernhardt, dann gehe er in seine Buchhandlung, „ich wohne ja nur hundert Meter weg“.

Bittner weiß aber, dass es nicht nur darauf ankommt, ein neugieriger, belesener und begeisternder Buchhändler zu sein, wenn man Erfolg haben will. „Natürlich schützt uns die Buchpreisbindung, das ist ein unfassbares Privileg“, sagt er, und erzählt von einem Besuch in Polen. Dort gebe es ein Sterben der Buchläden, weil es keine Buchpreisbindung gebe. Deswegen böten die großen Ketten Neuerscheinungen mit Rabatten von teils 40 Prozent an, einem Preis, bei dem kein kleiner Buchhändler mithalten könne, „da bricht dann alles zusammen“. Der Erhalt kleiner unabhängiger Buchläden sei eben auch eine „politische Entscheidung“.


Zweite Wahl

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Hillary Clinton hat ihr Mailverhalten erklärt. Nur „aus Bequemlichkeit“ habe sie während ihrer vier Jahre als Außenministerin ausschließlich eine private E-Mail-Adresse genutzt, sagte sie am Dienstag auf einer Pressekonferenz in New York. Sie habe nicht ständig zwei Mobilgeräte mit sich herumschleppen wollen. Gegen das Gesetz verstoßen habe sie nie.



Die Email-Affäre um Hillary Clinton beunruhigt die Demokraten.

Ausgestanden ist die Sache damit nicht. Hillary Clinton, die in den kommenden Wochen wohl ihre Kandidatur fürs Weiße Haus 2016 erklären wird, hat mit der Verwendung eines privaten Servers die automatische Archivierung ihrer Korrespondenz umgangen. Ihre Gegner fühlen sich bestätigt: Sie sehen die Clintons als arrogante Machtmenschen, die sich an Regeln nicht gebunden fühlen – als Figuren wie aus der Erfolgsserie „House of Cards“.

Clintons Auftritt hat die Lage nicht entschärft. Zwar berichtete sie, dem Außenministerium 30490 E-Mails auf 55000 ausgedruckten Seiten übergeben zu haben. Das Material wird nun (auf Kosten des Steuerzahlers) für eine Publikation aufbereitet. Weitere 32000E-Mails allerdings habe ihr Team gelöscht. Alles private Nachrichten, versicherte Clinton, worin es etwa um Yogapositionen oder die Beerdigung ihrer Mutter gegangen sei. Die Bevölkerung werde verstehen, dass sie solche Post nicht öffentlich machen wolle. Dass sie ehrlich ausgewählt hat, nichts verschwinden ließ, darauf soll das Land vertrauen. „Die Auslöscherin der freien Welt“, titelte das Boulevardblatt NY Post.

Die E-Mail-Affäre beunruhigt die Demokraten. Ihre bisher einzige wahrscheinliche Kandidatin für 2016 ist angreifbarer, als es zu sein schien. Was, wenn noch ernstere Probleme kommen? Wird man dann das Feld mangels Alternative den Republikanern überlassen müssen? „Wir brauchen Optionen“, sagt Boyd Brown, ein Mitglied des nationalen Parteiausschusses.

Auf Brian Schweitzer kann man nicht bauen. Der frühere Gouverneur von Montana galt vorigen Sommer noch als möglicher Clinton-Herausforderer. Reporter namhafter Zeitschriften besuchten ihn auf seiner Ranch im Nirgendwo und ließen sich erzählen, was er alles besser machen würde als Hillary. Schweitzer war erfrischend ungehobelt und spontan, das Gegenteil eines Berufspolitikers. Doch sein loses Mundwerk wurde ihm zum Verhängnis. Schweitzer witzelte gegenüber einer Reporterin über die angeblich „weibischen Männer“ des US-Südens und verglich die 81-jährige Senatorin Dianne Feinstein mit einer Prostituierten, die sich in der Frage der NSA-Überwachung als Nonne ausgebe. Die Empörung war groß, Schweitzer musste sich entschuldigen. Wer dermaßen „ungefiltert“ rede, schrieb die Washington Post, könne keinen Wahlkampf überstehen. Seither ist es still um Schweitzer.

Gerne zur Verfügung stellen möchte sich Joe Biden. „Die Möglichkeit besteht“, sagte der Vizepräsident über eine Kandidatur 2016. Große Chancen aber mag man ihm nicht bescheinigen. Erstens müsste Biden als Vertreter des Status quo antreten, als Verlängerer der Obama-Jahre. Zweitens bestehen Zweifel an seiner Sachkompetenz; sein Drang zur Witzelei schafft immer wieder peinliche Momente. Und schließlich ist Biden 72 Jahre alt. Nicht gerade eine junge Kraft für Amerika.

Auch Bernie Sanders, unabhängiger Senator aus Vermont, ist mit 73 Jahren nicht mehr der Jüngste. Trotzdem scheint er sich für eine Kandidatur zu interessieren. Dass er es nicht bis zur Nominierung schaffen wird, dürfte ihm selber klar sein: Sanders bezeichnet sich als Sozialisten, was ihn für eine Mehrheit der Amerikaner unwählbar macht. Nicht so schlimm für die Demokraten; Sanders glaubt ohnehin nicht an die Partei: „Viele meiner größten Unterstützer sagen mir: Bernie, bleib weg von der verdammten demokratischen Partei, trete als Unabhängiger an.“

Ebenfalls am linken Rand steht Elizabeth Warren, Senatorin aus Massachusetts. Mit ihren Spitzen gegen das große Geld der Wall Street ist die 65-Jährige eine Anti-Hillary. Viele Demokraten beknien Warren, eine Kandidatur ins Auge zu fassen. Das von Ungleichheit geplagte Land brauche eine Kämpferin wie sie. Bislang will Warren nichts davon wissen.

Bleibt im Moment nur Martin O’Malley. Der ehemalige Gouverneur von Maryland gilt als gescheit und leistungsstark. Eben hat er sachte Kritik an Clinton geäußert, die Bedeutung der Transparenz in der Politik betont. Von Obama nahm er Abstand, indem er sich für forschere Außenpolitik aussprach. O’Malley ist 52 Jahre alt, verheiratet und spielt Banjo in einer Feierabendband. Alles stimmt. Sein Problem ist, dass er bei bisherigen Großauftritten seltsam blass blieb. Was seine dringenden Anliegen für Amerika sind, ist unklar. Im Frühling will O’Malley entscheiden, ob er eine Kandidatur wagt.

Eine Welt ohne fette Katzen

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Es ist eine ziemlich heile Welt, von der Matthias Knecht erzählt. Da braucht ein Bauer Geld, um ein Pferd zu kaufen oder um seinen Hof zu erweitern. Also legen die Leute aus dem Dorf zusammen, der Bauer kann in der Folge noch besser wirtschaften. Bald hat er den Dörflern den Kredit zurückgezahlt, inklusive satter Zinsen natürlich. Eine Geschichte, in der alle glücklich sind, weil alle gewinnen.
Und dann kamen die Banken.

In Matthias Knechts Erzählung drängten sie sich irgendwann dreist zwischen diese harmonische Verbindung – „fette Katzen, die sich einen Großteil der Marge schnappen“: Fortan waren sie es, die Kredite vergaben. Auf der anderen Seite speisten sie private Investoren mit ein paar Prozenten auf ihre Einlagen ab.  



Zencap vermittelt Investoren und Kreditnehmer ohne dabei Banken zu involvieren

Wenn es nach Knecht geht, soll die Sache in Zukunft wieder ohne Banken laufen, zumindest ein bisschen. Gemeinsam mit Christian Grobe hat er Zencap gegründet, eine Internetplattform, über die Investoren und Kreditnehmer zusammenfinden sollen – einfach, schnell, transparent. Und vor allem ohne Banken.
Braucht ein kleines oder mittelständisches Unternehmen einen Kredit, muss es sich bei Zencap bewerben. Dort sitzen Analysten, die das Unternehmen und sein Vorhaben unter die Lupe nehmen. Das ist aufwendig und kostet Zeit – und geht doch blitzschnell: Binnen 48 Stunden soll die Zu- oder Absage da sein, so das selbst gesetzte Ziel bei Zencap. Leidgeprüfte Unternehmen berichten immer wieder, dass eine Bewilligung bei ihrer Hausbank auch schon mal ein paar Wochen dauern kann.

Allerdings ist es oft eine abschlägige Antwort, die die Antragsteller von Zencap bekommen. Etwa drei Viertel der Kreditwünsche schaffen es gar nicht erst auf das Portal. „Wir sind ja keine Resterampe“, sagt Gründer Knecht. Ziel sei es nicht, Unternehmen Kredite zu verschaffen, die anderswo kein Geld bekommen. Im Gegenteil; wer es bei Zencap schafft, der bekäme das Darlehen auch bei seiner Bank. Nur würde es dort länger dauern, und die Sache wäre weniger flexibel. Zencap selbst übrigens würde über die eigene Plattform kein Geld bekommen: Dafür ist das Unternehmen mit gerade einmal einem guten Jahr noch zu jung. Stattdessen stieg Rocket Internet ein, der Start-up-Investor der drei Samwer-Brüder.

Auch die Zinskonditionen sind bei Zencap vergleichbar mit anderen Angeboten. Das Geld, das gespart wird, weil keine Bank mitverdient, soll an die Investoren fließen – und an Zencap natürlich. Einen Prozentpunkt nimmt die Plattform für ihre Dienste. Für den Geldgeber bleibt ein Zins zwischen derzeit 2,99 Prozent und 14,64 Prozent, je nach Bonität des Kreditnehmers.

Das Bereitstellen von Unternehmenskrediten, lange eine ureigene und exklusive Aufgabe von Banken, geht mit Zencap also auf den Privatanleger über. Mitsamt der Rendite, aber auch mitsamt dem Risiko. Denn das Vergeben eines Kredits ist nun einmal nicht nur lukrativer als ein Sparbuch, es ist auch weniger verlässlich: Geht der Kreditnehmer pleite, ist das investierte Geld zumindest teilweise weg.

Die Prüfung, der Zencap die Unternehmen unterzieht, soll verhindern, dass so etwas allzu oft passiert. Ausschließen kann sie es nicht. Von den 160 Krediten mit einem Gesamtvolumen von etwa zehn Millionen Euro, die seit dem Start von Zencap vor zehn Monaten ausgezahlt wurden, ist bislang ein Geschäft ausgefallen: Ein Logistik-Unternehmen, dem seine Investitionen in Russland zum Verhängnis wurden.
Wer über Zencap investiert, brauche die Kreditnehmer also nicht zu analysieren, meint Knecht. Was er allerdings tun muss, ist sich über seine Risikobereitschaft klar zu werden. Zencap ordnet die Unternehmen dafür in sechs Risikoklassen ein, mit rechnerischen Ausfallwahrscheinlichkeiten zwischen 0,03 Prozent und 12,2 Prozent. Der Anleger muss nur auswählen: Höheres Risiko und höhere Zinsen oder lieber Sicherheit und dafür weniger Zinsen.

Derzeit suchen über die Plattform 24 Unternehmen einen Kredit. Da ist etwa eine Berliner Schuhboutique, die 25000 Euro will, um ihre Betriebsmittel zu erhöhen oder ein Vermieter von mobilen Heizgeräten braucht 100000 Euro, um seine Mietflotte zu vergrößern. Bis zu 250000 Euro können Firmen über Zencap einsammeln. Die meisten Summen sind so klein, dass sich das Geschäft für Banken mit ihrem riesigen Apparat nicht lohnen würde.

Eine zusätzliche Option für die private Geldanlage soll Zencap Anlegern bieten. Sicher nichts für das gesamte Vermögen, aber als Beimischung in Zeiten von verschwindenden Guthabenzinsen und Rekord-Aktienkursen dürften solche Mittelstandskredite für so manchen Anleger tatsächlich interessant sein.
Ganz ohne Bank geht es indes auch bei Zencap nicht, so will es die Finanzaufsicht. Als Abwickler im Hintergrund ist daher die Wirecard-Bank dabei. Und auch sonst sieht Knecht nicht völlig schwarz für die traditionellen Institute: „Für gewisse Funktionen werden wir Banken weiterhin brauchen“, sagt er. Immerhin.

Bremsung bei voller Fahrt

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Dies sei nun wirklich die letzte Warnung, teilte die BBC ihrem Moderator Jeremy Clarkson vor knapp einem Jahr mit: Wenn er noch einziges Mal jemanden beleidige oder sich sonstwie unkorrekt verhalte, fliege er raus. Clarkson witzelte daraufhin, nicht einmal der Erzengel Gabriel würde sich unter diesen Umständen lange im Job halten können. Nun hat die BBC ernst gemacht: Clarkson wurde suspendiert, zudem wurden drei bereits gedrehte Folgen der von ihm moderierten Autoshow Top Gear aus dem Programm gestrichen.
Am Montag hatte sich ein Mitarbeiter der Sendung intern darüber beschwert, dass Clarkson ihn bei Dreharbeiten in der vergangenen Woche geschlagen habe. Am Dienstag sprach die BBC die Suspendierung aus. Man wolle den Vorfall untersuchen und vorerst keine weiteren Kommentare abgeben. Die Sun, in der Clarkson eine Kolumne schreibt, zitiert ihn mit den Worten: „Ich werde ein schönes kühles Bier trinken und warten, bis der Sturm vorüberzieht.“ Er streite ab, jemanden geschlagen zu haben.

Clarkson ist der vielleicht umstrittenste Moderator des Vereinigten Königreichs. Millionen Fans lieben ihn für seinen derben Humor und dafür, dass er sich um politische Korrektheit kein bisschen schert. Seine Gegner halten ihn für ein rassistisches und sexistisches Fossil. Mit seinen Äußerungen sorgt Clarkson immer wieder für Ärger. Den früheren Premierminister Gordon Brown, der ein Glasauge hat, bezeichnete er einmal als „einäugigen, schottischen Idioten“. Mit seinen Co-Moderatoren Richard Hammond und James May philosophierte er in einer Top Gear-Folge darüber, dass der Mexikaner an sich faul und nichtsnutzig sei und überdies zu Blähungen neige, und dass mexikanisches Essen aussehe wie aufgewärmte Kotze. Der mexikanische Botschafter protestierte, die BBC entschuldigte sich. In einer Folge über Indien ließen die Männer eine Toilette in ein Auto einbauen, weil „jeder, der hier hinkommt, sofort Durchfall kriegt“. Auch in diesem Fall gab es eine Beschwerde.



Clarkson selbst ist von seiner Suspendierung eher unbeeindruckt. Es ist nicht das erste Mal, dass er Negativschlagzeilen macht

Zuletzt häuften sich die Vorfälle. In einem nie gesendeten Clip nutzt Clarkson einen alten Reim, um sich zwischen zwei Autos zu entscheiden. Dabei soll er das Wort „Nigger“ verwendet haben. Er entschuldigte sich und sagte, er hasse dieses Wort. Im Oktober waren die Moderatoren in Argentinien in einem Auto mit dem Nummernschild H982 FKL unterwegs, was als Anspielung auf den Falkland-Krieg von 1982 interpretiert wurde. Das Team wurde attackiert und musste das Land fluchtartig verlassen. Das Nummernschild sei ein unglücklicher Zufall gewesen, hieß es später, man habe niemanden beleidigen wollen.

Dass die BBC trotz aller Kontroversen so lange zu Clarkson stand, liegt daran, dass seine Sendung äußerst erfolgreich ist. Geschätzt 350 Millionen Zuschauer weltweit haben die Show bereits gesehen, in der die Männer Autos testen und dabei Witze reißen. Etwa 150 Millionen Pfund hat die BBC bisher mit dem Verkauf der Rechte eingenommen. Das die Reihe begleitende Top Gear Magazine erscheint weltweit in einer Auflage von 1,7 Millionen Exemplaren. Zudem treten die Moderatoren in Live-Shows auf, die regelmäßig ausverkauft sind. Der Kartenvorverkauf für zwei Auftritte in Norwegen Ende dieses Monats läuft einstweilen weiter. Clarkson ist an Lizenz- und DVD-Verkäufen beteiligt, was ihm jährlich mehr als zwei Millionen Pfund einbringt.

Clarksons Fans sind über die Suspendierung empört. Noch am Dienstagabend wurde im Internet eine Petition gestartet. Unter dem Titel „BBC: Bring Back Clarkson“ wird gefordert, dass der Sender die Suspendierung aufhebt. Bis Mittwochnachmittag hatten mehr als 400000 Menschen unterschrieben.

Brotzeit anno 1750

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Drei Stück Grillkohle, zwei Würstchen, die durch den Rost gefallen und nie aus der Glut geholt worden sind, ein undefinierbares schwarzes Etwas, das angeknabbert wirkt: So sieht die archäologische Sensation also aus, die am Mittwoch in Regensburg der Öffentlichkeit präsentiert wird. Mit den Resten eines Gartenfests haben die historischen Funde jedoch nichts zu tun, sehr wohl aber mit Essen.

Zur „archäologischen Brotzeit“ hat das Landesamt für Denkmalpflege voller Stolz eingeladen. Man muss allerdings schon sehr genau hinschauen, um die verkohlten Gebäckstücke als das zu erkennen, was sie einmal waren: drei Semmeln, die Teile zweier Brezen sowie ein Kipferl. Entdeckt wurden sie bei Ausgrabungen auf dem Regensburger Donaumarkt, wo in drei Jahren das Museum der Bayerischen Geschichte eröffnet werden soll. Nicht nur unter wissenschaftlichen Maßstäben sind die Relikte spektakulär: Es handele sich „garantiert um die älteste physische Breze“, die jemals gefunden worden sei, sagt Denkmalpflegerin Silvia Codreanu-Windauer. Untersuchungen mit der Radiokarbonmethode haben ergeben, dass die Backwaren aus dem 18. Jahrhundert stammen.  



Durch das Missgeschick eines Bäckers konnte eine gut erhaltene jahrhundertealte Breze ausgegraben werden. Forscher sind beeindruckt vom Fund eines organischen Materials

Keramikarbeiten und Knochen, Metallgegenstände und Glas – damit sind Archäologen auf ihrer Suche nach der Vergangenheit vertraut. Organisches Material wie in diesem Fall hingegen löst bei ihnen besondere Glücksgefühle aus. Zu verdanken hat die Nachwelt diesen Schatz vermutlich dem Malheur eines Bäckermeisters. Sie könne sich gut vorstellen, wie sich die Sache damals zugetragen habe, sagt die Historikerin Codreanu-Windauer: wie dem Bäcker eine Ofenladung mit Waren verbrannt sei und er sie wütend weggeworfen habe. Nur deshalb konnten sie überdauern.

Dass es sich um handwerkliches Missgeschick und nicht etwa um eine Feuerkatastrophe handelte, gilt aufgrund weiterer Forschungen als sehr wahrscheinlich. Gefunden wurden die verkohlten Semmeln und Brezen auf einem Grundstück am früheren Hunnenplatz 3 – in der Nähe einer Mauer im Hinterhof eines riesigen Anwesens. Eine Kuhle im Boden diente offenbar als Ort, um Abfälle zu entsorgen.

In dem Haus befand sich über Generationen hinweg eine Bäckerei. Das wisse man aus sogenannten Siegelprotokollen, in denen Einträge über frühere Besitzer enthalten sind, wie der Regensburger Stadtarchäologe Lutz Dallmeier erklärte. Sie belegen auch, dass 1753 ein gewisser Johann Georg Held die Bäckerei übernommen hat. Nach ihm ist wohl auch das „Heldengässchen“ benannt, das hier vorbeiführte. Womöglich war Held es auch, der die Semmeln und Brezen zu lange im Ofen gelassen hatte. Bei ihren Nachforschungen sind die Historiker auf Archivmaterial angewiesen: Das Gebäude, das seit romanischer Zeit bestand, wurde 1964 wie der Großteil des Viertels abgerissen. Die Bäckertradition in dem Haus ging bereits 1881 zu Ende.

Über den Geschmack der Backwaren lässt sich wenig sagen: Hauptzutat war vermutlich weißes Mehl, über alles weitere könne man nur spekulieren. Wie in alten Handwerkszünften üblich, dürfte das Wissen mündlich von Generation zu Generation weitergegeben worden sein. Rezepte suchten die Historiker jedenfalls vergeblich. Unbekannt sei auch, welche weiteren Bestandteile zu einer typisch bayerischen Brotzeit im 18.Jahrhundert gehörten. Mitunter stößt die Wissenschaft eben an ihre Grenzen: „Den Leberkäse hätte bestimmt der Hund des Bäckers gefressen“, scherzte Codreanu-Windauer.

Gesichert ist die Erkenntnis, dass die Breze damals zu den feineren Lebensmittel zählte, als Fastenspeise war sie etwas Besonderes. Dass sie mit Lauge bestrichen war, ist nicht anzunehmen – zumindest wenn die Legende vom Münchner Bäcker Anton Nepomuk Pfannenbrenner stimmt: Der soll die Breze in ihrer heutigen Form erfunden haben, weil er sie statt mit Zuckerwasser versehentlich mit Natronlauge beträufelte. Allerdings erst anno 1839 und damit ein paar Jahrzehnte nach dem Regensburger Fundstück. Auch Debatten über Aluminiumrückstände in Brezen dürften damals noch unbekannt gewesen sein.

Aus historischer Sicht haben sich die Grabungen am Donaumarkt gelohnt. Vor den Backwaren hatten Forscher bereits eine Hinrichtungsstätte aus dem Mittelalter sowie einen etwa 1000 Jahre alten hölzernen Bohlenweg entdeckt. 2018, zum 100-jährigen Bestehen des Freistaats, soll das Museum der Bayerischen Geschichte öffnen, in etwa drei Monaten ist Grundsteinlegung. Die Semmeln, Brezen und Kipferl jedoch werden bis auf weiteres im Historischen Museum der Stadt zu sehen sein. Wer die Gegenwart verstehen wolle, müsse aus der Vergangenheit lernen, sagte Oberbürgermeister Joachim Wolbergs. Und sei es nur, dass auch kleines Missgeschick eines Tages von großem Nutzen sein kann.

Was auf dem Foto wie die Hinterlassenschaft einer Katze ausschaut, ist der Rest einer verkohlten Breze aus dem 18. Jahrhundert. Zur Verdeutlichung liegt sie auf dem Bild einer heutigen Breze. Foto:Thomas Stöckl/Landesamt für Denkmalpflege

Die Kleinen und die Grauen

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Die kleine Leandra ist die einzige, die überhaupt keine Lust auf den Bundespräsidenten hat. Während dieser umjubelt von einer Menschenmenge in der Altstadt von Arnsberg im Sauerland Hände schüttelt, für Selfies posiert und Kinder auf den Arm nimmt, wird das schluchzende Mädchen im lila Mantel drüben in der Kita von seinem Vater abgeholt. Er nimmt es auf den Arm und trägt es an den Polizisten, die gerade die Straßen absperren vorbei. „Zu viel Aufregung vielleicht“, ruft eine Kindergärtnerin den beiden mit einer fahrigen Handbewegung hinterher.



Im Umgang mit grauhaarigen sind die Kinder von Arnsberg geübt – auch gegenüber Bundespräsident Joachim Gauck.

Leandra ist also nicht dabei, als der Bundespräsident wenig später in einen Raum voller Vierjähriger in bunten Hausschuhen tritt, „Hallo, ihr kleinen Mäuse“ sagt und sich ein Lied vorsingen lässt. Von den Kindern, aber auch von den Senioren, die hier regelmäßig zu Besuch sind. Denn seit sieben Jahren sind die Kita „Kleine Strolche“ und das Seniorenheim „Zum Guten Hirten“ Partner: Alle zwei Wochen besuchen sich Kinder und alte Menschen gegenseitig, basteln, backen, singen, spielen. Bei dem Projekt geht es darum, die Alten und Demenzkranken aus der Einsamkeit zu holen und die Jungen mit dem Alter vertraut zu machen.

Ein Ziel, das Bundespräsident Gauck in nächster Zeit in den Fokus rücken möchte. Er hatte immer wieder auf die Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft – oder wie es nun korrekter heißt: einer länger lebenden Gesellschaft – hingewiesen. 2012 hatte er in seiner Weihnachtsansprache Antworten auf diese Entwicklung gefordert. 2013 fragte er bei einem Festakt zur Deutschen Einheit: „Unsere Gesellschaft wird in beispielloser Weise altern und dabei schrumpfen. Wie bewahren wir Lebenschancen und Zusammenhalt?“

Auf der Suche nach diesen Antworten ist der Bundespräsident nun am Mittwoch nach Arnsberg gereist und hat sich dort außergewöhnlich viel Zeit genommen. Vorab hatte er sich bei Fachleuten informiert, bei Ökonomen, Psychologen, Gerontologen und Soziologen. „Dabei fiel der Name Arnsberg immer wieder als positives Beispiel“, sagt Gauck bei seiner Begrüßung.

Der Stadt in der nordrhein-westfälischen Hügellandschaft mit ihren 74 000 Einwohnern gelingt offensichtlich seit Jahren, was vielerorts große Probleme bereitet: Sie integriert alte Menschen, wo immer es geht und entwirft immer neue, preisgekrönte Konzepte.

Vor Jahren schon wurde in Arnsberg eine Fachstelle namens „Zukunft Alter“ eingerichtet. Dort entwickeln eine Sozialpädagogin, ein Geograf und eine Palliativ- und Pflegeexpertin Konzepte dafür, wie alte Menschen besser am Leben im Ort teilhaben können. Und vor allem: Wie ehrenamtliches Engagement der Bürger sinnvoll koordiniert werden kann.

Diesem Engagement begegnet Gauck bei seinem Besuch immer wieder. Im Bahnhof, der auch ein Bürgerzentrum beherbergt und deshalb Bürgerbahnhof heißt, schüttelt er einer von vielen Arnsbergerinnen die Hand, die in blauer Warnweste alten Menschen in die richtigen Busse helfen. Ob sie das in ihrer Freizeit mache, ohne Gegenleistung, fragt Gauck. Sie nickt, die Wangen gerötet, und erzählt davon, wie ihr ein gebrechlicher Mann, dem sie mehrmals den Rollator in den Bus gehoben hatte, schweigend mit kleinem Lächeln eine Schokoladentafel überreicht hat. Eine andere Frau erzählt dem Bundespräsidenten, dass sie ihren Ruhestand damit verbringt, Hilfsbedürftige zu pflegen. „Sie sind schon in Rente?“, fragt Gauck. „Na, da haben Sie sich ja gut gehalten.“

Dann begegnet er einem Demenzpatienten, Hemd, Anzug, breites Lächeln, der erzählt, wie sich seine Frau seit der Diagnose vor fünf Jahren um ihn kümmert, wie aber auch die gesamte Stadt helfe. Der Bundespräsident staunt über die energische Worte. Einen solchen Vortrag hätte er von einem Betroffenen nicht erwartet, sagt er. Die Ehefrau sagt, sie habe ihren Mann auch als Kranken nie verstecken wollen. Der lächelt, schüttelt den Kopf und sagt: „Ne, ne. Da wäre ich ausgebüxt.“

Zum Ende seines Besuchs lobt Gauck die Einstellung, Dinge zu verändern statt zu bejammern. Vor allem aber zeige sein Besuch, dass Ehrenamt ohne Hauptamt nicht funktioniere. Jedes persönliche Engagement brauche professionelle, hauptamtliche Koordinatoren. Arnsberg sei ein Beispiel dafür, was gelingen könne, wenn Land, Stadt, Stiftungen, Bürgerverein und Ehrenamtliche gemeinsam einen Rahmen für besseres Altern schaffen.

Wer zum Beispiel in Arnsberger Modeläden, Bäckereien und Metzgereien an der Kasse steht, hat in der Regel eine Fortbildung für den richtigen Umgang mit demenzkranken Menschen belegt. Die örtliche Bäckerin erzählt dem Bundespräsidenten, schon ihre Auszubildenden lernten, wie man mit älteren Kundinnen umgeht, die zum vierten Mal an einem Tag Brot kaufen. Auch Taxifahrer hätten sich schulen lassen, nachdem dieselben Menschen sich immer wieder an die Orte ihrer Kindheit hätten fahren lassen. „Das gefällt mir so gut, das müssen sie an die Handwerks-kammern weitergeben“, sagt Gauck.

Dass „die Kräfte irgendwann schwinden“ sei in der Gesellschaft ein Tabuthema, kritisierte der Präsident. Für die „Kleinen Strolche“ in Arnsberg nicht. Sie wissen, was es mit der Vergesslichkeit ihrer grauhaarigen Spielkameraden auf sich hat. „Macht ja nix, wenn ich meinen Namen öfter sagen muss“, sagt ein Mädchen mit Pferdeschwanz und rosa Pullover, „so ist das halt mit der Vergesslichkeit.“
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