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Bis nach Grönland

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Allein in den vergangenen Tagen hat Twitter circa 40000 Accounts gelöscht, die offenbar Terroristen des „Islamischen Staats“ (IS) gehörten. Für die selbsternannten Gotteskämpfer ist das ein Problem, denn so sehr sie das westliche Leben verachten, so sehr sind sie auf die sozialen Medien der Erzfeinde angewiesen. Sie rekrutieren über die Plattformen Kämpfer für ihren Krieg, Frauen fürs Leben unter der Burka, sie verbreiten Schrecken mit Videos von Hinrichtungen ebenso wie Propaganda und Haushaltstipps für auswärtige Bombenbastler. Und natürlich kommunizieren auch Terroristen untereinander über Facebook, Twitter und Youtube.  



IS Anhänger haben nun die Vorzüge der sozialen Netzwerke für sich entdeckt

Ein Mann, der Abu Musab heißt oder sich vielleicht auch nur bei der Wahl seines Pseudonyms vom 2006 liquidierten Terroristen Abu Musab al-Zarqawi inspirieren ließ, versucht jetzt, den digitalen Teil des IS aus der Kontrolle amerikanischer Konzerne zu lösen. Der Mann hat eine Art Facebook für das Terrorregime gegründet. Es ist im Netz unter 5elafabook.com zu erreichen. „5elafa“ ist eine Abwandlung des Wortes Khalifa – beziehungsweise Kalifat – und bezieht sich in dem Fall auf den IS, den Chef-Terrorist Abu Bakr al-Baghdadi als Kalifat ausgerufen hat. (Die Ziffer „5“ steht für ein „K“, entsprechende Schreibweisen werden im Netz gerne verwendet.)

Technisch basiert die Internetseite offenbar auf der Software SocialKit. SocialKit ist ein Softwarebündel, das jeder im Netz für vierzig Dollar kaufen kann, zum Beispiel auf dem australischen Software-Marktplatz Envato. Man muss die Software nur installieren und konfigurieren, um einen privaten Facebook-Klon zu schaffen. Das kann zum Beispiel für ein Firmennetzwerk sinnvoll sein. Oder halt für Freunde des Terrorismus. So kommt es, dass 5elafabook.com bereits einige komplexe Funktionen beherrscht, unter anderem gibt es eine mobile Version, optimiert fürs Handydisplay, und die 5elafabook-Mitglieder können Bilder, Videos, Musik und Texte teilen. Tatsächlich finden sich hier bereits Bilder aus Kampfgebieten, einige Mitglieder posieren mit Waffe, Bart und Glaubensbekenntnis. Als Nutzer kann man den eigenen Account mit einem Facebook-Account verbinden, was in Deutschland ein sicherer Weg sein dürfte, um in den Fokus des Verfassungsschutzes zu gelangen.

Am Wochenende ist die Seite offenbar wegen Überlastung der Server immer wieder abgestürzt. Die Seite ist noch nicht komplett, einige Links führen ins Leere. Sie soll künftig wohl in mehreren Sprachen verfügbar sein, darunter Englisch, Spanisch, Türkisch, Indonesisch und auch Deutsch. Die Startseite ist in Facebook-Blau gehalten, allerdings ist das Hintergrundbild eine Weltkarte, deren Kontinente mit den Flaggen des „Islamischen Staates“ bedeckt sind. Auch Grönland will man anscheinend früher oder später erobern.

Die Programmierkenntnisse der Seitenbetreiber scheinen rudimentär zu sein. Auf manchen Unterseiten wurden im Code der Software arabische Sätze, mit denen die Administratoren Terroristen die Treue schwören, dilettantisch von Hand eingefügt. Viel mehr als die Installation von SocialKit scheint die islamistische IT-Abteilung hier nicht hinbekommen zu haben.

In den Registrierungsdaten der Domain 5elafabook.com steht, die Seite sei im „Islamisch Staat Mosul“ registriert, allerdings im Feld, das für einen Straßennamen vorgesehen ist. Die Registrierungsfirma verlangt im Feld „Staat“ die Angabe eines anerkannten Staates. Die Betreiber haben an dieser Stelle „Ägypten“ ausgewählt. Wo „Abu Musab“ wirklich agiert, bleibt offen. Die angegebene Telefonnummer funktioniert nicht. Registriert ist die Domain übrigens mithilfe der Firma GoDaddy, einem Marktführer für Domainregistrierungen. GoDaddy kommt aus Scottsdale, Arizona. Es geht halt doch nicht ohne amerikanische Technik.

Botschaften des Untergangs

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In dicken roten Buchstaben ist der Name am Eingang montiert: „Mine namens A.F.Sasjadko“, schlichtes Sowjetdesign. Mindestens 33Bergarbeiter sind bei der Gasexplosion in der Kohlegrube im Osten der Ukraine gestorben, es ist vor allem ein menschliches Drama. Aber es ist zudem auch ein weiterer Rückschlag für die Industrie. Nur für wessen Industrie?

A.F.Sasjadko war einmal Minister für Bergbauwesen in der Ukraine, aber die Ukraine hat auf die Sasjadko-Mine derzeit keinen Zugriff. Sie liegt wie viele andere Gruben im Gebiet der prorussischen Separatisten. Ihre Kohle muss die Kiewer Regierung daher woanders besorgen. Der Donbass ist bisher stets das industrielle Zentrum der Ukraine gewesen, doch der Donbass ist jetzt umkämpftes Gebiet, kontrolliert von den Rebellen, vermutlich für lange Zeit. Für die ukrainische Wirtschaft und die Führung in Kiew ist all dies ein Desaster. Denn so einfach lassen sich die Schwerindustrie mitsamt der Infrastruktur nicht chirurgisch in andere Landesteile verpflanzen. Der Krieg nimmt dem Land die Luft zum Atmen.  
Welche Wirtschaftszahlen man auch nimmt, es sind Botschaften des nahenden Untergangs. Die Landeswährung Hrywnja hat im vergangenen Jahr die Hälfte ihres Wertes verloren, die Ukraine steckt in tiefer Rezession, für 2015 wird die Wirtschaftsleistung um weitere sechs bis acht Prozent sinken, und die ausländischen Währungsreserven sind binnen eines Jahres um mehr als 60Prozent geschrumpft. Es steigen allein die Inflation und die Ängste der Menschen.

Die Kiewer Behörden mussten vor wenigen Tagen die Bevölkerung bereits auffordern, nicht aus lauter Panik gewaltige Mengen an Lebensmittel zu bunkern. Es gebe genug Zucker, Salz und Mehl. Um der Inflationsgefahr etwas entgegenzusetzen, hat die ukrainische Zentralbank den Leitzins radikal von 19,5auf 30 Prozent erhöht. Die Bevölkerung verarmt, und schon skizziert der Vize-Ministerpräsident im benachbarten Polen Szenarien, die offenbar daheim auch Ängste schüren sollen: dass nämlich Hunderttausende Ukrainer, vor allem aus dem Westen der Ukraine, vor der Armut nach Polen flüchten
könnten.



Die Krise in der Ukraine belastet die Wirtschaftslage schwer

Die Lage in der Ukraine ist extrem angespannt, aber in den nächsten Tagen könnte es auch so etwas wie einen Wendepunkt geben. Denn an diesem Mittwoch entscheidet der Internationale Währungsfonds (IWF), ob er der Ukraine einen Kredit in Höhe von 17,5 Milliarden Dollar gewährt. Wenn ja, könnten schon nach wenigen Tagen die ersten fünf Milliarden davon verfügbar sein. Weitere Milliarden stehen durch Umschuldungen in Aussicht, Hilfe könnte von Europäischer Union, Weltbank, den USA und anderen Staaten kommen. Für die Ukraine wäre dies ein Segen, für die Regierung von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ist dies fast schon ein Pflichtpaket. Wie sonst sollte Kiew das angeschlagene Land finanzieren? Doch liefern muss auch die Ukraine selbst.

In den vergangenen Tagen hat sich in Kiew deshalb eilige Betriebsamkeit entwickelt, das Land will und muss seinen Reformwillen bezeugen. Noch immer gehört die Ukraine zu den korruptesten Ländern weltweit, bei Transparency International steht sie auf Platz 142 von 175 aufgeführten Staaten. Das Problem ist tief verwurzelt und muss dringend bekämpft werden, damit Geld nicht versickert und Betriebe geschützt werden. Präsident Petro Poroschenko hat vor wenigen Tagen mit seiner Unterschrift ein weiteres Anti-Korruptionsgesetz verabschiedet, das nach Angaben Kiews ein sehr strenges Prozedere für das Amt des obersten Korruptionsbekämpfers vorsieht. Aber es gibt noch weitere, auch soziale Einschnitte, die auf Druck des Westens vorangetrieben werden.

Die ukrainische Regierung hat bis 2016 die Renten all jener Ukrainer gekürzt, die nach ihrer Pensionierung weiterarbeiten. Und das müssen viele. Innenpolitisch ist die Rentenkürzung höchst umstritten. Sogar zwei Parteien, die zur Regierungskoalition gehören – die Vaterlandspartei und die Partei Selbsthilfe – haben sich vergeblich gegen das Gesetz gestemmt. Präsident Poroschenko und Premier Jazenjuk müssen nun in der Bevölkerung diese Kürzung moderieren und wollen dies durch gezielte Unterstützung der besonders Bedürftigen erreichen. Auch die Anhebung der Strompreise, die bisher vom Staat massiv subventioniert wurden, dürfte vielen Ukrainern zu schaffen machen.

„So oder so, der Ukraine steht auch mit dem Jahr 2016 ein weiteres schweres Jahr bevor“, sagt Anton Ussow, Berater der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Kiew, die in der Ukraine derzeit pro Jahr etwa eine Milliarde Euro in Infrastrukturprojekte investiert. „Es wird etwas getan, die Regierung probiert wirklich viel. Aber die Risiken sind derzeit noch sehr groß; ich sehe bisher nur wenige internationale Investoren, die ins Land kommen wollen“, sagt Ussow.

Ein großes Problem für Kiew ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung auch sehr davon abhängen dürfte, ob das Minsker Abkommen umgesetzt wird, die vereinbarte Waffenruhe hält und die Lage im Osten der Ukraine sich einigermaßen stabilisiert. Sollten die Kämpfe erneut heftig aufflammen und sich sogar auf weitere Gebiete ausdehnen, etwa auf die von den Separatisten begehrte Hafenstadt Mariupol, wird auch die wirtschaftliche Gesundung extrem erschwert. „In Mariupol werden Container entladen, es ist ein wichtiger Teil der ukrainischen Infrastruktur“, sagt Ussow. „Hält die Waffenruhe dauerhaft, gibt es Licht am Ende des Tunnels, aber das alles ist derzeit schwer vorherzusehen.“

Im April ist für die Ukraine eine internationale Investorenkonferenz geplant. Kiew erhofft sich dort zusätzliche Hilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar. Der EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik, der Österreicher Johannes Hahn, erhofft sich wiederum, dass die Ukraine sich dann den Investoren als attraktives Land präsentiert. Reformen seien „unverzichtbar, um die Ukraine in einen modernen, friedlichen, demokratischen und reichen Staat zu verwandeln“, sagte er. Ohne einen massiven Abbau der Korruption, aber auch ohne spürbare Beruhigung des Konflikts wird es schwer sein, Investoren zu überzeugen. Gelingt ihr dagegen die Zäsur, hat das Land langfristig Chancen.

„Der Zeitdruck ist immens, denn Russland als wichtigstes ukrainisches Exportland ist weitgehend ausgefallen“, sagt Ussow von der Europäischen Bank für Wiederaufbau. Betroffen ist davon auch der Präsident selber, Petro Poroschenko. Dessen Süßwarenunternehmen Roshen wird von Russland boykottiert; nun strebt es verstärkt in Länder wie Litauen, Ungarn oder Israel. Eigentlich hatte Poroschenko zugesagt, mit Beginn seiner Amtszeit das Unternehmen zu verkaufen. Ein interessierter Käufer aber habe sich noch immer nicht gefunden.

Eingeknickt

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Wann gelingt türkischen Zeitungen schon mal eine Exklusivgeschichte, die um die Welt geht? Milliyet, ein Blatt mit liberaler Tradition, hatte 2013 einen solchen Scoop. Einem Reporter war ein hochbrisantes Gesprächsprotokoll zugespielt worden: von einem Treffen auf der Gefängnisinsel Imralı, zwischen Abdullah Öcalan, dem Chef der verbotenen Kurden-Guerilla PKK und Politikern. Recep Tayyip Erdoğan, nun Staatspräsident und damals noch Premier, hatte die spektakuläre Begegnung mit dem seit 1999 isolierten Öcalan selbst gestattet, wollte aber keine Details in den Medien lesen. Nach der Veröffentlichung stauchte Erdoğan persönlich den Milliyet-Verleger am Telefon so zusammen, dass dieser, wie er später zugab, „das erste Mal im Leben weinte“.

Der Chefredakteur der Zeitung musste wenig später gehen, und ihr prominentester Kolumnist, der in einem Kommentar die Pressefreiheit hochhielt und auf historische US-Vorbilder („Watergate-Skandal, Pentagon Papers“) verwies.Milliyet knickte ein vor der Macht. Heute, zwei Jahre später, ist der Hofknicks vor Erdoğan für türkische Medien Alltag.

Yavuz Baydar, einer der bekanntesten Journalisten des Landes, liefert dafür viele Belege in seiner aktuellen Studie: „Der türkische Newsroom als Open-Air-Gefängnis“ (http://shorensteincenter.org/corruption-and-self-censorship-in-turkish-journalism). 2014 nennt Baydar ein „Horrorjahr“ für türkische Medien. Da setzte sich fort, was schon nach den Gezi-Park-Protesten 2013 begonnen hatte: massenhafte, politisch motivierte Entlassungen. Baydar spricht von fast 1000 gefeuerten Medienleuten. Der 58-Jährige gehört selbst dazu. Die Regierung der konservativ-islamischen AK-Partei verhängte zudem immer wieder Nachrichtensperren, wenn sie meinte, ein Ereignis berühre die nationale Sicherheit. Die Folge, so Baydar: Selbstzensur und Korruption. Unter seinen Kollegen vermisst Baydar Solidarität für die Geschassten. „Astronomische Gehälter“ in den Chefetagen sieht er als eine Art Bestechungsgeld.  



Die türkischen Medien scheinen vor Erdgans Zensurvorschriften zu kapitulieren

Wie das geht? Erdoğan lädt Verleger und Medienchefs gern zu vertraulichen Runden. Aus einer solchen Begegnung berichtete ein schockierter Teilnehmer Baydar, einige Teilnehmer hätten gar versucht, Erdoğan mit Zensurvorschlägen zu übertreffen. Den Grund für solche Liebedienerei sieht auch die EU in ihrem jüngsten Türkei-Bericht in der Struktur der Medienkonzerne. Wenige Konglomerate kontrollieren den Sektor. Deren Besitzer haben viele Geschäftsinteressen, im Bausektor, in Bergwerken, im Tourismus. Sie sind abhängig von Staatsaufträgen.

85 Prozent der Türken nutzen vor allem das Fernsehen als Nachrichtenquelle, zitiert die Studie die Istanbuler Medienwissenschaftlerin Ceren Sözeri. Auf die 18 privaten TV-Stationen und den staatlichen Sender TRT ist der Druck der Regierung daher besonders hoch. Aber die Zeitungen sind ihr keineswegs egal. Selbst wenn ein Blatt den Besitzer wechselt, zieht Erdoğan die Fäden, wie Baydar am Beispiel von Sabah schildert. Das einst liberale Massenblatt geriet in die Hände eines regierungsnahen Konzerns, der auch am neuen Istanbuler Riesenflughafen mitbaut.

Baydar arbeitete selbst lange für Sabah, auch als Medien-Ombudsmann, der Leserinteressen vertritt. Während der Gezi-Park-Proteste, die 2013 das ganze Land aufwühlten, gab er Leserpost wieder. Die richtete sich gegen alle regierungsnahen Medien, die versuchten, den Gezi-Konflikt zu ignorieren. Gleichzeitig beschimpfte die Regierung ausländische Korrespondenten als Agenten und Verschwörer, was Baydar ebenfalls anprangerte. Kurz darauf war er seinen Job los.

Als Ende 2013 dann massive Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung auftauchten, begann die nächste Entlassungswelle. Seitdem richtet sich Erdoğans Furor auch gegen Kritiker aus dem konservativen Lager: gegen Medien wie die Zeitung Zaman und den Sender Samanyolu TV, die dem in den USA lebenden türkischen Prediger Fethullah Gülen nahestehen, der sich zu einem der schärfsten Regierungskritiker entwickelt hat. Der Leiter von Samanyolu TV, Hidayet Karaca, wurde im Dezember 2014 gar wegen Terrorverdacht inhaftiert. Aus dem Gefängnis hat er jetzt einen offenen Brief veröffentlicht, in dem er beklagt, in der Türkei seien Demokratie, Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt.

Ein anderer prominenter Erdoğan-Kritiker, der für Investigativrecherchen bekannte Mehmet Baransu, wurde vor wenigen Tagen festgenommen. Erdoğan hatte ihn öffentlich als „Verräter“ bezeichnet, nachdem er wiederholt über Korruption im Regierungsumfeld geschrieben hatte.

Baydars Verdienst ist es, dass er keine Seite schont. Journalisten der oppositionellen Medien wirft er vor, sich zu oft als Teil eines politischen Kampfes zu begreifen, Baydar vermisst professionelle Standards. Das Einzige, was ihm Hoffnung macht: Heute sitzen viel weniger Journalisten hinter Gittern als noch 2010. Da war deren Zahl auf 104 gestiegen, ein trauriger Rekord. Die meisten waren Kurden, die unter einem weit gefassten Terrorbegriff inhaftiert waren.

Im November 2014 zählte das Committee to Protect Journalists noch sieben Häftlinge. Die positive Veränderung hat wohl einerseits mit dem Bemühen der Regierung zu tun, den Kurdenkonflikt zu entschärfen. Aber auch mit Kritik aus dem Ausland an jahrelangen Inhaftierungen ohne Urteile, wie der erfahrene türkische Medienbeobachter Erol Önderoğlu meint. Baydar kommentiert bitter: Wo Selbstzensur regiert, ist Haft als Disziplinierungsmittel gar nicht mehr nötig. Rettung, so Baydar, böten nur digitale Medien. Entlassene Journalisten betreiben inzwischen teils recht erfolgreiche Internetzeitungen, wie T24 oder diken. Aber das sind Nischen-Medien. „Die moderne Türkei hat, abgesehen von einer kurzen Periode in den 50er-Jahren, keine solche Konzentration von Macht in einer Partei, und zuletzt in einer Person, erlebt“, schreibt Baydar. Der harte Griff nach den Medien ist dabei Teil der Machterhaltung. Von einer „Glasnost alla turca“, wie zu Beginn der Erdoğan-Herrschaft vor zwölf Jahren, als die Medien neue Luft zum Atmen genossen, ist heute nichts mehr zu spüren.

Hochschulen mit Herz

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Stiller wurde es in der Gegend, das fiel Viktoria Schmidt damals auf. Und die Kirschbäume trugen im Sommer keine Kirschen mehr, ihr Großvater hatte zuvor aus Altersgründen seine Bienenstöcke aufgegeben. Die junge Frau ist mittlerweile selbst Imkerin, Designerin, soziale Firmengründerin. Sie kann viel erzählen darüber, dass Bienen nicht nur Honig liefern; sondern Blüten bestäuben, die Natur gedeihen lassen, die Artenvielfalt. „Bei mir häufte sich der Honig im Keller, vielen meiner Imkerkollegen geht es ähnlich. Dabei ist das naturnahe Hobby sinnvoll und im Kommen.“ Um Imkern beim Verkaufen zu helfen, hat Schmidt die Firma „Nearbees“ ins Leben gerufen, zusammen mit dem Wirtschaftsstudenten Michael Gelhaus. Ihr gleichnamiges Webportal hilft Bienenhaltern beim Vertrieb, bietet eine spezielle Verpackung für den Versand. Kunden sollen bewusst Honig von nebenan kaufen, vielleicht von den Tieren, die beim Frühstück am Balkon das Honigbrot anfliegen.

Kennengelernt haben sich Schmidt und Gelhaus an der Münchner Social-Entrepreneurship-Akademie. Bei dem Modell – zu Deutsch: soziales Unternehmertum – soll Geld erwirtschaftet und dabei auch noch Gutes getan werden. Den Trend befördern auch die Hochschulen. Und nirgendwo in der Republik dürfte das so professionell laufen wie in München. Die beiden großen Universitäten LMU und TU, die Fachhochschule und die Bundeswehr-Uni haben sich verbündet und 2010 die Akademie gegründet. Viele Firmen und Stiftungen fördern sie mit Geld, mit Kontakten, bringen auch regelmäßig Gründer mit Investoren an einen Tisch. Das Kernstück der Akademie: Ein Studienprogramm „Gesellschaftliche Innovationen“, ein Jahr Theorieblock, ein Jahr Praxis und die Entwicklung einer Idee. Alles ganz breit angelegt. „Ob Designer, Wirtschafts-, Geisteswissenschaftler oder Ingenieure – Herausforderungen unserer Zeit können oft am besten interdisziplinär gelöst werden“, sagt Oliver Beckmann, Leiter des Programms. So kam die Designstudentin Schmidt an Gelhaus, der im Bachelor „Management Sozialer Innovationen“ studierte und jetzt bald den Masterabschluss macht.

Der soziale Gedanke muss nicht gleich Mutter-Teresa-Assoziationen wecken. Bei „Nearbees“: Honig wird zu 80 Prozent importiert, die Bestäubungsleistung der Bienen lässt sich jedoch nicht einführen.
Schmidts erster Ansatz war der Honighandel – wo doch das Porto schon teuer wäre im Vergleich zum Honig, wo ein Glas für den Postweg zu sperrig ist, zerbrechlich auch. Sie entwickelte einen flachen Kunststoffbeutel, dem man sein Volumen kaum ansieht, der in Briefkästen passt. Die Beutel werden nun an Imker verkauft, von jedem Honig, der über die Plattform verkauft wird, bleibt zudem eine Provision. Reklame brauchte es, die Kunden sollen das Gefühl haben, als äßen sie „quasi Honig von eigenen Bienen“, wie Schmidt sagt. 

 

Um dem Vorwurf der "Verschulung" zurückweisen zu können, übernehmen Universitäten mit neuen Projekten Verantwortung gegenüber der Gesellschaft

Alles in allem: Produktdesign, Zielgruppenanalyse, Kalkulation. Das Umfeld dafür bot die Akademie. Gut 60 Sozialunternehmer wurden seit 2010 dort ausgebildet, 80 Prozent sind Studenten, überwiegend von Münchner Hochschulen; aber auch Berufstätige können sich bewerben.

Zugleich ist die Akademie Teil eines neuen Ziels von Hochschulbildung, das zunehmend bei deutschen Wissenschaftlern verfängt: die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Unter dem Schlagwort „Service Learning“ sollen Studenten mit dem, was sie lernen, die Gesellschaft weiterbringen – sich dabei persönlich entwickeln, aber auch die Welt ein Stückchen besser machen. Angehende Juristen beraten Arbeitslose rechtlich, Lehrämter geben Nachhilfe in Brennpunkten, Betriebswirte basteln Konzepte etwa fürs Tierheim, in Museen, Kliniken, Sozialkaufhäusern und Kindergärten bringen sich heutige Studenten ein. Meist wird der Einsatz mit Seminaren begleitet und kann als benotete Leistung für den Bachelor zählen.
Und die Hochschulen? Sie können so ihre Lehre aufpeppen.

 Der Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, Holger Burckhart, spricht von „originellen Maßnahmen gegen die häufig kritisierte Verschulung“ im Bachelor. Er nennt aber auch die „Suche der Hochschulen nach einem zeitgemäßen Selbstverständnis“. Denn: „Früher waren wir vor allem ein Elfenbeinturm, vor dem die Gesellschaft ehrfürchtig stand. Jetzt aber ändert sich das, nicht zuletzt wegen der steigenden Studierendenzahlen. Vor 30Jahren haben noch 20 Prozent eines Jahrgangs studiert, heute sind es über 50 Prozent.“ Nach Umfragen ist an mindestens jeder fünften Hochschule eine Art „Service Learning“ im Angebot. Auch konkrete Initiativen für Sozialunternehmer werden üblich. Der Münchner Programmchef Beckmann war zuletzt oft auf Reisen, um über das Modell zu berichten.

Im Erdgeschoss der Akademie ist ein offener Arbeitsraum. Die Szenerie hier tendiert zwischen Lerngruppe und Studentenparty, in Grüppchen beugen sich Studenten über Bildschirme, daneben fläzt auch mal einer im Sessel. 25 Teilnehmer nimmt die Akademie jedes Jahr, es gebe ein Vielfaches an Bewerbern, so Beckmann. Sie nehmen auch die Gebühren in Kauf. Gut 2000 Euro sind jährlich für die Zusatzausbildung fällig, das wird laut Beckmann teils mit Stipendien aufgefangen. Es seien Leute mit festem Willen: „Das passt zum Social Entrepreneurship. Es erfordert mehr Zeit, Einsatz, Leidenskraft, Kreativität als viele normale Gründungen. Sonst wären ja alle Unternehmer Sozialunternehmer.“

Viktoria Schmidt und Michael Gelhaus sind auf dem Weg zu dieser Art Karriere. Noch sind im Portal nur Bienenvölker aus dem Raum München vermerkt. Das soll sich ändern, aus der sozialen Geschäftsidee soll ein Geschäft werden. Ein „gutes“ Geschäft im doppelten Wortsinn. Gelhaus sagt: „Es gab lange ehrenamtlich Soziales auf der einen und Unternehmen auf der anderen Seite. Ich sehe, dass immer mehr Gründungen in die Mitte passen.“ Vor zehn, 15 Jahren hätte man einen solchen Kurs wohl kaum vollgekriegt, glaubt Beckmann. Die Hochschulen reagierten eben auf den Bedarf. „Die heutige Generation fragt und sucht eher nach Werten.“ Auf Partys höre man längst öfters die Frage, was man schon Sinnvolles gemacht habe. Und nicht mehr, wie viel man denn verdiene.
 

Der große Graben

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Am Wochenende stand Barack Obama auf einer Brücke und hielt eine Rede. Es war eine besondere Rede, denn an dieser Stelle waren vor 50 Jahren schwarze Bürgerrechtler brutal niedergeknüppelt worden. Seitdem steht Selma, der Name der Stadt in Alabama, für einen Wendepunkt der US-Bürgerrechtsbewegung.



Bei einem symbolischen Marsch erinnerten sich die Menschen an die Ereignisse vor 50 Jahren.

Jetzt also redete dort zum ersten Mal ein schwarzer Präsident. Er sagte unter anderem, dass vieles besser geworden sei in Sachen Rassismus - auch wenn Amerika seit Monaten wegen Polizeigewalt gegen Schwarze eine heftige Debatte führt.

Das Pew Research Center, der Papst unter den US-Meinungsforschungs-Instituten, hat sich genau diese Frage genau angeschaut und untersucht, wie groß heute die Unterschiede zwischen schwarz und weiß heute im Vergleich zu den Sechzigerjahren sind. Die Zahlen geben Obama nicht unbedingt recht.

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Kleiner geworden sind die Unterschiede bei der Zahl der High-Scool-Abschlüsse, der Lebenserwartung und der Wahlbeteiligung. Kaum etwas hat sich geändert in Sachen Immobilienbesitz und dem Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Und in einigen Bereichen ist der Graben zwischen schwarz und weiß sogar gewachsen: 1960 betrug der Unterschied zwischen den mittleren Einkommen schwarzer und weißer Haushalte 19.000 Dollar, 2012 waren es 27.000 Dollar. Ähnlich sieht es beim Privatvermögen aus: Auch da ist die Lücke heute größer als vor 50 Jahren.

Von diesen Zahlen hat Barack Obama in seiner Rede nicht gesprochen.

Von christian-helten

„Gib dieses Trikot deiner Frau“

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Wir wüssten ja schon gerne, wie es wirklich dazu kam, dass dieser Spruch ins Innere von Fußballtrikots gedruckt wurde. Denn die Ausrede, mit der die Sportartikel-Firma sich dafür rechtfertigt, klingt einfach zu ausgedacht.





Unter der Überschrift „Waschanleitung“ steht im Inneren eines Fußballtrikots des indonesischen Sportartikelherstellers Salvo: „Gib dieses Trikot deiner Frau. ES IST IHR JOB“. Was war da los? Wie passiert sowas? Ein Witz unter Kollegen, die dann vergessen haben, den Spruch wieder zu entfernen, als die Trikots bedruckt wurden? Eine Maßnahme des verschrobenen Trainers, der die Trikots bestellt hat? Vielleicht wollte er nicht, dass seine Spieler zu viel Zeit mit anstrengender Hausarbeit verbringen und dann geschwächt ins Spiel gehen?

Beides erscheint jedenfalls plausibler als die Antwort, mit der sich Salvo am Sonntag (dem Internationalen Frauentag!) meldete, nachdem sich ein Foto des Spruchs auf Twitter verbreitet und wütende Reaktionen ausgelöst hatte. Sie twitterten, dass sie mit dem Spruch eigentlich nur die Männer dazu bringen wollten, von ihren Frauen zu lernen, wie man sich um seine Kleidung kümmert. Manchmal ist es besser, einfach die Klappe zu halten.

christian-helten


Wen meinen die bloß?

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Widmung im Roman "Räuberhände"

Finn-Ole Heinrich


"Eine Widmung gehört nicht zwingend in ein Buch. Eigentlich finde ich sie sogar ein bisschen albern und pathetisch. Im Grunde ist das doch so, als würde der Nachrichtensprecher in der Zwischenmoderation Mutti zuwinken oder ein Schild hochhalten, auf dem „Marianne, ich liebe dich, Hdgdl, dein Jo“ steht. Gut, es gibt auch Widmungen, die Bezüge zu anderen Werken herstellen, dann verhält es sich anders. Aber auch das finde ich eigentlich eher nervig. Hat so was von: Seht mal, was ich alles gelesen habe. Aber eine Widmung ist eben auch ein kleines Bonbon, das man sich als Autor offenbar rausnehmen kann.

Ich will dem auf keinen Fall zu viel Bedeutung beimessen. Meine Widmung drückt in gewisser Weise meine persönliche Schreib- und Denkmotivation aus. Die braucht der Leser aber keinesfalls, um den Text zu verstehen.

Meine Widmung ist an meine drei besten Freunde gerichtet, mit denen ich noch in derselben Stadt wohne. Als ich „Räuberhände“ geschrieben habe, waren wir das erste Mal wirklich voneinander getrennt – haben an unterschiedlichen Orten gewohnt und studiert und uns viel seltener gesehen. Ich habe deshalb damals viel über Freundschaften nachgedacht: Welchen Stellenwert sie in meinem Leben einnehmen, was ich erwarte und wünsche, was ich bereit bin zu investieren. Und eben auch, was Freundschaft aushalten muss und nicht aushalten kann.

Dieses Buch hat nichts mit meinen Freundschaften zu tun. Aber das Thema der Erzählung hat darin seinen Ursprung in meinen Freundschaften zu diesen drei Menschen. Sie haben allerdings nichts zu der Widmung gesagt. Vielleicht haben sie das Buch auch einfach nicht gelesen. Ich hab diese Widmung gewählt, weil sie in Kurzform schon alles sagt: Jungs, das ist für euch. Lest es euch durch und lasst uns bei Gelegenheit mal drüber reden. PS.: Ihr seid mir verflucht wichtig.



Finn-Ole Heinrich, 32, lebt als freier Autor in Hamburg. Er schreibt hauptächlich Jugendliteratur und hat viele Preise erhalten.

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Widmung im Roman "Hier bin ich"

Victor Witte


Ich habe überlegt, wer mir in der Zeit, als ich das Buch geschrieben habe, am nächsten war, mit wem ich meisten zu tun hatte. Das war im Grunde ich selbst. Ich denke, ich hab’s einfach am meisten verdient, dass mir das Buch gewidmet ist. Ich habe natürlich auch überlegt, ob es blöd rüberkommt, und musste ein bisschen mit meiner Freundin diskutieren – aber sie kommt ja in der Danksagung vor.

Die Widmung passt auch gut zum Buch. Klar, man kann sagen, der Text beginne erst nach der Widmung. Aber ich finde, das ist ein Gesamtpaket und sollte zusammenpassen. Der Roman ist ein autobiografisches Fragment, darum wollte ich gerne eine Querverbindung zwischen dem Ich-Erzähler und dem Autor herstellen, auch, wenn sie nicht identisch sind. Und ich denke, die Widmung führt dazu, dass man kurz irritiert ist und vielleicht schmunzeln muss, wenn man das Buch aufschlägt, weil man sich fragt: Was ist das für ein Typ, der sich seinen eigenen Roman widmet? Das stimmt einen ganz gut auf den Text ein.

Beim nächsten Buch werde ich wohl auch wieder derjenige sein, mit dem ich beim Schreiben am meisten zu tun habe. Aber ich weiß nicht, ob ich mir auch das zweite widmen werde. Das kommt auf den Text an.



Victor Witte, 27, studiert in Hildesheim Literarisches Schreiben, seine Texte erschienen in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften. Gerade erschien sein Debütroman "Hier bin ich".
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Widmung im Roman "Nacktschnecken"

Rebecca Martin


In meinen ersten beiden Büchern habe ich die Widmung erst geschrieben, als das Buch fertig war. Ich habe dann überlegt: Wer war für mich wichtig, wen betrifft dieses Buch? Diesmal stand das schon sehr früh fest. Eigentlich ab dem Moment, in dem ich wusste, in welche Richtung die Handlung geht. Die ist frei erfunden, aber natürlich gibt es da viel Deckung mit meinem eigenen Lebensgefühl. Im Kern geht es um eine Beziehung, die bröckelt. Und um die Frage: Kann man eine Liebe retten, wenn eigentlich niemand mehr an dieses Wort glaubt? Wie wichtig ist Sex, welche Rolle spielt Arbeit, überhaupt, wie wollen wir leben?

Das sind Fragen, um die es eigentlich in allen meinen Freundschaften und Beziehungen geht. Deshalb ist die Widmung auch sehr offen, „my boys“ und „my girls“ steht für meine Schwestern, für meine Freunde. Aber auch für meine Beziehungen, sogar für die, die hinter mir liegen.

Meine Schwester fand es übrigens ein bisschen albern, dass die Widmung auf englisch ist. Aber das ist ja meine Muttersprache, insofern finde ich es okay. Und auf deutsch würde das ja auch noch seltsamer klingen.



Rebecca Martin, 24, veröffentlichte mit 17 ihren ersten Roman “Frühling und so”. 2012 folgte der Roman “Und alle so yeah”. Nächste Woche erscheint ihr drittes Buch “Nacktschnecken” bei Dumont. Sie lebt in Berlin und studiert an der Filmhochschule.
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Widmung im Roman "Das fremde Meer"

Katharina Hartwell


Obwohl man das Buch jemand anderem widmet, macht man die Widmung immer auch für sich selbst. Es geht darum, wie viel von dem anderen in dem Buch ist und was er dazu beigetragen hat. Die Menschen, die einem am nächsten stehen, machen einen großen Teil der eigenen Identität aus und damit auch die Geschichten, die man erzählt. Denn die sind an diese Identität gekoppelt.

David ist mein Partner und ich hatte das Gefühl, dass das Buch uns beiden gehört. Wir haben uns in der Zeit, als ich angefangen habe, an dem Roman zu schreiben, kennengelernt. Und meine Vorstellung von Liebe und Beziehung ist das Fundament des Buches. Ich habe David vorher nichts davon gesagt, aber ich glaube, er hat sich gefreut. Zwar etwas verhalten, aber eine Widmung ist ja auch eine große Geste, da muss man als Empfänger erstmal sortieren, was das bedeutet.

Ich finde auch, eine Widmung ist wie ein Tattoo. Man muss sich seiner Entscheidung verdammt sicher sein, man läuft ja sein restliches Leben damit herum. Darum ist meine auch so minimalistisch – wäre blöd, wenn man etwas reinschreibt, das einem in dem Moment furchtbar poetisch, in 20 Jahren aber bloß albern vorkommt. Im nächsten Buch wird es keine Widmung geben. Es wird eine Art Schauer- oder Horrorroman – den würde ich niemandem widmen wollen.



Katharina Hartwell, 30, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2013 erschien ihr Romand "Das fremde Meer", der begeistert aufgenommen und mit Preisen ausgezeichnet wurde.
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Widmung im Roman "Es war einmal Indianerland"

Nils Mohl


Eine Widmung ist wie eine kleine Geheimbotschaft an nur einen einzigen Leser. Und weil man davon ausgeht, dass der die versteht, bin ich immer sehr für schlichte Lösungen. Im schlimmsten Fall sorgen Widmungen dafür, dass man als Leser schon vor dem eigentlichen Text gegen den Text eingenommen ist. Weil man sich fremdschämt, wenn zum Beispiel ein bescheuerter Kosename fällt oder ein gewollter Witz versucht wird.

Ich schreibe die Widmung immer erst ganz zum Schluss vor den Text. Selbst wenn ich schon sehr früh weiß, wem ich ein Buch widmen möchte – wie zum Beispiel bei „Indianerland“. Lustigerweise war meine Schwester ehrlich gerührt und trotzdem ein wenig überrascht, dass ihr der Roman gewidmet ist. Dabei verdankt die Geschichte ihr wirklich eine ganze Menge.

Wiebke und ich sind am Stadtrand von Hamburg aufgewachsen. Jenfeld, Plattenbausiedlung. Die Umgebung ähnelt stark dem Setting des Romans. Der Held von „Indianerland“ ist ein talentierter Boxer, und der Sport bietet ihm eine Perspektive auf ein Leben mit mehr Möglichkeiten, als die meisten Menschen in seiner Nähe haben. Dafür kämpft er hart. Bei Wiebke war es ganz ähnlich. Mit dreizehn fing sie an, Querflöte zu spielen. Mit imponierendem Fleiß und Hartnäckigkeit. Stundenlang hat sie Intervalle und Tonleitern geübt, mit Blick auf die Hochhäuser ringsum. Ich, der ältere Bruder, lag im Zimmer nebenan oft auf dem Bett und habe mich gefragt, was genau sie wohl antreibt. Vermutlich hat mich ihr Ehrgeiz mit angestachelt, später meinen Weg als Autor zu gehen.

Insofern ist diese Widmung auch eine Verbeugung. Ein Dank. Und klar: Im Herzen widmet man all seine Bücher ja immer denen, die einem nah sind. Das wissen die. Und denen wird es deshalb egal sein, ob sie nun im Buch explizit erwähnt werden oder nicht.  



Nils Mohl, 44 hat Literatur und Kulturmanagement studiert und war danach in verschiedenen Branchen tätig. Sein Roman "Es war einmal Indianerland" war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
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Widmung aus dem Roman "Sei mein Frosch"

Julia Bähr


Ich liebe Widmungen und lese sie immer. Danksagungen übrigens auch, obwohl das in der Regel nur eine Liste von Namen ist, die mir nichts sagen. Im schönsten Fall hängt beides ja mit dem Inhalt des Buches zusammen. Anna Gavaldas „Ein geschenkter Tag“ ist zum Beispiel eine Liebeserklärung an Geschwister. So etwas, finde ich, muss man eigentlich seinen Geschwistern widmen, so man welche hat. Stephen King hat „Es“ seinen damals noch sehr kleinen Kindern gewidmet. Fand ich auch interessant.

„A., die einzig wahre Anwaltsgranate“ ist eine Freundin, mit der ich Journalistik studiert habe, die dann aber Anwältin geworden ist. Das Wort „Anwaltsgranate“ taucht tatsächlich im Buch auf. Die Protagonistin wird so genannt, als sie sich mal hübsch macht. Und wir nennen A. auch manchmal so, wenn sie zu unseren Treffen im Freundeskreis, bei denen wir alle im Journalisten-Kapuzenpulli-Look dasitzen, direkt aus der Arbeit kommt – also noch im Anwalts-Stil. Durch sie habe ich die Idee bekommen, dass die Protagonistin Anwältin sein sollte. Damit enden die Parallelen aber auch, deshalb habe ich ihren Namen nicht ausgeschrieben. A. hat außerdem die juristischen Fakten noch mal gegengecheckt, damit ich mich vor anderen Anwälten nicht blamiere.

Ich habe trotzdem ein bisschen überlegt, wem ich das Buch widmen soll. Es gibt ja Leute, die es immer verdient hätten: Mütter zum Beispiel, oder Lebenspartner. Wenn es, aber jemanden gibt, der das besonders verdient hat, weil er eine tolle Idee beigesteuert oder eben Fakten überprüft hat, dann sollte er auch auftauchen. A. hat von der Widmung übrigens erst erfahren, als ich ihr das fertige Buch überreicht habe. Sie hat gelacht.

 

Julia Bähr, geboren 1982, hat das Schreibhandwerk auf der Deutschen Journalisteschule in München gelernt und arbeitet als freie Journalistin in den Bereichen Kultur und Gesellschaft. "Sei mein Frosch" ist ihr zweites Buch.
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Widmung aus dem Roman „Das erotische Talent meines Vaters“

Björn Kern


Eine Widmung ist zugleich Dank, Aufklärung und Beschwichtigung; Grund genug für eine kleine Aufmerksamkeit, vielleicht. Für den Leser ist sie meist unergiebig, für den Autor ist sie eine sehr private Form der öffentlichen Kommunikation.

Ich habe nicht lange darüber nachgedacht, wem ich mein Buch widme. P. ist ein liebenswürdiger Mensch, der meinen könnte, im Roman eine Rolle zu spielen, was natürlich ein Irrtum ist. Ich habe keine 30 Sekunden über die Formulierung nachgedacht. Die Abkürzung schützt P., aber auch das Buch. Tatsächlich habe ich mich ganz am Schluss für P. entschieden. Wäre der Roman um Nuancen anders geworden, wäre er P. nicht gewidmet worden. Ich denke, dass das Buch ohne P. ein anderes geworden wäre.

Das nächste Buch widme ich aber nicht P., diesmal sind andere dran. Meine Freundin beschwert sich seit einiger Zeit darüber, dass ich ihr noch nichts gewidmet habe.
Aber eine Widmung für sie wäre bei den bisherigen Texten zu billig gewesen. Die Widmung erhält ihren Wert ja nicht durch sich selbst, sondern durch den Bezug der Person zum Buch.



Björn Kern, 37, machte seinen Zivildienst in einer Psychatrie in Südfrankreich. Später absolvierte er sein Studium mit einem M.A. in Literaturwissenschaften und Geschichte in Tübingen, Passau und Aix-en-Provence. Seine Bücher wurden u.a. mit dem Brüder-Grimm-Preis ausgezeichnet. "Das erotische Talent meines Vaters" kam auf die Bestenliste des SWR. Er lebt heute in Südbaden und Berlin.

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Widmung aus dem Roman „Es bringen

Verena Güntner


Widmungen sind eine schöne Sache. Mir selbst wurde auch mal was gewidmet, ein Song – aber ich verrate nicht, welcher und von wem.

Je nachdem, was da steht, überlegt man sich ja sofort eine Geschichte dazu. Dass ich meinen Roman widme, habe ich im letzten halben Jahr entschieden. Ohne meine Freunde hätte es das Buch nicht gegeben. Lange habe ich nur im Stillen geschrieben, aber als ich ihnen dann etwas gezeigt habe, waren sie es, die mir den letzten Schubs gegeben haben, die Texte auch mal wohin zu schicken. Ich wollte die Widmung dann bewusst sehr weit fassen – so kann jeder entscheiden, ob er sich dazuzählt oder nicht (lacht). Eigentlich stand dahinter noch ein Punkt: Für meine Freunde. Punkt. Der ist aber dem Lektorat zum Opfer gefallen.

Die Widmung passt außerdem gut, weil es in meinem Buch auch um Freundschaft geht. Es hat zwar keine autobiografischen Züge, aber natürlich finden sich, wenn auch niemals 1:1, Erinnerungsfetzen aus meiner Jugend darin. Deshalb sind auch die Freunde von damals gemeint, die dürfen sich also angesprochen fühlen, auch, wenn wir heute gar nichts mehr miteinander zu tun haben.




Verena Güntner erreichte 2012 die Finalrunde beim OpenMike in Berlin, 2013 machte sie den dritten Platz beim MDR-Literaturpreis und gewann im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs den renommierten Kelag-Preis. Als freischaffende Schauspielerin ist sie regelmäßig auf den Bühnen des Staatstheaters Wiesbaden und des Theaters Bonn zu sehen. Ihr Debütroman “Es bringen” erschien im August 2014.

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Widmung aus dem Roman „Blutorangen“

Verena Boos



Die Widmung ist der letzte Satz im Buch, der Abschluss meines Schlussworts. Vorangestellt habe ich ein Motto, und hinten ist es außerdem eher eine Verbindung aus Widmung und Dank und nicht ganz so in-your-face-mäßig wie vorne.


Meinem Mann hat die Widmung gefallen. Er hat jetzt keinen Freudentanz aufgeführt, aber das passt auch zu seiner Art. Er war eher verschmitzt, und ich denke, es bedeutet ihm schon etwas.

Die Formulierung habe ich in der Lektoratsphase ausgearbeitet und zwei, drei Mal dran rumgebastelt. Sie entspricht einfach der Rolle, die er im Zuge des Projekts eingenommen hat und für die ich ihm dankbarer bin als allen anderen. Er war immer mein erster Leser, der ruhende Pol, und er hat von Anfang an an das Projekt geglaubt. Ohne ihn wäre das Buch vielleicht nicht oder zu einem anderen Zeitpunkt entstanden. Ich habe nämlich meine Festanstellung gekündigt, bin von München nach Frankfurt gezogen, habe mich parallel selbständig gemacht und dieses Buch geschrieben – es ist müßig zu spekulieren, wie es ohne ihn gelaufen wäre, aber er war meine wichtigste Konstante in dieser Zeit.



Verena Boos, 37, arbeit als Journalistin, Referentin und Autorin. Sie hat am Klagenfurter Literaturkurs und der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teilgenommen, wurde für die Bayerische Akademie des Schreibens ausgewählt und las 2012 beim OpenMike. Ihr Debütroman “Blutorangen” ist gerade erschienen.

Kai Diekmann vs. Bushido

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Es gibt Hinweise darauf, dass Bild-Chefredakteur Kai Diekmann gerade dabei ist, unter die Teilzeit-Rapper zu gehen. Vor ein paar Tagen schickte er einen Tweet an Bushido, im Anhang ein Screenshot einer Audio-Datei mit mehreren Tonspuren. Dateiname „KaiRap", eine Tonspur heißt „KaivsBushido“. Sieht aus, als würde Diekmann sich an einem Diss-Track versuchen. Wie man das halt so macht unter Berliner Bad-Boys.





Was bisher geschaht: Diekmann bemerkt, dass er auf Bushidos neuem Album "Carlo Cokxxx Nutten 3" einer der Hauptbeleidigten ist - neben Joko und Klaas, Casper und Alice Schwarzer. Über Twitter fragt er nach einem „Belegexemplar“, und als es mit der Post kommt, twittert er stolz ein Foto.

Und jetzt also der Antwort-Diss, die CD scheint unterwegs zu sein: Heute twitterte Diekmann ein Foto eines Briefs an Bushidos Anwältin, "anliegend eine CD mit Bitte um Weiterleitung an Ihren Mandanten".





Wir gratulieren Diekmann zu diesem Schritt, sind aber gleichzeitig enttäuscht, dass er seine Rap-Künste nur an Bushido schickt und nicht wie üblich gleich über Youtube lärmt. Denn wir wollen am nächsten Kapitel im großen Bildchef-Bushido-Beef teilhaben! Wir sind überzeugt von MC Kai! Schließlich bringt Diekmann viele gute Voraussetzungen mit, um ein guter Battle-Rapper zu werden. Er ist wortgewandt, streitlustig, sehr von sich überzeugt und schon lange Chef eines Mediums, das gerne Müll über andere Leute verbreitet.


Liebe auf muslimisch

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jetzt.de: Haroon, du bist verheiratet und hast drei Töchter. Wie hast du deine Frau kennengelernt? Via Online Dating?
Haroon Mokhtarzada: Nein, Freunde der Familie haben uns einander vorgestellt. Damals, 2002, war Online Dating ja noch ein Tabu. Heute ist es fast zur Norm geworden. 

Warum braucht es unbedingt eine eigene muslimische Dating App?

Ich habe verschiedene Leute getroffen, insbesondere Frauen, die verzweifelt einen Ehepartner suchten. Das Problem in westlich geprägten Ländern ist, dass die Leute lieber innerhalb ihrer Religion heiraten. Wenn man das möchte, verbringt man viel Zeit mit Suchen. Minder könnte hierbei Abhilfe schaffen.

Worin unterscheidet ihr euch von anderen muslimischen Dating-Portalen wie Ishqr.com? 
Ishqr und die anderen Portale sind keine Apps. Wir bieten mobile Partnersuche an. Das war uns am wichtigsten. Minder ist wie jede andere App, nur eben mit einem besonderen Filter, und zwar um andere Muslime zu finden. Unser Ziel ist es zu zeigen, dass Muslime nicht anders sind als Nichtmuslime. Die Leute sollen sehen, dass wir dieselben Probleme haben. Auch wir suchen nach einem Partner, wollen heiraten, Kinder bekommen. 

Aber warum gleich heiraten? Ist eine Heirat wichtiger oder besser als eine Beziehung?
 
Wir helfen Muslimen, die nicht mehr daten wollen, sondern bereit sind für die Ehe und nur noch niemanden gefunden haben. Ich denke, dass jeder einen natürlichen Filter hat, was das Heiraten angeht. Für Leute, die eine Minderheit in einem Land sind, kann die Suche nach einem Ehepartner mit derselben Religion sehr schwer werden. Die App ermöglicht, ernsthaft Interessierte zusammenzubringen und es ihnen selbst zu überlassen, ob sie nun zusammenpassen oder nicht. Langjährige Beziehungen haben nach einer Weile auch einen eheähnlichen Charakter.

Warum denkst du, dass Muslime eher bereit sind, einen Muslim zu heiraten?
Ich glaube, das Zusammenleben im Alltag wird dadurch erleichtert. Wenn du ein Muslim bist und gerne beten würdest, dann möchtest du natürlich, dass dein Ehemann ebenso mit dir betet. Dann ist da noch die Frage der Kindererziehung. Was wirst du deinen Kindern beibringen? Nach welcher Religion sollen sie erzogen werden? Das ist auch schwer für ein Kind, denn eine Religion aussuchen zu müssen, kann dazu führen, einen Elternteil auswählen zu müssen.

Denkst du nicht, dass eine "Marriage-App" nur für Muslime das Problem
der Parallelgesellschaften verstärken könnte, wenn niemand mehr außerhalb seiner Religion heiratet?
Die Leute haben doch schon immer innerhalb ihrer Religion geheiratet und das hat sie nicht davon abgehalten, sich mit anderen Kulturen auszutauschen. Ich denke, das ist eher ein Generationenproblem. Die erste Generation der Einwanderer bringt Kinder hervor, die im Westen groß geworden sind, auch wenn diese wiederum nur Muslime heiraten, sind sie eher dazu fähig, sich an die westliche Gesellschaft anzupassen, weil es nicht mehr völlig fremd für sie ist.



Haroon Mokhtarzada, ein in den USA lebender IT-Unternehmer mit afghanischem Wurzeln, hat eine Dating App speziell für Muslime entwickelt. Ab diesen Sommer soll sie auch in Deutschland zugänglich sein

Es gibt verschiedene Glaubensrichtungen im Islam, etwa Sunniten, Schiiten und Aleviten. Wie funktioniert das Dating zwischen diesen meist zerstrittenen Gruppierungen?
Hier unterscheiden wir uns von anderen Dating-Apps: Solche Details sind beim ersten Blick auf das Profil erkennbar. Der User kann selbst entscheiden, ob er speziell einen Sunniten möchte, oder einfach nur einen Muslim.

Denkst du, dass Minder auch schwer vermittelbaren Muslimen helfen kann, einen Partner zu finden, zum Beispiel geschiedenen, gehandicapten oder gar homosexuellen Muslimen?
Ja, definitiv. Es ist zum Beispiel für einen Behinderten sowieso schon schwer, rauszugehen und Leute zu treffen. Minder hilft dabei, mit wenig Mühe viele Leute kennenzulernen. Damit könnten auch Tabus in der islamischen Gesellschaft brechen. Minder hat hierbei eine klare Botschaft: Wir sind nicht mehr im mittleren Osten, wir sind im Westen, im 21. Jahrhundert. Kommt damit klar, brecht mit den Tabus, jeder hat das Recht auf eine glückliche Beziehung. Homosexuelle Muslime können wir aber wegen der noch viel zu geringen Anzahl von Usern leider noch nicht vermitteln.

Eine Beziehung kannst du jederzeit beenden, aber aus einer Ehe kommst du nur mit Scheidung raus. Und das stigmatisiert vor allem die Frauen. 
Scheidungen sollten meiner Meinung nach in der muslimischen Community enttabuisiert werden, denn sie sind im Islam generell erlaubt. Im Nahen Osten haben geschiedene Frauen kaum Chancen, wieder zu heiraten, das ist wahr. Ich denke aber, das ist im Westen nicht so extrem.

Denkst du, die App könnte helfen, die Kommunikation zwischen Muslimen und Nicht-
Muslimen zu unterstützen?
Jemand hatte mal unter unsere FB Seite geschrieben “Oh, ich dachte Muslime könnten nur ihre Verwandten heiraten”. Wir haben Sie daraufhin gefragt, wie sie darauf kommt und sie sagte, dass sie keine bösen Absichten hatte, sie wusste es nur wirklich nicht besser und hatte dieses Bild im Kopf. Ich denke, wenn wir diese Frau damit aufklären konnten, dann könnte das Minder auch. Es zeigt nämlich: Hey, seht her, auch Muslime haben Probleme bei der Partnersuche, auch sie benutzen Dating Apps. Die sind ja wie wir.

Rauf oder runter?

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Deutschland nähert sich gerade wieder der magischen Grenze. Rutscht die Zahl der Arbeitslosen unter drei Millionen, gilt das als gute Nachricht. Denn der Wert soll sagen: Sehr viele Menschen in Deutschland haben einen Job, können ihre Familien ernähren, das Leben genießen. Der Wert ist vor Kurzem wieder gefallen: im Februar auf 3017000 Arbeitslose. Schon nächsten Monat könnte wieder eine Zwei ganz vorne stehen, wenn das Wetter mitspielt.

Also alles gut? „Das ist absolut verharmlosend“, sagt Gerd Bosbach. Er ist Professor für Mathematik, Statistik und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz und gilt als einer der bekanntesten Kritiker der Arbeitslosenzahlen, wie sie die Bundesagentur für Arbeit monatlich veröffentlicht. Zwar würden die aktuellen Zahlen natürlich zeigen, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt nun viel besser sei als 2005 – damals war die Arbeitslosenquote etwas doppelt so hoch wie derzeit. „Trotzdem sind drei Millionen Menschen, die offiziell als arbeitslos gezählt werden, viel zu viele Schicksale“. Er fordert, dass die Arbeitsagentur die Werte „kritischer präsentiert“. Stattdessen passiere das Gegenteil: „Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, wird das euphorisch gefeiert.“



Die Berechnung der Arbeitslosenzahl weist oft Lücken auf. Viele Arbeitslose werden gar nicht in die Statistik miteinberechnet

Was Bosbach am meisten stört: Die Zahl, die die Arbeitsagentur als wichtigste kommuniziert, stelle die Situation verzerrt dar. Die Zahl der Arbeitssuchenden liege deutlich höher als 3017000. Tatsächlich waren im Februar 3887862 Menschen arbeitslos – wenn man die verdeckte Arbeitslosigkeit und die Altersteilzeit mit einberechnet.

So waren etwa 175000 Menschen in einer „Aktivierungs- oder Eingliederungsmaßnahme“. Beispielsweise schulen private Anbieter Arbeitslose, wie sie sich richtig bewerben. Fast genauso viele Arbeitslose bildeten sich weiter. Zur verdeckten Arbeitslosigkeit zählen des Weiteren Personen, die älter als 58 Jahre sind und seit mehr als einem Jahr keinen Job mehr angeboten bekommen haben; außerdem Ein-Euro-Jobber und Arbeitslose, die länger krank sind.

Geheim sind diese Daten nicht. Sie stehen ebenfalls auf der Internetseite der Arbeitsagentur. Sie sollten auch in die offizielle Arbeitslosenstatistik einfließen, fordert Bosbach. „Arbeitslose nicht zu zählen, die an private Vermittler weitergegeben wurden, bezeichne ich als Schönfärberei“, sagt der Statistiker.
Die Bundesagentur weist diese Kritik zurück. Sie würde auch den Stand der verdeckten Arbeitslosigkeit kommunizieren. Tatsächlich spricht sie in ihren Veröffentlichungen von „Unterbeschäftigung“, wenn sie die rund 3888000 Menschen meint, die wegen „Eingliederungsmaßnahmen“, Altersteilzeit oder aus anderen Gründen bei der offiziellen Arbeitslosenzahl nicht mitgezählt werden.

Zuerst würde die Behörde aber die niedrigere Zahl nennen, entgegnet Bosbach. Das bleibe in den Köpfen hängen. Wer in Vierteln lebe, die stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind, der könne zwar erkennen, dass die Zahlen schöner seien als die Wirklichkeit. Bessergestellte Menschen dagegen würden die Zahlen gerne glauben. „Die denken wirklich, dass die wirtschaftliche Entwicklung fast allen Menschen zugute kommt“, so Bosbach.

Das ist auch aus Sicht der Arbeitsagentur eine Fehlinterpretation, dem die Behörde entgegenwirken möchte. Arbeitslose profitierten ungenügend davon, dass die Zahl der Beschäftigten wächst, sagt eine Sprecherin. Die Agentur betont regelmäßig, dass die Profile der Arbeitslosen – also ihre Fähig- und Fertigkeiten – nicht zu den Anforderungen der zu besetzenden Stellen passten.

Die Politik verändert häufig den rechtlichen Rahmen der Arbeitslosenstatistik. Bosbach zählt 17 Änderungen in den vergangenen 20 Jahren in der Berechnung der Arbeitslosenzahlen. „Davon haben 16dazu beigetragen, die Zahlen zu verringern“, sagt er. Die Bundesagentur verweist darauf, dass die Behörde an die gesetzlichen Vorschriften gebunden ist. Die Änderungen hätten nicht immer zu einer Verringerung der Arbeitslosenzahlen geführt, sagt eine Sprecherin. Eine hätte beispielsweise zu einer Zunahme der älteren Arbeitslosen geführt. Die Behörde habe zudem manchen Reformen widersprochen, sich aber nicht gegen die Politik durchsetzen können.

Die Arbeitslosigkeit schwankt im Laufe des Jahres. Wenn die Sonne scheint, können beispielsweise auf Baustellen mehr Leute beschäftigt werden. Deswegen sinken die Arbeitslosenzahlen im Frühjahr und Sommer meist. Im Winter ziehen sie sprunghaft an. Das nutze die Arbeitsagentur aus, um bessere Nachrichten veröffentlichen zu können, behauptet Bosbach: Denn die Behörde melde prominent den Rückgang zum Vormonat. Sinnvoller wäre ein Vergleich mit dem Vorjahr. Diese Zahl veröffentlicht die Agentur auch – aber nur an zweiter Stelle. Somit kreist die öffentliche Debatte um die schwerer verständlichen Monatswerte.

Die Aufgabe der Arbeitsagentur ist es, Menschen Jobs zu vermitteln. Bosbach hält die Behörde deswegen für die falsche Institution, um die Arbeitslosenstatistik zu führen – weil Erfolgsmeldungen im eigenen Interesse liegen würden. „Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft möchten ein positives Bild. Das sollen die Schicksale der Arbeitslosen nicht trüben.“

Bei dir piept’s wohl

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Das mit der Brille ist so eine Sache. Wenn man, sagen wir, charmante 13 ist, ist die Vorstellung, eine Brille tragen zu müssen, ein an Grausamkeit nicht zu überbietender Albtraum. Man schreit nach Kontaktlinsen, aber die sind kratzig und nervtötend, also verbringt man große Teile seiner Jugend im Maulwurfs-Modus und setzt das corpus delicti nur auf, wenn sonst Gefahr für Leib und Leben droht, also etwa beim Überqueren ungeregelter Kreuzungen. Später merkt man, dass die Brille auch nützlich sein kann, um Intelligenz vorzutäuschen oder Augenringe zu verstecken, und versteht nicht, wie man da mal so ein Drama veranstalten konnte.



Datenbrillen erweisen sich als nützliche Helfer in der Industrie

Eine emotionale Sache ist die Brille heute aber trotzdem noch, allerdings sind die, die jetzt laut aufschreien, Datenschützer, die intelligente Brillen wie etwa Google Glass gar nicht witzig finden. Die Industrie aber findet Datenbrillen toll: Bei Montagearbeiten könnte man heute dafür sorgen, dass die Arbeiter die Baupläne im Wortsinn auf dem Schirm haben; Chirurgen können bei einer Operation unterstützt werden.
Auch beim Autokonzern Volkswagen sollen sich die Mitarbeiter künftig für den Nerd-Style entscheiden, zumindest wenn sie im Teile-Lager in Wolfsburg arbeiten. Dort finden gerade die letzten Tests statt, um die Handscanner zu ersetzen, mit denen bislang Bauteile erfasst werden. Mit der Brille auf der Nase hätten die Beschäftigten beide Hände frei, heißt es bei VW, das sei sicherer, effizienter und damit am Ende sparsamer. Per Minikamera liest die Brille die Info-Etiketten an den Behältern. Bei der für den aktuellen Packauftrag richtigen Kiste ertönt ein Signal. Beim Griff in die falsche Kiste gibt es einen Warnton. Oder anders ausgedrückt: Es piept jetzt bei VW.

Datenbrillen können die Position der Pupillen erfassen, in Echtzeit mit dem Blickfeld des Trägers verrechnen und die Sicht auf die reale Welt um digitale Informationen erweitern. Per Blickbewegung lassen sich Inhalte gezielt abrufen. Auch das Militär interessiert sich für Datenbrillen, die den Soldaten etwa geografische Informationen oder Feindbewegungen ins Sichtfeld legen

Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns

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Scheitern ist zum Gesellschaftsthema geworden. Selbst in der Wirtschaftsgroßregion Stuttgart versammeln sich die Freunde unbeschwerten Versagens neuerdings zu sogenannten „FuckUp Nights“, auf denen konkurserprobte Unternehmer Modelle nachhaltigen Scheiterns präsentieren und Vorschläge unterbreiten, wie sich ökonomisches Versagen durch mehr Achtsamkeit künftig optimieren ließe. Auch das Wirtschaftsmagazin brand eins steuerte kürzlich ein Schwerpunktheft zum Thema bei, bekannte sich zur „Lust am Wagnis“ und erhob das Scheitern in den Rang einer schönen Kunst. Grund genug, einmal die Literatur nach ihrer Kernkompetenz im Austausch mit Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Wissenschaft zu befragen – ist doch alles Scheitern seit Orpheus, Ödipus, Odysseus und den anderen buchstäblich bei ihr zu Hause.

Ein wenig frivol und dabei selbst dem Scheitern ausgesetzt, wirkte das Unternehmen des Stuttgarter Literaturhauses allerdings schon, wenn es im Rahmen eines „Festivals des Misserfolgs“ gleich die ganze Spanne möglichen Scheiterns auszuloten suchte – vom gewöhnlichen Stolpern bis zum Zerschellen von Lebensplänen, vom Erleiden von Schiffbrüchen im Arbeits- und Liebesleben bis zum Stranden von Wirtschafts- und anderen Unternehmen, von Krisen- zu Kriegsgebieten bis zu „gescheiterten Volkswirtschaften“ und „gescheiterten Staaten“. Prominente Autoren und Akteure sorgten an drei Tagen für eher nachdenkliche Konferenzstimmung als für Festivallaune.

Katharina Raabe, die wohl wichtigste deutsche Lektorin für osteuropäische Literaturen moderierte ein Podium mit der weißrussischen Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch („Secondhand-Zeit“, 2013) und dem Erforscher ukrainischer und russischer Protestbewegungen Mischa Gabowitsch („Putin kaputt?“, 2013) zum Thema „Politik in Trümmern“. Um – pars pro toto – ein Ergebnis des diskursiven Naherückens von Europas gegenwärtig kritischster Zone vorwegzunehmen, zitierte Raabe den Gruß eines ukrainischen Freundes an die Deutschen, von denen viele die Ukraine noch immer von der europäischen Landkarte verdrängt sehen möchten: „Für Euch wird es auch nicht mehr so sein, wie es war; es ist schon gar nicht mehr, wie es war; Ihr habt es nur noch nicht gemerkt.“



NIcht jeder ist den hohen Anforderungen im Beruf gewachsen. Dass Scheitern auch eine Chance sein kann, wird auf der "FuckUp Nights" demonstriert

Oder hatten es die Anwesenden bei Themen wie „Unglücksraben“, „Liebesdesaster“ oder „Endstation“ vielleicht doch schon gemerkt? Der Schweizer Buchpreisträger („Koala“, 2014) Lukas Bärfuss und der Philosoph Thomas Macho lasen und sprachen über Suizide zwischen „ultimativem Scheitern“ und „letztem Ausweg“. In der Diskussion zwischen der Romanautorin Nora Bossong („Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, 2012), dem Wirtschaftswissenschaftler Werner Plumpe und dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl ging es unter der Überschrift „Die große Pleite“ vor allem um Griechenland vor dem ökonomischen Zusammenbruch. Die israelische Autorin Lizzie Doron sprach mit dem deutschen Parlamentarier Ruprecht Polenz zum Stichwort „Zerrüttete Beziehungen“ über den israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt.

Bei aller scheinbaren Ausweglosigkeit des Scheiterns war es ausgerechnet Doron, die mit der schönsten Geschichte eines Versagens, der Schilderung eines gescheiterten Terroranschlags einen Hoffnungsfunken anzudeuten vermochte: Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das unter dem Druck ihres Clans, zur Selbstmordattentäterin werden sollte. An einem israelischen Kontrollpunkt sollte sie sich in die Luft sprengen. Die Armee hatte von dem Plan jedoch Wind bekommen und befahl den Umstehenden, sich auf den Boden zu werfen. Dann zog das Mädchen die Handgranate, die jedoch nicht zündete, und wurde verhaftet. Als sie nach Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, bat sie um eine Begegnung mit dem Soldaten, der sie festgenommen hatte. Beide wurden Freunde. Jetzt ist sie eine Friedensaktivistin, und Doron wird als nächstes Buchprojekt diese Geschichte zusammen mit den Geschichten anderer Aussteiger aus dem Terrorismus aufzeichnen.

Einige Nummern kleiner scheitern dagegen die Figuren von Wilhelm Genazino, von denen stets nichts anderes als Stolpern und Scheitern zu erwarten ist. Damit sucht der Büchnerpreisträger in allen seinen Büchern, Nietzsches skeptische Diagnose umzusetzen, wonach Scheitern als „die einzige vernünftige Daseinsform von Wirklichkeit“ anzusehen sei. Die existentielle Nähe des Schriftstellers selbst zum Scheitern verpflichtet ihn freilich zu Empathie und Kollaboration. Er muss dazu nicht notwendigerweise immerzu leiden, nur um Kunst entstehen zu lassen, sondern kann stets auch wieder davonkommen, notfalls, sagt Genazino, „durch gespielte Abwesenheit“. Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl dreht die Sache wieder um und findet wenig Trost fürs Positive – außer dass er sich einig ist mit Nora Bossong, dass die Komödie die einzig adäquate literarische Gattung für alle Spielarten des Scheiterns sei: Unter Berufung auf Kafka gäbe es gewiss „unendlich viel Hoffnung, aber nicht für uns“.

Wenig Hoffnung gibt es nach den traurig stimmenden Diagnosen Swetlana Alexijwitschs für die Ukraine. Sie glaubt nicht, dass die Maidan-Bewegung in absehbarer Zeit auf Russland übergreifen wird. Gestützt wird diese Prophezeiung von den empirischen Befunden des Soziologen Gabowitsch. Den einzigen Lichtblick erkennt sie in einem „Grundproblem des 21. Jahrhunderts“, dass nämlich „niemand mehr sterben will – zum Glück“. Allerdings seien die Waffen ungleich verteilt: hier unerfahrene, schlecht ausgerüstete Wehrpflichtige, dort kampferprobte, waffenstarrende Söldner. Da bliebe nur, der Ukraine endlich Waffen zu liefern und sie ökonomisch am Leben zu erhalten. Im Übrigen sei allem Scheitern nur mit dem zu begegnen, was Alexijewitsch ihre Helden häufig sagen lässt: „Wir müssen darüber reden, was geschehen ist.“

Kein Hartz für Tiere

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Nepomuks letzter Milchzahn will einfach nicht ausfallen, da kann der Welpe noch so bellen. Dabei haben die Pfleger des Tierheims im Kölner Stadtteil Zollstock dem Kleinen mit dem weizenbraunen Fell extra einen gigantischen Knochen ins Gehege gelegt. An dem soll er kauen, bis der Wackelkandidat endgültig nachgibt. Nepomuk ist vermutlich Schäferhundmischling, aber so genau weiß das hier keiner. Eine Passantin hat ihn auf einer Wiese gefunden, ausgesetzt. Jetzt versteckt er sich hinter seiner Pflegerin, legt die Ohren an und lässt sich unter den Pfoten kraulen. Lange wird er nicht mehr hier sein. Bald wird Nepomuk zu seinem neuen Besitzer ziehen, und das bedeutet für das klamme Heim: ein Ausgabenposten weniger. Denn der Tierschutzbund schlägt Alarm: Jedes zweite der 500 deutschen Tierheime sei von Insolvenz bedroht. Auch das in Köln, in dem 270 Tiere wohnen.

Nepomuk hat bald ein neues Zuhause, aber er ist ja auch ein Sympathieträger, ausgerüstet mit der ultimativen Waffe gegen die Hartherzigen: dem Welpenbonus. Doch was passiert mit Timmy, dem schwarz-weißen Border Collie? Der sieht harmlos aus, aber auf dem Schild mit der Aufschrift „Vorsicht bissig!!!“ an seinem Gehege sind die Ausrufezeichen in Alarmrot gemalt. Mit Jelly, der zutraulich die Nase gegen sein Gitter presst? Als Rottweiler ist er „rassebedingt“ schwer zu vermitteln, wie es hier heißt. Und mit der getigerten Katze, die sich wegen ihrer Hautkrankheit immer wieder das Gesicht zerkratzt? Sie werden so bald wohl niemanden finden, der sie will. Und das wird teuer für ihre Gastgeber.



Immer mehr Tiere werden in Tierheimen abgegeben. Das überlastet die finanziellen Mittel der Heime. Jetzt beantragen sie Hilfe von den Kommunen

Silke Schmitz vom Tierheim führt über das Gelände, vorbei an einem Einkaufswagen voller Katzenfutter-Packungen und einer Plastikkiste, auf der steht: „Kotbeutel“. Sie rechnet vor: 800 000 Euro gäben sie im Jahr aus, es käme aber nur die Hälfte davon wieder rein – Spenden, Geld von der Stadt, Gebühren von Bürgern, die Tiere mitnehmen. Bleibt ein Minus von 400 000 Euro. Um es auszugleichen, müsse das Heim Reserven aus besseren Zeiten angreifen. Darum sollten die Kommunen mehr zahlen. Im Falle der Kölner Einrichtung deutlich mehr als jene 100 000 Euro, die die Stadt pro Jahr für Fundtiere überweist. Die Verhandlungen mit der Verwaltung laufen. Dort bezweifelt man allerdings, dass am Tag pro Hund 21 Euro anfallen und pro Katze zehn. Die Summen hat der Tierschutzbund von einem Steuerberater berechnen lassen. Elke Sans trägt die Kluft der Tierpfleger: Jogginghose, Regenjacke, Fleece-Pulli. Die feinen Haare, die ihn bedecken, verraten, wo die 36-Jährige arbeitet: im Katzenrevier. Einer von drei Bereichen des Heimes, neben Hunde- und Nagetierrevier.

Sans erzählt, was jetzt anders läuft: Wenn der Urin der Katzen schmierig werde, was auf Blasensteine hindeute, überlege sie dreimal, ob sie die Tiere zum teuren Ultraschall bringe. Wenn es einen neuen Besen gebe, stritten die Reviere über ihn. Neben ihr ist in einer Glasscheibe ein faustgroßes Loch, dahinter turnt Kater Fuchur über Kisten. Nicht die einzige Stelle, an der das Heim eine Reparatur vertragen könnte. In den Räumen für Katzen stehen Schlafkörbe in weißen Regalen, an den Kanten quillt brauner Pressspan aus dem geplatzten Lack. In den Außengehegen wächst überall wächst Moos.

Seit der Finanzkrise klafft eine Lücke auf den Konten der Heime. Stiftungen, die immer viel gespendet hatten, verloren erst viel Geld, jetzt wirft ihr Kapital kaum noch Zinsen ab. Außerdem landen hier immer mehr alte und kranke Tiere. Die sind schwer vermittelbar und verursachen hohe Tierarztkosten. Das ist nicht nur ein Problem der Tiere, sondern auch eines der Menschen. Dass die Armut zunehme, spürten sie hier, sagt Sans: „Viele Tiere werden abgegeben mit dem Satz: ‚Ich kann mir das nicht mehr leisten.’“

Und die Besitzer geben früher auf. Früher war das Heim nur in den Sommerferien voll. Jetzt wollten viele schon an Ostern ihre Tiere wieder loswerden, sagt Silke Schmitz. „Wir sehen am Alter der Tiere, dass sie Weihnachtsgeschenke waren.“ Ralf Unna ist noch etwas bissiger als Timmy, der Border Collie, zumindest verbal. Er ist der Tierarzt des Heimes, Vizepräsident des Landestierschutzverbandes NRW, grüner Stadtrat. Er schimpft über „Klugscheisser-Kämmerer“, die Tierbetreuung an den billigsten Anbieter vergäben, einen kommunalen Spitzenverband bezeichnet er als „mafiöse Organisation“. Die 200 Euro, die Köln pauschal für einen Hund zahle, reichten nicht einmal zehn Tage. Die Kommunen sollten die Kosten doch für sechs Monate übernehmen. So lange haben Besitzer den Anspruch, Fundsachen – dazu zählen Fundtiere nämlich juristisch – zurückzubekommen. Sich um sie zu kümmern, ist eine kommunale Aufgabe, die Tierheime der Verwaltung abnehmen. Die dürfe deshalb nicht knausern: „Sonst kommen wir nicht aus dem strukturellen Defizit.“ Jetzt klingt Unna wie ein griechischer Finanzminister.

Silke Schmitz nennt als Beispiel Henry, den blinden Pudel, der im Park gefunden wurde, an eine Bank gebunden. Für ihn habe die Stadt 200 Euro gezahlt – bei weitem nicht genug für Kastration, das Ziehen von zwölf Zähnen und eine private Pflegestelle, die das Heim bezahle. Wer den Tierschützern zuhört, könnte meinen, die Kommunen seien etwa so wenig engagiert wie Berta, das Hängebauchschwein. Sie wohnt im hintersten Eck des Geländes, noch hinter den Hühnern, die aus einer Legebatterie freigekauft wurden, und ist bekannt dafür, nur selten ihren Stall zu verlassen. Bei der Stadt Köln sieht man das anders.

Eine Sprecherin erklärt: Im Vertrag mit den Kölner Heimen stehe doch eine Klausel, nach der über eine Erhöhung der Pauschalen verhandelt werden könne. Allerdings müssten die Heime dazu belastbare Zahlen über ihre tatsächlichen Ausgaben offenlegen. Aufschläge erhielten sie schon jetzt, etwa für Kampfhunde. Weil die Verträge so unterschiedlich sind, muss jedes Heim einzeln mit seiner Kommune verhandeln. In Krefeld platzten vor kurzem Verhandlungen zwischen Stadt und Heim, kurzzeitig sollten Fundtiere in den Zoo. Eine bundesweite Lösung gibt es nicht, der Deutsche Städte- und Gemeindebund lässt verlauten, das Ganze sei „nicht das vorrangige Problem in der Kommunalpolitik“.

Zudem gibt es Streit über die Definition, was denn überhaupt ein „Fundtier“ ist. Viele Heime wünschen sich, dass alle Kommunen alle Heimtiere als Fundsache anerkennen. Der Städte- und Gemeindebund NRW erklärt dagegen: Streuner und ausgesetzte Tiere fallen nicht unter die Definition: „Fundtiere sind nur die Tiere, die verloren gegangen sind.“

Die Ausgaben stiegen auch, weil die Heime sich professionalisiert hätten, sagt Unna: „Vor 30 Jahren kriegte der Tierpfleger 1000 Mark und durfte noch ein paar faulige Äpfeln mit nach Hause nehmen.“ Die Tiere seien damals schlecht behandelt worden. In Köln-Zollstock arbeiten heute 25 Profis, fünf Pfleger werden ausgebildet. Pflegerin Sans steht in einem Außengehege für Katzen und zeigt auf den Boden: Zwischen den Fliesen ist kaum noch Mörtel, der sie zusammenhält. Sans wippt auf der Stelle auf und ab. Ein dumpfes Geräusch. „Das ist alles unterhöhlt. Ich hab immer Angst, dass das nachgibt.“

Lehrer prügelt Schüler – tot

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Islam Scherif wurde nur elf Jahre alt. Gestorben ist er am Sonntag in einem Krankenhaus der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Doch der Tod traf den Fünftklässler da, wo Kinder eigentlich geschützt sein sollten: in seiner Schule im Stadtteil Saiyida Zainab. Ein Lehrer hatte ihn am Donnerstag offenbar derart brutal geschlagen, dass er eine Gehirnblutung erlitt. Er war schon bewusstlos, als er ins Krankenhaus kam. Der Staatsanwalt sagte, die vergangene Woche aufgenommenen Ermittlungen würden auf den Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge ausgedehnt; der Beschuldigte ist suspendiert und in Untersuchungshaft. Das Innenministerium versprach der Familie eine Entschädigung von umgerechnet etwa 3600 Euro.

Erziehungsminister Moheb el-Rafie verfügte, dass die Schule geschlossen bleibt, bis die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchungen abgeschlossen habe. Damit solle die „psychologische Gesundheit der anderen Schüler gewahrt werden“, teilte das Ministerium laut der halbamtlichen Tageszeitung Al-Ahram mit. Prügelstrafen und Gewalt von Lehrern gegen Kinder sind allerdings keine Seltenheit in den Schulen des Landes. Die Organisation „Ägyptische Koalition für Kinderrechte“ veröffentlichte im November einen Bericht, in dem sie sechs Fälle von Misshandlungen in einem Schuljahr dokumentiert hatte, die zum Tod von Kindern führten, dazu weitere 41 Angriffe und zehn Fälle von sexuellem Missbrauch.

Der Leiter der Schulverwaltung in Kairo, Khaled Abdel-Hakim sagte, der Lehrer habe sieben Schüler bestraft, weil sie angeblich die Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Islam habe sich geweigert, seine Arme über den Kopf zu heben, weil er müde sei. Nach einem heftigen Wortwechsel habe der Lehrer den Jungen mit einer Rute auf Körper und Kopf verprügelt.



An Ägyptens Schulen ist Gewalt Schülern gegenüber zu einem wachsenden Problem geworden

Der öffentliche Aufschrei ist groß, doch ändert sich wenig. In jüngerer Zeit hat sich die Situation von Kindern in Ägypten nach offiziellen Zahlen sogar weiter verschlechtert: Zwischen Januar und Ende Oktober 2014 nahmen die Übergriffe im Vergleich zum Durchschnittswert der vorherigen drei Jahre um 55 Prozent zu, wie der dem Familienministerium unterstehende Nationale Kinder- und Mütterrat im Dezember mitteilte. Die Hälfte der Gewalttaten sei in Schulen registriert worden.

Auch im jüngsten Fall kam der Gewaltausbruch nicht überraschend, wenn man den Verwandten des Opfers glaubt. Islams Vater Scherif, 32, sagte, der Lehrer sei bekannt gewesen für seine Brutalität. Die Eltern hätten sich mehrmals bei der Direktion über ihn beschwert, aber die Beschwerden seien erfolglos geblieben. Einige Eltern hätten daraufhin ihre Kinder aus der Schule genommen – viele aber haben diese Wahl gar nicht. Ein Freund und Mitschüler von Islam sagte: „Wir hatten ständig Angst vor diesem Lehrer und seinem Stock, den er immer bei sich trug.“ Die Mädchen habe er an den Haaren und Ohren gezogen, um sie zu strafen. Er will nur in die Schule zurück, wenn der Lehrer nie wieder zurückkehren darf.

Mein Frühstück ist Kunst

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Ein von @the_wholesome_bowl gepostetes Foto am 14. Feb 2015 um 10:08 Uhr



Es muss Überwindung kosten, ein Kunstwerk, das man eine Stunde lang aus Erdbeerachteln, Gojibeeren und Kokosraspeln (akkurat mit dem Lineal gezogen) gebastelt hat - mit einem einzigen Löffel zu zerstören. Aber das ist nun mal der Sinn der Kunswerke von Amalia Bussard.

Auf ihrem Instagram-Account the_wholesome_bowl postet sie regelmäßig Fotos von ihrem Frühstücksmüsli, aus dem sie mit Obst, Nüssen und Raspeln mandala-artige Kunstwerke legt.






Ein von @the_wholesome_bowl gepostetes Foto am 12. Jan 2015 um 12:13 Uhr








Essen ist das beliebteste Motiv auf Instagram, Blogger (wie zum Beispiel whatforbreakfast aus Berlin), aber auch Hobby-Food-Fotografen geben sich aktuell besonders viel Mühe mit der fotografischen Inszenierung ihres Frühstücks. Vielleicht weil das erste Essen am Tag Überwindung kostet und sie beim Basteln irgendwann doch Hunger kriegen. Und bestimmt, weil sie dem Neid der Instagram-Nutzer sicher sein können, die um diese Zeit an ihrem Kaffeebecher nippen.

Neidisch wird auch, wer den Account SymmetryBreakfast abonniert hatauf dem die Londoner Michael Zee und Mark van Beek ihr Frühstück exakt symmetrisch angeordnet posten.

Wenn man ein Kunstwerk schon zerstören muss, ist wenigstens gut zu wissen, dass es im Internet weiter lebt.











kathrin-hollmer

Die taffste Moderatorin der Welt

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Einen Gesprächspartner abzuwürgen, kostet immer Überwindung. Wie muss das erst sein, wenn einem als Gesprächspartner ein Islamist in einem Live-Interview gegenübersitzt? Die Nachrichtenmoderatorin Rima Karaki vom libanesischen Sender Al-Jadeed TV weiß, wie sich das anfühlt. In einem Live-Interview legte sie sich mit dem in London lebenden ägyptischen Islamisten Hani al-Sebai an, mit dem sie über Christen, die sich dem IS anschließen, sprechen wollte. 

http://www.youtube.com/watch?v=bOlpK6Yj5a4

Ihr Interview endete in einem Streit. Dabei hatte sie ihn nur gebeten, beim Thema zu bleiben, nachdem er abschweift war. Für den Islamisten war das aber schon zu viel. Irgendwann sagte er sogar zu ihr: „Halten Sie die Klappe, damit ich reden kann.“ Rima Karaki stoppte daraufhin das Gespräch vorzeitig. Ihr „Genug. Lasst uns das hier beenden“, das sie zu ihrem Redaktionsteam sagte und damit das Interview beendete, wird gerade auf der ganzen Welt zitiert und gefeiert. al-Sebai setzte sogar noch einmal an und sagte: „Es ist unter meiner Würde, von Ihnen interviewt zu werden. Sie sind eine Frau, die ...“, doch weiter kam er nicht. Rima Karaki hat das Mikrofon des Islamisten dann schon ausschalten lassen.

Das Video der Nachrichtensendung ist schon älter als eine Woche, inzwischen wurde es mehr als fünf Millionen Mal angeklickt. Viele feiern Rima Karakis Courage, besonders seit dem Internationalen Frauentag am Sonntag und wegen ihrer klaren Worte. Am Schluss sagt sie im Video: „Entweder herrscht hier gegenseitiger Respekt oder die Unterhaltung ist beendet.“ Denn für die Demokratie ist es wichtig, mit allen Menschen zu sprechen, auch wenn sie Meinungen vertreten, die man nicht teilt. Das funktioniert aber nur mit gegenseitigem Respekt.

kathrin-hollmer

Das ist: Candy Ken, It-Boy

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Das ist...
Candy Ken. So kennt ihn das Internet und seit letzter Woche auch die Teile der Modewelt, die einigermaßen vorne dran sind. In seinem Ausweis steht Jakob Kasimir Hellrigl. Da steht auch, dass er 22 ist, aus Vorarlberg kommt und in Berlin wohnt.

Der kann...
Fotos machen, posen und ein bisschen rappen. Hellrigl studiert in Berlin Fotografie, nebenbei produziert er Musik und Videoclips. Er rappt in holprigem Austro-Englisch über ziemlich dicke Trap-Beats. In den Texten geht es um Barbie-Puppen, Sex, Süßigkeiten und Muskeln – außerdem immer wieder um das Unverständnis, das ihm vonseiten der „Basic Bitches“ entgegenschlägt, also all den Spießern da draußen, die sein Outfit scheiße finden.

"Ich habe immer jemanden wie Candy Ken gesucht, aber niemanden gefunden. Also musste ich es selbst machen."


Obwohl er bisher sechs durchaus gut gemachte Videos auf Youtube hat, die sich ziemlich gut klicken, sagte er letzte Woche dem Paper Magazine:„Ich sehe mich nicht als Musiker. (...) Ich habe mein Leben lang jemanden wie Candy Ken gesucht, um ihn zu fotografieren und Musikvideos für ihn zu machen. Aber ich hab ihn nicht gefunden. Also musste ich es selbst machen.“

Seine Kunstfigur Candy Ken versteht Hellrigl als eine Art neoliberales Gegenstück zum ollen Ken, dem langweiligen Abercrombie-Schönling an der Seite von Barbie. Candy Ken kokettiert mit bunt gefärbten Augenbrauen, silbernen Grillz im Mund und Kinder-Abziehtattoos. Übrigens stark inspiriert vom amerikanischen Satire-Rapper Riff Raff, den er mit einem Song ganz offiziell zu seinem geistigen Vater erklärt:

https://www.youtube.com/watch?v=cS9Y0TgVEOA

Der geht...
vielleicht demnächst nach Paris und New York. Seit letzter Woche ist er nämlich in der Modewelt angekommen: Der Creative Director von Diesel, Nicola Formichetti, hat Candy Ken auf Instagram entdeckt und zu einem Shooting nach Mailand geflogen. Die Fotos erscheinen jetzt im neuen„Free“-Magazin in Japan. Und sogar der Designer Jeremy Scott, der kürzlich Katy Perrys Superbowl-Kostüm entworfen hat, teilte die Fotos von Candy Ken begeistert. Muss nichts heißen - könnte aber zumindest heißen, dass da gerade ein Trend losgetreten wird.

Wir lernen daraus, dass... 
die Modebranche abseits von Normalo-Models immer mal wieder Bedarf an super-skurrilen Typen hat. Da ist Candy Ken mit Nicola Formichetti als Förderer durchaus an der richtigen Adresse: Vor ein paar Jahren entdeckte der den Kanadier Rick Genest, der auf seinen ganzen Körper ein Skelett tätowiert hat, und buchte ihn für Modeschauen und ein Videoclip von Lady Gaga. Rick Genest ist seither ein hochbezahltes Werbemodel.

Nur Google weiß über ihn, dass...
er als Kind Keramikkurse bei einer gewissen Edith Schmuck in Bregenz besucht hat. Und dass er vor ein paar Jahren einen lokalen Fotowettbewerb gewann. Damals sah er so aus:

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Die perfekte Pinkelpause

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Dan Flario ist so etwas wie der Mark Zuckerberg für Blasenschwache. Seine App "RunPee" verhilft zu einem Kinoerlebnis ohne Reue und Selbstvorwürfe, denn es weiß genau, wann die beste Zeit ist für eine kleine Pinkelpause.



RunPee zeigt dir, an welcher Stelle du den Kinosaal verlassen kannst, ohne etwas zu verpassen

Der Entwickler Dan Flario und seine Helfer durchsuchen Filme nach dem perfekten Zeitpunkt für den Gang zur Toilette: Szenen, in denen nichts Besonderes passiert und die nicht relevant für das Gesamtverständnis des Films sind. Und schickt dann den Zuschauer auf die Toilette. Im Schnitt werden pro Film vier Minuten Pinkelpause angeboten. 

Die App ist leicht zu bedienen: Sobald der Film anfängt, startet man den Timer. Sobald eine Szene kommt, die Dans Kriterien entspricht, vibriert das Smartphone dezent, sodass es die anderen Kinogänger nicht stört. Mit dem Signal bekommt auch eine Begründung, warum diese Szene ausgesucht wurde, damit man selbst entscheiden kann, ob man sie wirklich verpassen möchte. 

Auch wenn man den Anfang des Films verpasst hat, kann "RunPee" helfen, denn die ersten drei Minuten sind immer kurz zusammengefasst. Ein weiterer Service: Die App sagt einem, ob es sich noch lohnt, die Credits abzuwarten.

Jede Woche wird Flarios Datenbank aktualisiert. Bis jetzt sind nur Mainstream-Filme in der Datenbank, aber Dan hat aber schon Pläne, Indie-Produktionen aufzunehmen.

dilek-ozyildirim

Krank vor Überfluss

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Bist du ein Affluenza-Kid? Wenn du dich bei diesen drei Phänomenen (hier die vollständige Liste zur Selbstdiagnose) angesprochen fühlst, wohl schon:

1. Ich bin bereit, mehr für ein T-Shirt zu bezahlen, wenn ein cooles Markenlogo darauf ist.
2. Ich möchte mir ein SUV kaufen, obwohl ich nie im Gelände Auto fahre. 
3. Wenn mir kalt ist, ziehe ich Kleider aus und drehe die Heizung auf.

Affluenza, was heißt das eigentlich?


Der Begriff Affluenza setzt sich zusammen aus "affluence", Englisch für Wohlstand, und "Influenza", zu Deutsch Grippe. Der Theorie nach verspüren Affluenza-Kids den Drang, immer mit dem Nachbarn mithalten zu müssen und eine Sucht nach wirtschaftlichem Reichtum. Der Begriff steht in enger Verbindung zum Konsumismus und wird auch "Zeitkrankheit Konsum" genannt.

Heutzutage ist es ja in Mode, alles zu pathologisieren und jedes auffällige Verhalten als Krankheit abzustempeln. Doch im Falle der Affluenza-Kids könnte tatsächlich mehr dahinter stecken. Das zeigt das Beispiel von Ethan Couch, eines 16-jährigen Texaners, der sinnbildlich steht für eine Generation amerikanischer Rich Kids.

Vier Tote, zwei Verletzte, null Schuldgefühle


Ethan Couch feierte gern Partys mit seinen Freunden. Trinken und Spaß haben gehörte dazu, Bier und das Auto seines Vaters klauen wohl auch. Und genau das wurde ihm zum Verhängnis: Er überfährt vier Menschen, die an ihren Verletzungen sterben, und verletzt zwei weitere. In seinem Blut fand man noch drei Stunden nach dem Unfall hohe Konzentrationen an Alkohol und Valium.

Im Dezember 2013 verurteilte ihn ein Richter zu 10 Jahren - allerdings nicht im Gefängnis, sondern in einer Rehabilitations-Klinik. Den Aufenthalt bezahlen seine Eltern, schlappe 700 Dollar pro Tag. Der Anwalt argumentierte, dass Couch nicht ins Gefängnis gehöre, sondern in eine psychologische Betreuung; er leide schließlich an Affluenza. Ein von der Familie engagierter Psychologe attestierte, dass der Junge nicht in der Lage sei, die Konsequenzen seines Handelns einzuschätzen, weil seine Eltern ihm das nie beigebracht hätten. Das fehlende soziale Verantwortungsgefühl und seine Haltung, dass mit Geld alles zu erreichen sei, sprächen genau dafür.

Ist Affluenza also ein Freifahrtschein für Straftaten? Der Begriff suggeriert Ansteckung und Gefahr. Tatsächlich hat das Phänomen aber auch soziologische Wurzeln in der amerikanischen Gesellschaft: ein verschwenderischer Lebensstil, der auf Abgrenzung und Statusmerkmale bedacht ist, mehrere Autos, größere Häuser, dazu Fernsehserien wie O.C. California, bei denen es um angeblich erstrebenswerte Oberflächen geht. Kombiniert mit mangelnder Zuwendung für das eigene Kind, Abgabe von Verantwortung und einer schlechten Erziehung führt das zu dem, was in Deutschland als Wohlstandsverwahlosung bekannt ist. Im Gegensatz zu Affluenza beschreibt dies aber keine psychologische Störung, die vor Gericht anerkannt würde. 

Bereits Ende der 90er Jahre reagierte der amerikanische Sender PBS darauf und strahlte John le Graafs gleichnamige TV-Show "Affluenza" aus. Darin reisen die Macher durch Amerika und zeigen dem Publikum Menschen, die weniger arbeiten und einkaufen, aber dafür mehr Zeit mit der Familie und Freunden verbringen oder sich ehrenamtlich engagieren. Lebenswertere Leben also. Auch das 2014 erschienene Kinodrama "Affluenza" thematisiert das Phänomen am Beispiel der Wohlstandsgegend Long Island.

Interessanterweise gab es aber auch Gegenrede bei der Verurteilung von Couch: Die Psychologin Suniya Luthar sagte, die Forschung zeige, dass ein Doppel-Standard zwischen Armen und Reichen gesetzt werde: "Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Richter das Verhalten eines Afro-Amerikaners, der in einer brutalen Umgebung aufwuchs und dessen Mutter drogenabhängig war, so wie bei Couch beurteilen würde, nur weil er so sozialisiert wurde?" Ein anderer Psychologe pflichtete ihr bei und argumentierte, dass Couch – indem er eben nicht in einer luxuriöse Rehabilitationsanstalt gekommen wäre – hätte lernen müssen, dass Geld und Privilegien nicht die negativen Konsequenzen von kriminellem Handeln verhindern können.

Beziehung aus der Vogelperspektive

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http://vimeo.com/120893601

In einer Beziehung spielt sich ohnehin Vieles im Bett ab. Besonders viel aber, wenn man in einer WG wohnt. Dann hat man dort nicht nur Sex und schläft, sondern es laufen ganze Dates im Bett ab, man isst dort, man streitet und verträgt sich, man guckt Filme und spielt Videospiele. Ein großer Teil der Beziehung findet unter, auf und neben der Bettdecke statt.

Der Londoner Regisseur Jack Tew hat diese Beobachtung in einem ziemlich schönen Kurzfilm verarbeitet. In "me & you" erzählt er eine ganze Liebesgeschichte aus der Vogelperspektive auf das Bett des männlichen Partners gerichtet: vom Pornoheftchen-Verstecken, weil sie zum ersten Mal zu Besuch kommt, über das erste schüchterne Händchenhalten, vom ersten Sex (in den ein Mitbewohner reinplatzt) bis hin zum ersten und schließlich letzten Streit. 

Wenn man eine Beziehung so heruntergebrochen und wie mit dem Zeitraffer zusammengefasst sieht, ist es tröstend und traurig zugleich, dass alles wie ein großer Kreislauf inszeniert ist: Am Schluss räumt er seine Heftchen wieder präsent aufs Nachtkästchen. Und bestimmt bald wieder für ein neues Mädchen weg.

Sehenswert ist übrigens auch das Making-of des Films:

http://vimeo.com/102563165 

kathrin-hollmer
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