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Inselnetz

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Wer auf Kuba ins Netz will, braucht Geduld und Geld. Geduld, weil die Daten unermesslich langsam auf die Insel kriechen: Nur ein einziges Unterseekabel verbindet das Land über Venezuela mit der Welt. Geld, weil das Internet eher der Elite vorbehalten ist – Forschern an Universitäten, Politikern, und allen, die an seltenen „öffentlichen Zugangsknoten“ vier Euro pro Stunde fürs Surfen berappen. In einem Land, in dem selbst Ärzte selten mehr als 50Euro im Monat verdienen, sind das nicht viele.

Etwa 9000 Einwohner Havannas haben sich daher ein eigenes Netz zusammengeschraubt, genannt „Streetnet“ oder „SNet“: Sie haben selbst gebaute Wlan-Antennen auf ihre Dächer montiert und Kabel über Häuserschluchten hinweg gespannt. Seit einigen Jahren wächst so ein archaisches Inselnetz heran, in dem die Kubaner weitgehend ungestört Filme teilen, in Videospielen wie Call of Duty gegeneinander antreten oder über die Höhe ihrer Löhne debattieren. Mit dem restlichen Internet ist SNet nicht verbunden.



Havanna im Jahre 2013. Da das Internet in Cuba dem Großteil der Bevölkerung nicht zugänglich ist, haben etwa 9000 Einwohner Havannas sich ein eigenes Netz zusammengesbaut, genannt „Streetnet“ oder „SNet“


Doch das Werk der Aktivisten ist bedroht. Wlan-Technik unterliegt in Kuba starken Beschränkungen, manches Bauteil wird auf dem Schwarzmarkt für 200US-Dollar gehandelt. 2014 berichteten Blogs, Behörden versuchten gezielt, die Infrastruktur der Untergrundnetze anzugreifen. Sie lahmzulegen, ist jedoch schwierig. Denn anders als in herkömmlichen Netzen gibt es im SNet keinen zentralen Knoten, über den alle Daten laufen – und der sich somit kappen ließe. Stattdessen leiten die Geräte der Teilnehmer selbst die Daten ihrer Nachbarn weiter. Fällt eines aus, funktioniert das System weiter. „Es ist ein diffuses Gebilde mit dezentraler Technologie“, sagte der kubanische Kommunikationswissenschaftler Fidel Alejandro Rodríguez den Nieman Reports, einem Journal der Harvard University. „Verantwortlichkeiten und Hierarchien bilden sich spontan, zugleich reicht die Infrastruktur aus, eine ganze Stadt effizient zu vernetzen.“

Die Regierung verhält sich ambivalent. Einerseits müssen aktive Blogger mit Repressalien rechnen, falls sie zu kritisch schreiben. Andererseits befürchtet die Führung, Kuba könne wirtschaftlich weiter abgehängt werden, sollte sich die netzpolitische Isolation verschärfen. Einer von elf Kubanern besaß 2013 nach Angaben der nationalen Statistikbehörde einen Computer, 26Prozent hatten Zugang zum Internet oder zu regionalen Netzen – selbst für die Karibik sehr niedrige Werte. Im Zuge der neuen Annäherung an die USA versprach die Regierung daher, den Zugang der Bürger „stark auszuweiten“. Die Furcht der Regierung, dabei eine Büchse der Pandora zu öffnen, ist groß: Gegenüber der mexikanischen Zeitung La Journada nannte Fidel Castro das Internet einmal „die mächtigste Waffe, die je existiert hat“.


Rinderwahnsinn

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Als der Sohn am Abend den Stall betrat, um die Kühe zu melken, fand er dort seinen toten Vater. Der 61 Jahre alte Landwirt aus Nümbrecht bei Köln hatte am Nachmittag des 8. Januar eine Schiebetür reparieren wollen, heißt es später im Polizeibericht. Dabei habe ihn sein Zuchtbulle tödlich verletzt. Der 18-jährige Sohn und die Mutter hatten den Mann noch nicht bestattet, als ein anderer Landwirt aus der Nachbarschaft im Internet eine zweite bestürzende Entdeckung machte.

Auf Facebook las er von einer Tierrechtsorganisation namens Animal Peace, die den Todesfall als Befreiungsakt des Hausrinds bejubelt. „Ein dreijähriger Bulle hat nahe Köln seinen Sklavenhalter angegriffen und tödlich verletzt“, stand dort. Und: „Wir verneigen uns vor dem Held der Freiheit. Mögen ihm viele weitere Rinder in den Aufstand der Geknechteten folgen.“

Silke Ruthenberg hat diese Worte auf die alarmrote Website der Tierrechtsorganisation getippt. Sie ist die Vorsitzende von Animal Peace, einer Organisation, die Mitte der Achtziger von autonomen Tierrechtlern gegründet wurde und zu ihren besten Zeiten nach eigenen Angaben mehr als 30000 Mitglieder hatte. Heute sind es noch gut 5000. Die Aktivisten werben dafür, vegan zu leben und den menschlichen Grundrechten nachempfundene Tierrechte einzuführen. Ihre Bullenhuldigung hat nun weniger eine Debatte darüber entfacht, was Tierhalter dürfen, sie hat vielmehr die Frage aufgeworfen: Wie weit dürfen Tierschützer gehen?



Wie weit dürfen Tierschützer gehen? Ein Landwirt wird in Nürnbrecht bei Köln von seinem Zuchtbullen getötet. Die Tierrechtsorganisation 'Animal Peace' bejubelt das als Akt der Freiheit der Geknechteten (Bullen).


Denn von Ruthenbergs Strategie, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu generieren, haben sich selbst Tierschützer rasch distanziert. „Den Tod eines Menschen darf man auch für die Rechte von Tieren nicht nutzen“, sagt eine Peta-Sprecherin auf Anfrage. „Wer das macht, der gehört nicht in die Reihen des seriösen Tierschutzes, der schadet dem seriösen Tierschutz massiv“, teilte der Deutsche Tierschutzbund mit.

Silke Ruthenberg triumphiert dennoch – oder gerade deshalb. In den Neunzigerjahren galt sie als Star der Veganerszene – zu einer Zeit, als Vegansein noch mehr Politik und weniger Lifestyle war. Tierrechtsbewegungen waren damals in Deutschland seit etwa zwei Jahrzehnten aktiv, und Ruthenberg wusste, dass man für die Sache am besten mit heftigen Bildern kämpft.

Sie kippte Kunstblut vor Pelzgeschäfte, kettete sich im Münchner Tierpark nackt an den Zaun des Gorillageheges und dekorierte eine Frankfurter Konsummeile mit toten Hühnern aus der Legebatterie. Als dann vor fast zwölf Jahren ihr Sohn geboren wurde, ihr kleiner Welpe, wie sie sagt, verzichtete sie zwischenzeitlich auf das Engagement. Jetzt aber ist sie zurück. Und sie kennt die Mechanismen, wie die öffentliche Aufmerksamkeit funktioniert; sie weiß, dass sich ihre alten Bilder etwas abgenutzt haben. Deshalb hat sie in Sachen Provokation noch einen Gang zugelegt.

Am Telefon spricht Silke Ruthenberg hochfrequent und euphorisiert. „Ich habe meinen Gesinnungsgenossen immer gesagt: Blut und Federn, der ganze Foltervoyeurismus sind so was von out! Das haben die Leute schon vor 20 Jahren gesehen.“ Außerdem sei sie wahnsinnig genervt davon, dass Veganer heute nur noch Rezepte austauschten. Eine politische Debatte müsse wieder her.

Auch ihre Kollegen fahren starkes Geschütz auf. Als Ende vergangenen Jahres ein Bauernhof im Landkreis Cham in Flammen stand und die Feuerwehr beschloss, 13 Rinder nicht mehr aus dem brennenden Stall zu retten, um keine Menschenleben zu gefährden, erstattete Peta Strafanzeige gegen die Tierhalter.

Die doppelt gebeutelte Familie des toten Landwirts aus Nümbrecht hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. In ihrer Ortschaft haben private Fernsehsender Kameras aufgestellt und Nachbarn befragt. Einer, der dort seine Fassung als einer der ersten wiedererlangt hat, ist Helmut Dresbach. Er ist Vorstand der Kreisbauernschaft Oberberg, in der auch der verstorbene Landwirt Mitglied war – und ein Bekannter der Familie. Er hat im Namen seiner Organisation und der Witwe vergangene Woche Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Köln erstattet. Paragraf 189 Strafgesetzbuch: Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Den Tod eines Menschen für irgendwelche politischen Zwecke zu instrumentalisieren, einen für artgerechte Tierhaltung ausgebildeten Landwirt als „Sklavenhalter“ zu bezeichnen, sei widerwärtig, sagt er. Seine Stimme bebt, er ist wütend. Wie die Tierhaltung des verstorbenen Landwirts aussah? Ein Oberbergischer Familienbetrieb, sagt Dresbach. Die Rinder kommen auf große Weideflächen, bestes Gras. 70 Kühe gehören der Familie, ein eher kleinerer Milchviehbetrieb. „Plus der Bulle“, sagt Dresbach. Dann schweigt er.

An dieser Stelle könnte man über die Frage sprechen, wie schwierig es ist, temperamentvolle Zuchtbullen zu halten – und ob dabei Fehler gemacht wurden. Man könnte fragen, warum sich in den vergangenen Monaten Berichte über Attacken durch Rinder auf Menschen in den Schlagzeilen zu häufen schienen. Man könnte fragen, wie tierfreundlich selbst hochmoderne Ställe in Deutschland sind. Aber nichts davon sollte aufgrund einer menschlich fragwürdigen Aktion wie der von Animal Peace passieren. Stattdessen wird ein Gericht klären müssen, wie der zweifelhafte Kommentar im Netz zu bewerten ist. Und man wird sich wappnen müssen für immer drastischere Bilder und Botschaften, mit denen Tierschutzaktivisten für ihre Sache kämpfen.

Was Silke Ruthenberg der Witwe und ihrem Sohn sagen würde, wenn sie ihr vor Gericht begegneten? Einen Moment lang ist es still am anderen Ende der Leitung. Dann sagt sie: „Die Sache mit den Hinterbliebenen ist das einzige, was mir keinen Spaß macht.“ Sie sagt aber auch, dass das nicht in ihrer Verantwortung liege, sondern im Bereich derer, die nun rechtliche Schritte einleiten. Denn am Dienstag teilte auch die Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft mit, sie habe Anzeige erstattet.

All das aber sieht Ruthenberg gelassen. Sie ist schon Dutzende Male für ihre Aktionen vor Gericht gestanden. „Wenn ich damit ein paar Veganer weg von Zucchini-Spaghetti-Rezepten hin zu den eigentlichen politischen Themen bewege, wird es mir eine Freude sein, wieder einmal vor Gericht zu stehen.“

„Da ist jetzt Aktion gefragt“

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Der Raum ist voll, und das liegt nicht nur daran, dass sich diverse Medienleute eingefunden haben zur Pressekonferenz im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel. Es hat auch damit zu tun, dass Klinik-Vorstandschef Jens Scholz eine ganze Mannschaft aufgeboten hat, um ausführlich darüber zu informieren, wie der Stand der Dinge ist in der Krise um den multiresistenten Keim Acinetobacter baumannii in seinem Krankenhaus. Schleswig-Holsteins Gesundheitsministerin Kristin Alheit (SPD) sitzt ebenso am Tisch wie die aus Frankfurt zu Hilfe geeilten Hygiene-Experten Volkhard Kempf und Christian Brandt. Sie alle versuchen, Einblicke zu geben in diese Krise, die in der Bevölkerung Verunsicherung auslöst. Denn: „Es ist wichtig, dass wir Klarheit reinkriegen“, sagt die Ministerin Alheit.

Jens Scholz und seine Mitarbeiter haben eine heikle Mission zu erfüllen. Sie müssen eines der bedrohlichsten Phänomene der modernen Medizin aus dem UKSH rauskriegen. Der hohe, fast willkürliche Einsatz von Antibiotika hat dazu geführt, dass viele Erreger immun dagegen geworden sind und zur tödlichen Gefahr für geschwächte und schwerkranke Patienten werden können. Gerade Krankenhäuser sind Risikoräume für Infektionen. Diesmal hat es Kiel erwischt: Ein Mann brachte den Keim aus einer Klinik in der Türkei mit, wurde in ein Mehrbettzimmer verlegt, weil kein anderes frei war, und steckte andere an. 31 Patienten wurden seit Dezember positiv auf Acinetobacter baumannii getestet, zwölf von ihnen sind gestorben. Bei dreien dürfte der Keim die Todesursache gewesen sein. 16 positiv Getestete liegen noch isoliert im Kieler Klinikum, verteilt auf zwei Intensivstationen.



Das Universitätsklinikum in Kiel (Schleswig-Holstein). Hier starben zwölf Menschen an einer Infektion mit multiresistenten Keimen. Durch den hohen Einsatz von Antibiotika sind viele Erreger immun dagegen geworden.


Am UKSH versuchen sie jetzt einen Ton für die Öffentlichkeit zu finden, der das Problem weder zu klein noch zu groß spielt. Das ist nicht leicht, und der Klinikchef Scholz hat es am Montagabend im engen Pressekonferenzraum redlich versucht. „Wir haben ein großes Interesse daran, dass erkannt wird, dass wir zwar eine ernste Situation haben, aber dass wir diese Situation auf wenige Patienten konzentriert haben“, sagte er. Es bestehe keine Gefahr für gesunde Normalbürger. Mit Bürgernähe will Scholz Vertrauen wecken, am Donnerstag zum Beispiel gibt er einen Informationsabend für die Bevölkerung. Kritik an der Hygiene im UKSH, welche die Gewerkschaft Verdi auch am Dienstag wieder vorbrachte, weist Scholz zurück. Dass Ministerin Alheit die Meldekette bei Fällen mit multiresistenten Keimen überdenken will, soll nach ihrer Darstellung kein Hinweis darauf sein, dass das UKSH etwas falsch gemacht habe. Und der Frankfurter Hygiene-Experte Christian Brandt sagt, dass Keime oft aus anderen Ländern eingeschleppt würden: „In Teilen der Welt vom Mittelmeer bis Asien ist es leider die Regel, dass sich die Patienten mit diesen Krankenhauserregern anstecken.“

Aber trifft man mit solchen Statements das Grundsatzproblem des deutschen Gesundheitswesens in der Keim-Frage? Alex Friedrich, Chef der Abteilung Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene an der Universität Groningen und international renommierter Keime-Bekämpfer, sagt jedenfalls: „Das Problem ist ein weltweites Problem, und es stimmt, dass es in Ost- und Südeuropa häufiger vorkommt. Aus unserer Sicht beginnt dieser Osten aber schon in Deutschland.“ Er verweist auf eine Studie des Europäischen Zentrums für Krankheits-Vorbeugung. „Wir konnten zeigen, dass es kein großer Unterschied mehr ist zwischen der Situation in Deutschland und der in Südeuropa in Bezug auf Acinetobacter baumannii“, sagt Friedrich, der selbst Deutscher ist.

Jetzt, da die Krise da ist, bekämpfen die Kieler sie sicher mit großer Sorgfalt. Aber die Vorbeugung scheint ausbaufähig zu sein in Deutschland, gerade wenn man an Friedrichs Wahlheimat denkt. „Die Niederlande haben eine viel höhere Ausstattung an Hygiene-Fachärzten“, sagt Friedrichs Frankfurter Kollege Kempf. „Die Ausstattung und die Ausbildung solcher Fachärzte liegt bei uns absolut im Argen. Die meisten Hygiene-Lehrstühle sind in den vergangenen Jahren reduziert worden.“ Das passt nicht zu dem Befund, dass multiresistente Keime eine der größten Herausforderungen der modernen Medizin sind. Volkhard Kempf kann das auch nicht wirklich erklären. Er sagt: „Da ist jetzt Aktion gefragt, und das kostet auch Geld, keine Frage.“

Zwischen Studium und Straßenstrich

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"Marischa", die polnische Form des Namens "Maria", ist ein junges Projekt in Münster, bei dem die Studierenden ehrenamtlich die Frauen auf dem Straßenstrich in der Siemensstraße betreuen. Ungefähr alle zehn Tage laufen sie die Straße ab und kümmern sich um die Belange der etwa zwanzig Prostituierten. Wenn sie nicht vor Ort sind, begleiten sie die Frauen zu Terminen oder beraten sie am Telefon oder per E-Mail. Das Projekt existiert seit Anfang 2013, aktuell bilden 15 Ehrenamtliche das “Marischa”-Team, die meisten davon Studenten. Josef ist einer der Mitgründer, wegen des sensiblen Themas möchte er gerne anonym bleiben.

jetzt.de: Josef, Münster ist ja nicht gerade für das Thema Prostitution bekannt. Wie kam es dort zu diesem Projekt?
Josef: Mich hatte es jahrelang beschäftigt, dass es in Münster hinter dem Cineplex einen Straßenstrich gibt. Elisa, die spätere Mitgründerin von “Marischa”, kannte ich von einem anderen sozialen Projekt und habe sie gefragt, ob sie von dem Strich weiß sie war total geschockt. Wir sind noch am selben Abend über die Siemensstraße gefahren und haben uns das angeguckt.

Das war eine gruselige Situation: Wir saßen im Auto und haben uns angeregt unterhalten, und plötzlich kommen diese Frauen an den Straßenrand und winken uns zu. Auf dem Rückweg haben wir beschlossen herauszufinden, ob es vor Ort jemanden gibt, der weiß, wer die Frauen sind und ob sie irgendwas brauchen.





Wie sieht euer Engagement auf dem Straßenstrich konkret aus?

Wir verteilen Kaffee, Kondome, die wir von der Aidshilfe gesponsert kriegen, und Visitenkarten. Da stehen unsere E-Mail-Adresse und unsere Telefonnummer drauf, die können die Frauen anrufen, wenn es Schwierigkeiten gibt, wenn sie zum Arzt wollen oder ähnliches. Oft wollen sie aber auch einfach nur reden.

Man muss mit dem Helfen sehr vorsichtig sein. Wir wollen den Frauen auf Augenhöhe begegnen und Beziehungen aufbauen. Deshalb gehen wir immer in Zweiergruppen los, meistens mit einer Frau und einem Mann. Die Frauen stellen immer den ersten Kontakt zu den Prostituierten her. Wenn eine von ihnen gerade im Kundengespräch ist, gehen wir auf der anderen Straßenseite vorbei. Mittlerweile passiert es oft, dass eine Frau uns aus dem Augenwinkel sieht, das Gespräch unterbricht, das Auto weiterwinkt und uns signalisiert, dass wir zu ihr kommen sollen. Das ist ein Vertrauensbeweis.

Mit was für Problemen wenden sich die Prostituierten an euch?

Meistens helfen wir mit medizinischen Dingen, das heißt, wir vermitteln zum Frauenarzt oder ins Gesundheitsamt, da werden kostenlose Untersuchungen für Prostituierte angeboten. Wir achten auch darauf, dass sich die Frauen regelmäßig kontrolliert lassen. Und wir vermitteln Sprachkurse. Neunzig Prozent der Frauen kommen aus Bulgarien, einige können ihre eigene Sprache nicht lesen.

Außerdem helfen wir bei allen Sachen, die mit Finanzierung, Unterhalt, Wohnung und so weiter zusammenhängen. Viele der Frauen haben Kinder in Bulgarien, einige sollen rüberkommen. Vor zwei Wochen haben wir erfahren, dass ein paar Frauen aus ihrer Wohnung geschmissen wurden. Da wird unsere Übersetzerin jetzt Vermitteln helfen. Es gibt sehr viel Behördenkram, der geregelt werden muss.

Werdet ihr auch mit dem Thema Zwangsprostitution konfrontiert?

Wir wissen natürlich, dass wir auf bestimmte Dinge achten müssen. Wenn wir sehen würden, dass eine der Frauen minderjährig ist, müssten wir die Polizei einschalten. Oder wenn die Frauen offensichtlich auf die Straße geprügelt oder mit Drogen gefügig gemacht werden. Diese Zeichen können wir so nicht erkennen, aber es ist natürlich immer schwierig, bei Prostitution von Freiwilligkeit oder Zwang zu sprechen.


"Eine Sozialarbeiterin hat uns geraten, immer Turnschuhe anzuziehen, damit wir im Notfall wegrennen können."


Eure Arbeit ist nicht ganz ungefährlich ...
Ja, wir wussten am Anfang überhaupt nicht, was uns in Münster erwartet. Wir hatten von ähnlichen Projekten in anderen Städten gehört, wo auch schon mal ein Messer gezogen wird. Wir haben auch mit Sozialarbeitern im Ruhrgebiet gesprochen, die Schießereien erlebt haben. Vor unserem ersten Gang auf die Siemensstraße haben wir uns deshalb die Sicherheit vor Ort von der Polizei bestätigen lassen. Außerdem wurden wir von einer Sozialarbeiterin aus Duisburg beraten.

Ich werde nie vergessen, wie sie am Ende noch gesagt hat, wir sollten bloß daran denken, Turnschuhe anzuziehen, damit wir im Notfall wegrennen können. Inzwischen wissen wir aber, dass es in Münster nicht so schlimm ist. Es ist jedenfalls noch nie wirklich brenzlig gewesen.

Kommt es auch mal vor, dass die Frauen euer Engagement ablehnen, weil sie sich zum Beispiel bevormundet fühlen?

Wir merken schon, dass die meisten sich wirklich freuen, wenn wir da sind. Es gibt aber auch eine Frau, die uns am Anfang eher abfällig begegnet ist und uns zu verstehen gegeben hat, dass wir besser abhauen sollen. Das haben wir dann auch gemacht. Jetzt hat sie sich aber auch schon mal eine Visitenkarte genommen und an Weihnachten die Kekse, die wir mitgebracht haben.

Da ist aber bis heute eine große Zurückhaltung. Ich glaube, dass das an Dingen liegt, die bei ihr im Hintergrund laufen, aber da können wir im Moment nichts dran ändern. Wir wurden auch schon von der Presse mit der Aussage konfrontiert: “Ihr wollt die Frauen zum Ausstieg überreden.” Das stimmt einfach nicht. Wir thematisieren das in den Gesprächen nicht. Wenn aber von einer Frau der Impuls kommt, dann bieten wir ihr an, sie beim Ausstieg zu begleiten.

Du promovierst in katholischer Theologie. Wie viel hat dein Engagement mit deinem Glauben zu tun?

Ich persönlich mache das schon aus meiner Überzeugung als Christ heraus. Genau zwei Wochen, bevor wir das erste Mal auf die Siemensstraße gegangen sind, wurde Franziskus zum Papst gewählt und hat gesagt “Geht zu den Menschen am Rand der Gesellschaft.”

Das war natürlich Zufall und hatte nichts mit unserem konkreten Projekt zu tun, aber es war trotzdem schön, sowas kurz davor zu hören. Uns geht es ja gut, das kann man doch mit Menschen teilen, die nicht so viel Glück haben. Es wäre aber natürlich Quatsch zu sagen, dass Christsein ein Kriterium ist, um Gutes zu tun.

Ihr seid alle keine ausgebildeten Sozialarbeiter, Psychologen oder ähnliches. Wie verarbeitet ihr das, was ihr auf der Siemensstraße erlebt?

Ich kannte schwierige Begegnungen mit Menschen schon von anderen sozialen Projekten, aber nicht im konkreten Bereich der Prostitution. Wir reden untereinander sehr viel darüber, machen aber auch Gruppen-Supervision, das heißt, wir haben jemanden, der mit uns auf die Dinge schauen kann. Alles an sich heran zu lassen, kann problematisch sein. Wenn ich am nächsten Tag wieder arbeiten muss, beschäftigt mich das schon noch, aber es zieht mich nicht runter. Ich nehme das nicht mit nach Hause.

Wer das “Marischa”-Projekt unterstützen möchte oder Fragen hat, erreicht die Verantwortlichen über die E-Mail-Adresse marischa2013@yahoo.de.


 

 

Was schaust du so, Julia Jentsch?

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jetzt.de: Julia, wann hast du dich zuletzt gezielt vor den Fernseher gesetzt, weil du etwas ganz Bestimmtes gucken wolltest?
Julia Jentsch: (überlegt lange) Hmm, gute Frage. Ich sehe sehr selten fern, und wenn, dann weil mich zum Beispiel ein bestimmter Regisseur interessiert, von dem ich unbedingt etwas sehen möchte. Ich glaube, der letzte Fernsehfilm, den ich geplant gesehen habe, war „Till Eulenspiegel“, in der Mediathek. Den wollte ich wegen der Geschichte sehen. Ich war von dem Film und den Darstellern sehr begeistert.

Gibt’s Sendungen, Shows oder Serien, die du immer wieder gerne guckst?
Nein. Es sind weniger Reihen, die ich mir anschaue, als einzelne Filme.

Haust du dich nicht manchmal nach einem anstrengenden Arbeitstag aufs Sofa und genießt eine Folge „Verbotene Liebe“?
(lacht) Das ist bisher noch nicht passiert. Aber es kommt natürlich vor, dass ich einfach mal den Fernseher anschalte, um selbst abzuschalten. Am ehesten, wenn ich unterwegs bin, also in Hotelzimmern zum Beispiel, wo der Fernseher ja sowieso oft direkt neben dem Bett steht.



"Die sehe ich alle immer gern": Julia Jentsch mit Kollege Wotan Wilke Möhring. Szene aus der neuen Komödie "Da muss Mann durch" (ab 29. Januar im Kino). 


Wenn du so anspruchsvoll fernsiehst: Zappst du nur zwischen ARD, ZDF, Arte und 3sat hin und her?
Nee, ich schalte immer durch, bis ich etwas finde, das mich anspricht. Da kommt es mir nicht auf den Sender an. Aber sicher ist es öfter mal ein Spielfilm in der ARD oder eine Sendung auf Arte.

Was guckst du dort am liebsten?
Retrospektiven, Themenabende, Biographien, zum Beispiel von Musikern.

Welche Arte-Sendung hat dich kürzlich richtig gut unterhalten?
Ist schon etwas her, aber ich erinnere mich an ein tolles Porträt von Billie Holiday.

Fernsehen scheint für dich allgemein kein Berieselungsmedium zu sein. Wie ist es mit dem Internet? Klickst du dich manchmal von einem Video zum nächsten, ohne ein konkretes Ziel zu haben?
Einfach nur so, nur zum Zeitvertreib, mache ich das nicht. Aber es kann schon passieren, dass ich auf YouTube lande, weil ich zum Beispiel einen Filmausschnitt oder ein Gespräch gesucht habe, und dann dort auch länger hängen bleibe. Auch weil es ja immer mehr zu einem Thema gibt, als man gesucht hat, und dann schaut man in die anderen Videos auch noch mal rein.

http://www.youtube.com/watch?v=2ncb5aMp4Og&feature=youtu.be Der Trailer zu "Da muss Mann durch". 

Suchst du auch nach Videos mit dir?
Sicher, manchmal schaue ich mir zum Beispiel Interviews mit mir an. Einfach um zu sehen, wie ich mich so angestellt habe.

Kannst du dir selbst ganz entspannt zusehen?
Wenn ich das Ergebnis einer Filmarbeit sehe, und das auch noch mit Publikum, bin ich schon sehr aufgeregt. Weil ich auf die Reaktionen der anderen gespannt bin. Und wenn es soweit ist, dass eine Arbeit gezeigt wird, sind das schon Momente, in denen ich angespannt bin. Wenn auch nicht mehr ganz so sehr wie früher.

Schaust du auch auf deine Spielpartner oder vor allem auf dich?
Ich versuche einen Film im Ganzen auf mich wirken zu lassen und alle darin wahrzunehmen. Ich muss zugeben: Beim ersten Gucken schaue ich noch besonders auf mich, das passiert einfach, weil es das erste Mal ist, dass ich sehe, wie das aussieht, was ich zuvor nur innerlich empfunden und mir vorgestellt habe.

Hast du Lieblingsschauspieler?
Es gibt auf jeden Fall Schauspieler, die ich besonders gerne sehe. Aber es gibt jetzt nicht DEN Schauspieler, von dem ich unbedingt alles gesehen haben muss. Den Stress mache ich mir auch nicht (lacht).

Wen magst du denn?
Schwierig, sich da jemanden herauszupicken. Aber von der Jungstruppe zum Beispiel, die bei „Da muss Mann durch“ mitgemacht hat (u.a. Fahri Yardim, Oliver Korittke und Wotan Wilke Möhring; Anm.d.Red.), sehe ich alle immer sehr gerne.

Hast du einen Filmtipp für uns?
Der letzte Film, den ich im Kino gesehen habe, war „Der Hobbit“. Den fand ich toll, aber ich möchte euch einen spannenden deutschen Film ans Herz zu legen. Zum Beispiel „Im Labyrinth des Schweigens", den habe ich auf dem Filmfestival Zürich gesehen. Wer den im Kino nicht gesehen hat: Unbedingt anschauen!

Meine Straße: Siegesstraße

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 Gentrifizierung in Schwabing: Auch das Haus, in dem Marie wohnt, soll abgerissen werden. 


Niemand kennt eine Straße so gut wie die Menschen, die in ihr leben. Deshalb bitten wir hier regelmäßig junge Münchner, uns ihre Nachbarschaft zu zeigen – die schönsten Ecken, die besten Läden, die schrulligsten Typen und die nettesten Anekdoten. Heute mit Marie, 30.

"Läuft man tagsüber durch die Siegesstraße, wirkt sie mit wenigen schrulligen Ausnahmen recht gepflegt und eher ruhig. Obwohl im Einflussgebiet von Münchner Freiheit und Leopoldstraße, hat sie tagsüber etwas Verschlafenes. Erst nachts ändert sich das Bild. Zum Beispiel bei meinem Lieblingsrestaurant, dem äthiopischen Blue Nile: Tagsüber, wenn es noch zu hat, verdeckt ein Rollo das komplette Schaufenster, was wenig einladend wirkt. Drinnen ist es aber wirklich gemütlich und sehr lecker. Ich mag, dass es so authentisch wirkt. Man isst mit den Händen und teilt sich die Gerichte. Noch öfter hole ich mir aber eine Pizza beim Pepenero um die Ecke. Die ist günstig und im Umkreis die beste. Und die „antipasti verdure“ sind gut. 

Beim Thema Pizza muss man unbedingt auch die kleine Pizzeria im Drugstore erwähnen. Geschmackstechnisch kann sie Pepenero nicht toppen, aber es ist ein wirklich lustiger Laden, imbissartig, immer vollgestopft und es duftet fantastisch, wenn man davor steht. Das Drugstore an der Ecke Feilitzschstraße ist ohnehin der wahrscheinlich wichtigste Laden hier. Abgesehen von der Pizzeria ist noch eine Bar mit Restaurant drinnen und, was das Wichtigste ist, ein Kiosk. Da kann man sich bis mindestens 1 Uhr nachts ein Bier holen und das übrige Sortiment ist herrlich eigen. Bis vor Kurzem gab es zum Beispiel einen Thailandreiseführer aus dem Jahr 2009, einzelne Klopapierrollen, Zahnbürsten und vieles, was man sonst so braucht. Oben im Drugstore ist seit einiger Zeit das Heppel & Ettlich, eine Kleinkunstbühne mit originellem Programm. 

Das wohl schönste Gebäude hier und mein liebster Ort zum Kaffeetrinken ist die Seidlvilla, die etwas versetzt am südlichen Ende der Feilitzschstraße liegt. In den Räumlichkeiten gibt es unter anderem Konzerte, Tagungen und Kurse der Volkshochschule, und im Sommer kann man auf Bierbänken im Garten sitzen, sein eigenes Picknick mitbringen und Bienen angucken. 

Der Drugstore und das Schwabinger Podium, die Livemusik-Kneipe, über der wir wohnen, sind zwei der letzten alten Schwabinger Institutionen hier. In den fünf Jahren, in denen ich hier wohne, habe ich einen ziemlichen Wandel miterlebt. Früher gab es zum Beispiel den Hip-Hop-Laden Mighty Weeny gegenüber und die Kneipe Black and White. Jetzt hat sich hier eine Art Beauty-Meile installiert. Es gibt drei Kosmetikstudios, ein Waxing-Studio namens Pussycatwax, daneben das Drop me fit– Personal Training – und demgegenüber das Munich Moksha Jivamukti Yogaloft, das aber sehr schön ist.  

Nachts schwappen viele Betrunkene in die Straße, man merkt dann doch die Nähe zur Münchner Freiheit und Feilitzschstraße. Das Sinnbild der nächtlichen Siegesstraße ist für mich die Renate vom Podium. Die steht immer, bei Wind und Wetter, draußen und raucht. Fraglich ist nur, wie lange noch. Das Haus, eines der letzten alten Gebäude hier, wurde verkauft und soll abgerissen werden, um einem Neubau zu weichen. Wir erhalten aber inzwischen viel Zuspruch aus der Bevölkerung. Es hat sich sogar eine Bürgerinitiative gegründet, um alte Gebäude wie dieses in Schwabing zu erhalten."

Tagesblog - 29. Januar

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17:10 Uhr Ich gehe nun nach Hause, ich habe nämlich eine telefonische Verabredung! Sowas herrlich Altmodisches, was? Ciao ragazzi, bis morgen! (Da gibt's hier eine total transmediale Charlotte!)





16:35 Uhr
Ein sprechendes Baby-Schwein! Aus einer Diktator-Familie. Aus einer CSU-Mastfabrik!

Leider muss man den Link da unten anklicken, um das Video zu sehen, weil ich es nicht checke, Facebook gut einzubetten.









16:28 Uhr
Wer braucht eigentlich DM, wenn es Drogerien wie die Hohenzollerndrogerie gibt? Eine neue Folge "Schaufensterkritik" von Juri Gottschall ist da.






15:35 Uhr
Vor einem Tag wurden die im September 2014 in Mexiko verschleppten Studenten offiziell für tot erklärt.  Keine Zweifel gebe es an ihrem Schicksal. Viele Angehörige wollen das nicht glauben. Und auch die Philosophiestudentin Mariana Riviera protestiert gegen die Aussagen des Staates. Mehr dazu hier, Florian Meyer-Hawranek hat für uns berichtet.




Mariana Riviera (rechts) protestiert.

14:17 Uhr
Schon der zweite Topsexlistenpunkt im Tagesblog! Harvard-Doktorand Mark Thornton hat etwa 290.000 erotische Geschichten der Seite Literotica.com untersucht und seine Ergebnisse in einer riesigen Wordcloud abgebildet. Sigmund Freud würde den Arm zur Muskelpose ausstrecken, einmal kräftig Luft holen, den Arm nach hinten weg ziehen und dabei laut "STRIKE!" brüllen. Die beiden wichtigsten Worte in Sachen antörnender Literatur sind, laut Thornton, nämlich: MOM und COCK.

Mehr dazu hier.





13:19 Uhr
Nix da Mittagsruhe, jetzt gehts in die Nacht. In die Clubs. Zu den Menschen, die von abends elf bis morgens sechs mit Jacken zu tun haben. Oder auch: Mit Unterhosen. Schnitzeln. Lebensgeschichten. Matheaufgaben.

Fünf Garderoben-Menschen erzählen aus ihrem Alltag.




Das ist Isabel aus der Roten Sonne. (Foto: Juri Gottschall)

11:55 Uhr
Suff kann ja so schön sein! (Und Kinderbücher auch. Und Österreichisch auch. Eh!)

http://www.youtube.com/watch?v=QzH_9LB_Tdk

(Hier steht, wer der Mann ist und wieso.)

11:35 Uhr
Apropos Reisen: Die meistbesuchtesten Städte der Welt.

11:27 Uhr
Im nächsten Winter fliehe ich irgendwohin, wo es warm und schön ist, das habe ich schon geplant. Nur das Ziel stand noch nicht fest. Bis, ähm, JETZT! Denn dieses ist mein neues Haus. Vielleicht. Wenn ich es bis dahin schaffe, an Geld zu kommen.





Gleich mal googeln, mit dem Geld:





09:43 Uhr
Ah, hilfe, ich, hier! Schade, dass mein Regal schon zur Hälfte gefüllt ist mit allen jetzt-Magazinen, die es je gab...




Hier zum Tweet.

09:38 Uhr
So Freunde, wer von euch kann behaupten, dass er einen eigenen Witz hat? Naja, ich kann es: Den hier. (Danke, @lemongreen).





09:33 Uhr
Ich weiß schon, wir sind hier nicht in der Topsexliste, aber wer es aushalten kann (ich kann es gerade noch so): Hier gibt es ein nettes Potpourri, hust, an Perioden-Fiasko-Anekdoten. Besonders schön zum Morgenkaffee auch die Illustrationen.

09:23 Uhr
Oh! Pegida-Oertel ist zurückgetreten! Jetzt bin ich aber gespannt, warum. Schnell lesen.

08:59 Uhr
Guten Morgen. Wenn ich jetzt woanders sein könnte, dann wäre ich in Tokio und würde zwischen diesen gefrorenen Blumen wandeln.


Mehr Daten, mehr Kontrolle

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Von Freitag an gelten im sozialen Netzwerk Facebook veränderte Geschäftsbedingungen. Das Onlineportal verspricht seinen Nutzern mehr Möglichkeiten, Privatsphäre- und Sichtbarkeitseinstellungen zu kontrollieren. Doch bei Datenschützern wächst die Sorge. Denn die neuen AGB erlauben es Facebook, das Nutzerverhalten detaillier und zielgerichteter zu verfolgen. Außerdem können sich Nutzer kaum dagegen wehren. Wer Facebook von Freitag an weiter verwendet, stimmt nach Ansicht des Unternehmens den neuen AGB automatisch zu. Eine Möglichkeit zum Widerspruch ist nicht vorgesehen. Ein Überblick, was sich alles ändert:



Facebook verspricht mit seinen neuen Geschäftsbedingungen mehr Kontrolle über Privatsphäre- und Sichtbarkeitseinstellungen. Allerdings können dank der Änderungen auch Nutzer detaillierter verfolgt werden.

Personalisierte Werbung

Bislang wertet Facebook für die angezeigte Werbung lediglich aus, wie der Nutzer sich im sozialen Netzwerk verhält: Welche Beiträge er anklickt oder kommentiert, worüber er selbst in seinem Profil schreibt oder bei welchen Inhalten - auch auf fremden Webseiten - er den „Like“-Button betätigt. Mit den neuen AGB will Facebook einen Schritt weiter gehen und das Internetverhalten auch auf fremden Webseiten beobachten und für Werbung auswerten.

Gleichzeitig sollen die Nutzer aber besser darüber informiert werden, warum ihnen bestimmte Anzeigen präsentiert werden. Nutzer können deshalb einsehen, in welche Zielgruppe Facebook sie einordnet. Angezeigte Werbung können sie außerdem auf ihre Relevanz bewerten und so laut Facebook selbst dazu beitragen, nur interessante Reklame zu sehen – und die Anzeigenplätze für Unternehmen noch attraktiver zu machen.

Die Daten, die Facebook auf diese Weise sammelt, sollen nach Unternehmensangaben wie bisher nicht verkauft oder Werbekunden direkt zur Verfügung gestellt werden. Allerdings schüren die neuen AGB die Sorge, dass Facebook die Daten mit jenen aus dem Kurznachrichtendienst Whatsapp zusammenführen könnte, der seit Februar 2014 Teil des Konzerns ist. Sollte das geschehen, werde dies per Anordnung untersagt, kündigte der bundesweit für Facebook zuständige Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar an.

Standortdaten

Mit den neuen AGB will sich Facebook erlauben lassen, den realen Aufenthaltsort der Nutzer auszuwerten. Mit den Standortdaten kann Facebook die Nutzer beispielsweise darüber informieren, welche Freunde sich gerade in der Nähe befinden. Diese Funktion gibt es in anderen Ländern bereits. Auch sind Werbeanzeigen für lokale Geschäfte oder Restaurants in der Umgebung denkbar. Die notwendigen Daten werden von Facebook bereits jetzt erfasst, nach Unternehmensangaben aber nicht für Werbezwecke ausgewertet. In den Einstellungen der Smartphone-Apps lässt sich die Funktion deaktivieren. Wer sicher gehen will, sollte dem Programm aber keinen Zugriff auf das GPS-Modul und andere Standortdaten gewähren.

Mehr Kontrolle über eigene Daten

Facebook will es den Nutzern im Gegenzug leichter machen, zu entscheiden, wer ihre Inhalte sieht. Sie können die Analyse von besuchten Seiten und Apps kontrollieren. Interaktive Anleitungen sollen zeigen, wo sich die Optionen in den Menüs verbergen. Für Mechthild Heil, CDU, die in der Unionsfraktion für den Verbraucherschutz zuständig ist, ein Grund zum Lob: Das Netzwerk habe sich bemüht, Nutzern einen verständlichen Überblick über die neuen Bestimmungen zu liefern. „Das ist vom Gedanken her sehr gut und auch begrüßenswert“, sagte Heil. „Aber das heißt natürlich nicht, dass das, was dort getan wird, auch für uns in Deutschland rechtlich in Ordnung ist.“ Kritiker bemängeln, dass der Nutzer erst aktiv werden muss, um bessere Kontrolle über seine Daten zu erlangen.

Neue Funktionen sind, wenn sie eingeführt werden in der Regel erst einmal aktiviert, nur ein kleiner Teil der Nutzer informiert sich über Änderungen. Eine Garantie dafür, dass Facebook die entsprechenden Daten hinter den Kulissen nicht trotzdem erhebt und speichert, ist auch das Ausschalten kritischer Funktionen nicht.

Darf Facebook die AGB einfach ändern?

Nach Ansicht vieler Juristen: Nein. Ein Vertrag, der über Allgemeine Geschäftsbedingungen definiert wird, ist nach deutschem Recht für beide Seiten bindend und kann nicht einseitig geändert werden. Eine Klausel für zukünftige Änderungen, wie sie Facebook in seinen AGB einschließt, ist nur dann wirksam, wenn darin konkrete Anlässe vorgesehen sind – beispielsweise veränderte wirtschaftliche oder rechtliche Bedingungen, auf die das Unternehmen reagieren muss. Die entsprechende Klausel bei Facebook hingegen ist nach Ansicht des IT-Rechtsanwalts Christian Solmecke zu allgemein formuliert und daher nicht wirksam. Dem Nutzer hilft das allerdings nur wenig: Selbst ein schriftlicher Widerspruch gegen die neuen Bedingungen dürfte beim US-Konzern jedoch ungehört verhallen.

Mit CNN auf Teeniefang

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Jugendliche sollen Nachrichten für sich entdecken, zumindest, wenn es nach Snapchat geht. Das ist jene App, für die Facebook und Google jeweils mehrere Milliarden geboten haben sollen, und die ermöglicht, Fotos zu verschicken, die nur wenige Sekunden sichtbar sind und sich dann selbst zerstören. Gerade das junge Publikum schätzt die Technik, und gerade dieses wollen alle Konzerne erreichen.



Unter der Funktion "Discover" können Snapchat-Nutzer zukünftig Nachrichten lesen. Diese Neuerung soll die Kunden enger an die App binden.

Für Snapchat gibt es nun eine neue Funktion, sie heißt „Discover“. Künftig gibt es innerhalb der App einen Bereich, in dem nur Nachrichten gezeigt werden. Zum Start dabei sind beispielsweise CNN, National Geographic, Vice, aber auch Modemagazine wie Cosmopolitan. Klickt ein Nutzer zum Beispiel auf Vice, findet er Videos und Texte: Zur Auswahl stehen unter anderem ein japanischer Mann, der alleine und nackt an einem Strand lebt, die Hintergründe der „Regenschirm“-Revolution in Hongkong oder ein Musikvideo. Nach 24Stunden werden die Geschichten ausgetauscht (das ist ein Prinzip von Snapchat) und ein neues Themenpaket steht zur Verfügung. Monatelang wurde an diesem Update gearbeitet. Medienhäuser machen mit, weil sie an Jugendliche heranwollen – und weil sie innerhalb von Snapchat Werbung schalten können. Die Einnahmen werden geteilt.

Jugendliche sind aus zwei Gründen bei Snapchat. Erstens: Die Nachrichten löschen sich dort von selbst. Das steht im Gegensatz zu Facebook, das sämtliche Daten über seine Nutzer sammelt und speichert und das Wissen über diese vermarktet. Hinzu kommt, dass viele der Inhalte, die man teilt, eigentlich unwichtig sind: Eine lustige Situation, die man mit der Smartphone-Kamera aufnimmt und mit ausgewählten Freunden teilt. Hinterher braucht die Aufnahme niemand mehr. Also muss sie nicht gespeichert werden – das verbraucht nur Platz. Der zweite Grund ist: Apps wie Snapchat simulieren Nähe. Soziale Netzwerke haben neue Superstars hervorgebracht, die in Mainstream-Medien nicht auftauchen. Sie kommunizieren oft über Smartphones mit ihren Fans. Im Gegensatz zu einer Fernsehkamera fehlt bei diesen Aufnahmen der Abstand – und oft auch die Professionalität. Sie wirken dadurch authentischer.

Im Firmenblog, in dem Snapchat die Hintergründe von Discover ausführt, steht ein erstaunlicher Satz: „Das hier ist nicht social media“, kein soziales Netzwerk also. Facebook und Co. seien der Auffassung, dass das Interesse der Leser vorhergesagt werden könne: Der Algorithmus von Facebook sortiert die Welt vor und entscheidet, welche Geschichten angezeigt werden. Die Macher hinter Snapchat hingegen denken, dass das der falsche Weg ist: „Bei der Entscheidung darüber, was wichtig ist, verlassen wir uns auf Redakteure und nicht auf Klicks“, schreiben sie im Blog.

Für Snapchat ist der Schritt konsequent: De facto geht es darum, jeden Grund zu eliminieren, die App zu verlassen. Denn sobald der Nutzer in ein neues Programm wechselt, ist jedes Mal die Frage, ob er zurückkommt. Je mehr eine App ihren Nutzern bietet, desto weniger Gründe haben sie, woanders nach Informationen zu suchen. Wenn Medien ihre eigenen Videos und Inhalte auf Snapchat anbieten, gibt es keinen Grund mehr, die Nachrichtenseite selbst aufzurufen. Dafür steigt die Verweildauer bei Snapchat – und damit der Preis, den die App für Werbung verlangen kann.

Eine Frage bleibt: Wie gefällt es Jugendlichen? Die erste Reaktion ist erhellend. Ein Großteil der Nutzer hat sich darüber beschwert, dass eine Funktion zu den meistgenutzen Kontakten dafür weggefallen ist. Das mit den Nachrichten ist ihnen gar nicht aufgefallen.

Schön teuer

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Fast 75 Millionen verkaufte Smartphones, 18 Milliarden Dollar Gewinn, Barmittel in Höhe von 178 Milliarden Dollar. Noch nie zuvor in der Wirtschaftsgeschichte hat ein Unternehmen in einem Quartal so viel Geld verdient wie Apple, auch wenn die amerikanischen Finanzbehörden wenig davon haben werden. Apple ist auch ein Meister der Steuerminimierung. Die europäischen Gewinne sollen zuletzt mit lediglich etwa zwei Prozent besteuert worden sein. Die Aktionäre schert das nicht. Mit nahezu 700 Milliarden Dollar ist Apple das teuerste Unternehmen der Welt. Aber warum ist ausgerechnet die Firma aus Kalifornien so erfolgreich, während Konkurrenten wie Nokia oder Motorola ums Überleben kämpfen und verkauft wurden? Die fünf wichtigsten Gründe.



Apple hat im vergangenen Quartal insgesamt 18 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Nur ein Grund für den Erfolg des Konzerns ist die Qualität der Produkte.

1.Die Nutzer haben das Wort

Apple hat wie keine andere Firma ein Gespür dafür entwickelt, was Nutzer wirklich wollen. Das klingt einfacher, als es in der Praxis ist, und es gilt vor allem, wenn es um neue Fähigkeiten geht. „Wenn ich die Leute gefragt habe, was sie sich wünschten, sagten sie: schnellere Pferde“, erzählte einst der Auto-Pionier Henry Ford. Der wahre Wunsch war also, schneller voranzukommen. Nur wie, das konnten sich die Befragten nicht vorstellen. Was die Menschen mit einem Smartphone gerne machen würden und besonders wie das am besten funktionieren würde, das hat niemand so gut vorhergesehen und umgesetzt wie Apple. Alles, was sich heute Smartphone nennt, ist daher im Grunde genommen ein Nachahmerprodukt dieser 2007 präsentierten Idee.

Aber Apple zehrt nicht bloß von diesem Vorsprung. Neue Merkmale wie ein Fingerabdrucksensor oder die Zeitlupen-Kamera erhöhen den Bedienungskomfort und machen dazu noch Spaß. Auch wenn viele befürchtet hatten, der als Legende verehrte Mitgründer und im Oktober 2011 gestorbene Steve Jobs sei für Apple nicht zu ersetzen: Dass Nachfolger Tim Cook nicht so ein Egomane ist wie Jobs, könnte sich sogar als Vorteil erweisen. Interessant wird vor allem sein, wie Apples erste neue Produktkategorie seit Langem, die Computeruhr Apple Watch, bei den Kunden ankommt.

2.Lifestyle zeigen, nicht protzen

Bei den stark ritualisierten Präsentationen von Apple geht es nur sehr selten darum, was man in der Autobranche PS-Protzen nennen würde. Oft gibt Apple nicht einmal bekannt, wie viel Megahertz hier und wie viel Gigabyte dort das möglich machen, was die Kunden so gerne tun: ihre Apps benutzen, Fotos schießen, Videos aufzeichnen. Das trägt einerseits bei zur Mystifizierung. Es trifft aber andererseits auch eine verbreitete Stimmung, die da lautet: Ist doch egal, was drin steckt, wichtig ist, dass es funktioniert. Man will tun, was man mit einem Smartphone tun will, und will sich dabei sehen lassen können. Solange Apple bei seinen Kunden das Gefühl erzeugen kann, mit einem iPhone lasse sich alles mindestens so gut und leicht erledigen wie mit einem Modell der Konkurrenz, solange sie als Statussymbole ihren Wert haben, werden iPhones erfolgreich sein.

3.Gleiche Kosten, höhere Preise

Die Smartphones von Apple gehören zu den teuersten auf dem Markt, durchschnittlich 687 Dollar bezahlten Kunden im vergangenen Quartal für ein neues iPhone. Sie sind Objekte der Begierde, gelten als „das Echte“, während Konkurrenten als Nachahmer gesehen werden. Doch gefertigt werden die Handys in denselben Fabriken von Foxconn in China, über deren Fließbänder auch die Geräte der Konkurrenz laufen. Die Herstellungskosten unterscheiden sich also nur wenig, die Arbeitsbedingungen aber auch nicht. Besonders Apple geriet deswegen stark in die Kritik, hat auch einiges unternommen. Das ändert aber nichts daran: iPhones werden zu kaum höheren Kosten produziert als Konkurrenzprodukte, aber zu weit höheren Preisen verkauft.

4.Der goldene Käfig

Wie kommt Musik auf ein iPhone? Man kauft sie online im Apple-Store, lädt sie mit dem Apple-Programm Tunes von einem Computer auf das iPhone oder man bucht Speicherplatz bei Apple, lagert dort die gesamte digitalisierte Musiksammlung und greift über das Internet darauf zu. Der Speicher im iPhone wird zu klein? Pech gehabt – nachträgliche Erweiterung ist unmöglich. Viele Kunden greifen daher lieber gleich zu Modellen mit mehr Speicher, den Apple aber unverhältnismäßig teuer verkauft. Speicherkarten zum Einstecken, wie es bei der Konkurrenz möglich ist, wären erheblich günstiger. Aber Apple möchte, dass die Nutzer das eigene Universum so wenig verlassen wie möglich und will bei Erweiterungen mitverdienen. Wer dem folgt, wird damit belohnt, dass innerhalb des goldenen Käfigs alles komfortabel verfügbar ist (wenn man von der überladenen iTunes-Software absieht). Doch das hat alles seinen Preis.

5.Die Qualität

Wer benutzt heute noch ein fast fünf Jahre altes Android-Smartphone? Kaum jemand. Es ist technisch überholt. Updates für das Betriebssystem gibt es seit Jahren nicht mehr. iPhones dieses Alters dagegen sind noch viele in Gebrauch. Natürlich hat auch Apple Probleme, etwa mit den zwei Bedienknöpfen, die oft kaputtgehen; oder das Glas vor dem Bildschirm zerbricht, wenn das Handy ungünstig fällt. Aber viele iPhones halten erstaunlich lange durch. Die jüngste Betriebs-Software, iOS 8, lässt sich immerhin noch auf das iPhone 4s aus dem Jahr 2011 aufspielen. Apple kann das leisten, weil die Firma sowohl Hard- wie Software kontrolliert.
Die Konkurrenten dagegen, die Googles Android verwenden, können daran allenfalls kosmetische Korrekturen vornehmen. Updates langfristig anzubieten, lohnt sich für sie nicht. Gerade bei der Software hat Apple zwar auch nicht immer ein glückliches Händchen. Der Kartendienst etwa ging so gründlich daneben, dass Firmenchef Cook dazu aufrufen musste, die App des Konkurrenten Google zu nutzen. Bei iOS 8 legte ein fehlerhaftes Update sogar Geräte zeitweise lahm. Trotzdem gilt: Auch für ein vier Jahre altes iPhone bekommt man deshalb noch immer einen guten Preis, ein ebenso altes Android-Handy wird man dagegen kaum los.

Alarm am Arm

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Als die Polizei in Baku ihn zum ersten Mal zum Verhör ruft, zieht Rasul Jafarov sein Alarm-Armband an. Es soll den Menschenrechtsaktivisten durch einen eingebauten Sender beschützen, mit ihm kann Jafarov bei Gefahr ein Notsignal absetzen. Doch das ist nicht nötig, die Polizei befragt ihn nur und lässt ihn dann wieder gehen.

Kurze Zeit später muss Jafarov noch einmal zur Polizei kommen. Dieses Mal denkt er sich nichts mehr dabei, lässt das Armband zu Hause. Doch an diesem Tag im August 2014 stecken sie Jafarov ins Gefängnis. Er arbeitet zu dieser Zeit an einer Liste politischer Gefangener in Aserbaidschan, auf der nun auch sein Name steht.



Aufruhr in Cambodia. Die schwedische Menschenrechtsorganisation Civil Rights Defenders stattet weltweit Aktivisten mit Alarm-Armbändern aus.


„Hätte Rasul das Armband bei sich gehabt, wäre das unser erster scharfer Alarm gewesen“, sagt Robert Hårdh, Chef der schwedischen Menschenrechtsorganisation Civil Rights Defenders, als er die Geschichte erzählt. Vor ihm auf dem Tisch liegt eines der klobigen schwarzen Armbänder, die aus sechs Kunststoff-Elementen bestehen. Etwa 40 Menschen überwacht die schwedische Organisation bisher. Um Alarm auszulösen, müssen sie nur eines der Glieder auseinanderziehen, das Armband sendet dann seine Koordinaten direkt ins Büro der Organisation nach Stockholm oder auf das Handy eines Mitarbeiters, der gerade Notdienst hat. Dieser prüft, ob der Alarm echt ist, und verständigt in dem Fall die „Shields“, die Schutzschilde vor Ort. Das sind meist Vertraute, Kollegen, Familie und Freunde des Menschenrechtsaktivisten, die ihm dann zu Hilfe eilen. Wenn nötig, wenden sich die Civil Rights Defenders an Botschaften und an andere Menschenrechtsorganisationen, können mit dem Notruf aber auch über Facebook und Twitter an die Öffentlichkeit gehen und so womöglich lokale Proteste auslösen oder internationale Aufmerksamkeit auf den Fall ziehen.

„Wir haben quasi die Welt um den Arm unserer Kollegen im Feld gelegt“, sagt Hårdh. Die Technik dazu stammt aus Schweden. Ursprünglich war der Sender zum Beispiel für Teenager gedacht, wenn sie alleine im Dunkeln durch den Park joggen. Für die Civil Rights Defenders wurde das Armband so umgebaut, dass es nur aufzuspüren ist, wenn der Träger das möchte.

Hårdh wünscht, er hätte einen der roten Alarm-Punkte auf der Karte aufblinken sehen, als 2009 die russische Journalistin Natalja Estemirowa im tschetschenischen Grosny entführt und erschossen wurde. Sie hatte Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aufgedeckt und wohl deswegen sterben müssen. Nach ihr sind die Armbänder benannt: Natalia Project. Nach ihrem Tod führte die Organisation ein Sicherheitstraining für Menschenrechtsaktivisten ein und kam so auf die Idee mit dem Armband. „Hätten wir den Alarm damals schon gehabt, wären wir in der Lage gewesen, ihren Entführern zu folgen. Vielleicht hätten wir dann etwas tun können“, sagt Hårdh.

So wie im Fall von Phyllis Omido, Umweltaktivistin in der kenianischen Hafenstadt Mombasa, wo eine Fabrik ein Armenviertel am Rand der Stadt seit Jahren mit Blei verseucht. Nachdem Ärzte bei ihrem Sohn eine Bleivergiftung diagnostiziert hatten, gründete Phyllis Omido 2009 eine eigene Organisation, das „Zentrum für Gerechtigkeit, Regierungsführung und Umweltschutz“. Sie organisierte Demonstrationen und Rechtsberatung für die Anwohner - und handelte sich damit reichlich Schwierigkeiten ein. Dass es sich bei den wiederholten Drohanrufen, die sie auf ihrem Handy erhielt, nicht um Scherze handelte, wurde ihr spätestens an jenem Abend im Jahr 2012 klar, als sie im Dunkeln mit ihrem Sohn nach Hause kam.

Vor der Tür warteten zwei bewaffnete Männer, packten sie und begannen, auf sie einzuprügeln. „Bist du ein Mann?“ zischte einer der beiden: „Warum legst du dich mit Männern an?“ Sie flehte die Angreifer an, wenigstens ihren Sohn ins Haus zu lassen, in Sicherheit, „er ist doch noch ein Kind.“ Dann fuhr plötzlich ein Auto vor, es war der Nachbar, und im Scheinwerferlicht rannten die beiden Männer davon. Doch von nun an wusste sie, dass dergleichen erneut passieren könnte: „Hier in Kenia haben Politiker und Geschäftsleute ihre eigenen Schlägertrupps“, sagt sie. „Und wenn jemand ihren finanziellen Interessen in die Quere kommt, verstehen sie keinen Spaß.“

Ihre Kollegen vom Dachverband der Menschenrechts-Aktivisten in Kenia sorgten sich zunehmend um Phyllis Omido – und brachten sie in Kontakt mit den Leuten vom Natalia Project in Stockholm. Seit einem halben Jahr trägt sie nun das Armband, und erst kürzlich, Mitte Januar, hat sie zum ersten Mal den Alarm ausgelöst. Sie war mit einer Delegation von Ärzten in dem Armenviertel nahe der Fabrik unterwegs, als ihr Handy mehrmals klingelte. Eine männliche Stimme fragte sie, ob sie sich das wirklich gut überlegt habe, was sie da gerade tue. „Da wusste ich, dass es wieder ernst werden könnte“, sagt sie.

Sie zog an dem Armband, das Signal blinkte in Stockholm auf, und die Civil Rights Defenders verständigten die Beschützer von Omido, darunter ihren Bruder. Der folgte ihr dann den ganzen Tag und hielt das Büro in Schweden pausenlos auf dem Laufenden über die Lage in Mombasa. „Das hat mich sehr beruhigt, sagt Omido. „Ich weiß, dass sowohl meine Familie als auch die internationale Gemeinschaft genau verfolgen kann, was mit mir passiert.“ So könne sie sich ganz auf meine Arbeit als Aktivistin konzentrieren. „Wer in ständiger Angst lebt, dem fehlt auf Dauer die Kraft, um wirklich etwas zu verändern“, sagte sie.

Hårdh und seine Kollegen entwickeln für jeden Armband-Träger ein eigenes Sicherheitsprotokoll. Für einige etwa ist es wichtig, dass sie anonym bleiben. Einem Menschenrechtsanwalt, der Gefangenenlager besucht, würden die Sicherheitsleute solch ein Armband sofort wegnehmen. Die Stockholmer Organisation arbeitet deshalb an einer unauffälligeren Version des Armbands. Sie trainiert auch mit den Trägern und ihren „Schilden“, wie sie sich im Notfall verhalten sollen.

Kann man überhaupt jemandem zumuten, sich als Schutzschild in Gefahr zu begeben? Viele Aktivisten wollten das Armband gar nicht erst annehmen, weil andere ihrer Meinung nach in größerer Gefahr schweben. Wer ständig unter hohem Risiko lebe, sagt Hårdh, der nehme irgendwann nicht mehr wahr, dass er Schutz braucht. Und lasse dann das Armband zu Hause – so wie Rasul Jafarov in Aserbaidschan.

Pegida-Spitze zerbricht

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Die Führungskrise in Dresdens antiislamischer Pegida-Bewegung vertieft sich. Nach dem Vorsitzenden Lutz Bachmann legten am Mittwoch auch Pressesprecherin Kathrin Oertel und vier weitere Vorstandsmitglieder ihre Vereinsämter nieder. Der Pegida-Gründer Lutz Bachmann bestätigte der Süddeutschen Zeitung den Rückzug Oertels, die neben Bachmann als das Gesicht der Bewegung galt. Die Sprecherin sei zurückgetreten, weil sie „aus Antifa-Kreisen massiv bedroht“ worden sei. Eine für den nächsten Montag angemeldete Demonstration in Dresdens Innenstadt sagte Pegida ab. Auf ihrer Facebook-Seite gab die Bewegung dafür „organisatorische und rechtliche Gründe“ an.

In der nächsten Woche werde der Verein einen neuen Vorstand wählen. Dafür stünden jedoch weder Oertel noch er selbst zur Verfügung, sagte Bachmann: „Ich bin auch froh, dass ich da draußen bin, ich will gar nicht mehr.“ Auf Facebook erklärte der Verein: „Fakt ist, Kathrin hat vorerst ihr Amt als Pressesprecherin niedergelegt.“ Dies sei „massiven Anfeindungen, Drohungen und beruflichen Nachteilen geschuldet“.



Erlösung für Dresden? Kathrin Oertel, Pressesprecherin von PEGIDA, und vier andere Vorstandsmitglieder treten zurück, in den nächsten Wochen wird ein anderer Vorstand gewählt.


René Jahn, der zweite Vorsitzende des Pegida-Vereins, hatte zuvor der Zeitung Bild die Personalien bestätigt: „Kathrin Oertel, Achim Exner, Bernd-Volker Lincke Thomas Tallacker und ich sind von unseren Ämtern zurückgetreten.“ Allerdings gab Jahn eine völlig andere Begründung für die Rücktrittswelle: Als Hintergrund nannte er den Verbleib Bachmanns im Orga-Team der Bewegung sowie „die mangelnde Abgrenzung von Legida in Leipzig“. Zuerst hatte das Magazin Stern darüber berichtet, dass Oertel und drei weitere Mitglieder des Orga-Teams schon am Dienstag zurückgetreten waren. Auslöser sei ein Streit um Bachmanns weitere Rolle in der Führung der Bewegung gewesen.

Bachmann war in der vergangenen Woche zurückgetreten, nachdem von ihm im Internet ausländerfeindliche Äußerungen öffentlich gemacht worden waren sowie ein Foto aufgetaucht war, auf dem er sich in Hitler-Pose zeigte. Bachmann hatte sich zunächst für seine Worte entschuldigt. Der SZ sagte er nun, Vorwürfe der Volksverhetzung und Angriffe wegen des „satirisch gemeinten Hitler-Selfies“ seien „lächerlich“. Oertel hatte die Beiträge Bachmanns im Internet, in denen er Ausländer als „Viehzeug“, „Dreckspack“ und „Gelumpe“ bezeichnet hatte, „aufs Schärfste“ kritisiert. Außerdem hatte sie sich von dem Leipziger Ableger der Bewegung – Legida – distanziert. Dieser tritt deutlich radikaler auf als das Dresdner Original. Bei einem Legida-Marsch hatten Teilnehmer am vergangenen Mittwoch Gegendemonstranten und Journalisten tätlich angegriffen.
Unklar ist, wie es mit Pegida nun weitergeht. Am Sonntag waren in Dresden etwa 17000 Demonstranten unterwegs, deutlich weniger als noch zwei Wochen zuvor. Pegida kündigte auf Facebook allerdings an, weitermachen zu wollen: In einer Woche „starten wir wieder durch“. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte dagegen, die Bewegung habe ihren Zenit überschritten, „was ja vielleicht auch eine Erlösung für Dresden ist“.

Tsipras setzt auf Konfrontation

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Nur zwei Tage nach ihrem Amtsantritt hat die neue griechische Regierung die Partner in der Europäischen Union mit einem rasanten Politikwechsel aufgeschreckt. So stoppte die Regierung mehrere Privatisierungsvorhaben. Der linksgerichtete griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras distanzierte sich überdies von einer EU-Erklärung zum Ukraine-Konflikt und ging damit auch in der Außenpolitik auf Konfrontationskurs zu Brüssel.

Tsipras will mit den internationalen Geldgebern schnell über einen neuen Umgang mit dem 320 Milliarden Euro großen Schuldenberg reden. Griechenland wünsche „keinen Bruch“ mit seinen Geldgebern, werde aber auch „keine Unterwerfung“ akzeptieren, sagte er am Mittwoch bei der ersten Sitzung seines Ministerrates. Tsipras’ Regierung begann umgehend mit der Einlösung von Wahlversprechen. So stoppte sie die volle Privatisierung des Hafens von Piräus. Auch von der halbstaatlichen Elektrizitätsgesellschaft DEI sollen keine weiteren Anteile verkauft werden.



Alexis Tsipras, der neue griechische Premier, geht auf Konfrontationskurs mit der EU.


Ausgesetzt wird auch der Verkauf von Regionalflughäfen, für die das deutsche Unternehmen Fraport mit einem griechischen Partner bereits ein Angebot abgegeben hatte. Die Privatisierung von Staatseigentum war eine wichtige Forderung der internationalen Geldgeber Griechenlands. Auch entlassene Beamte sollen wieder eingestellt sowie Mindestrenten und Mindestlohn wieder aufgestockt werden.

Als beunruhigendes Zeichen wurde in Brüssel der offene Streit um eine am Dienstag veröffentlichte Erklärung der 28 Staats- und Regierungschefs der EU zum Raketenangriff auf die ukrainische Hafenstadt Mariupol gewertet. Die Erklärung sei ohne Zustimmung von Tsipras veröffentlicht worden, hieß es am Mittwoch aus dessen Büro. Bedenken gegen einige Formulierungen habe die EU ignoriert. Dem widersprach ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Wie immer, wenn eine solche Erklärung vorbereitet wird, haben wir alle Mitgliedstaaten konsultiert, einschließlich eines Vertreters der neuen griechischen Regierung.“ Die Erklärung, die Russland mit neuen Sanktionen droht, sei am Montagabend fertiggestellt worden.

Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der an diesem Donnerstag in Athen eintreffen will, warnte Griechenland am Abend vor Alleingängen. Mit Entsetzen habe er gesehen, dass Athen die gemeinsame Position der EU gegenüber Russland aufgegeben habe. Die griechische Regierung sei nicht gewählt worden, um Sanktionen gegen Russland zu boykottieren. Griechenland habe ganz andere Sorgen. „Ich habe keinen Bock, ideologische Debatten zu führen mit einer Regierung, die gerade mal zwei Tage im Amt ist“, sagte Schulz im ZDF. Die Koalition zwischen Linken und Rechtspopulisten in Griechenland bezeichnete er als „nicht gut für das Land“.
An diesem Donnerstag kommen in Brüssel die EU-Außenminister zusammen, um über die Verlängerung geltender Sanktionen zu beraten. Tsipras lehnt die Sanktionen ab. Politiker aus baltischen EU-Ländern warnten, wenn Griechenland Solidarität erwarte, müsse es Solidarität auch zeigen.

Jacken, Sexspielzeug und drei Schnitzel

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Dori, 31, Paradiso





Ich arbeite seit vier Jahren hier an der Garderobe. Ich bin eigentlich Rechtsanwaltsfachangestellte und brauche das Geld nicht mehr. Sechs Monate habe ich deshalb mal ausgesetzt, aber das ging gar nicht. Ich bin einfach viel zu gerne hier. Klar geht es meistens ganz schön verrückt zu, aber gerade deswegen ist es so schön. Ich habe gelernt, mich über nichts mehr zu wundern. Bei uns wird einfach alles abgegeben: Schuhe von Frauen und von Männern, denn auch die tragen hier oft hohe Absätze, von denen ihnen irgendwann die Füße wehtun, alle Arten von Sexspielzeug und auch drei Schnitzel hat schon einmal jemand abgegeben.
 
Ich liebe einfach den Umgang mit unseren Gästen, auch, weil man ganz schnell eine sehr persönliche Beziehung zu ihnen aufbaut. Ich hab schon an Silvester weinende, einsame Menschen getröstet, von einem Stammgast einen Riesenkoffer voll gepflückter Blumen bekommen und meinen Freund habe ich auch hier kennengelernt. Ich weiß noch, dass er seine Jacke abgab, aber kein Trinkgeld geben wollte. Am Ende der Nacht haben wir uns vor der Tür auf der Suche nach einem Taxi wiedergetroffen. Ich sagte: „Wir müssen bestimmt nicht in dieselbe Richtung.“ Mussten wir dann aber doch . . .
 
Mit dem Humor hier im Team muss man umgehen können. Ein Gast wollte mal keinen Eintritt zahlen. Da hat der Türsteher gesagt, wenn er der Frau an der Garderobe seinen Penis zeigt, darf er rein. Und der hat das tatsächlich gemacht! Aber ich fand es witzig, so geht es eben manchmal zu. Eine Party bei uns wird richtig gut, wenn schon früh die Aufteilung zwischen männlichen und weiblichen Gästen stimmt. Und wenn sich dann auch noch schnell Pärchen finden, steht der Stimmung nichts mehr im Wege. Auf dem Höhepunkt eines Abends haben wir in der Regel am wenigsten zu tun. Ich gehe dann gern mal hoch zum DJ und schau mir das Treiben auf der Tanzfläche an. Und das Ende ist an der Garderobe eigentlich immer gleich: Gefühlt tausend Hände strecken sich uns entgegen und wollen gleichzeitig ihre Jacken haben.

Auf der nächsten Seite: Michael erzählt von der enormen Dichte an verlorenen Kreditkarten in der P1-Garderobe.
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Michael, 23, P1





Als ich vor drei Jahren fürs Studium von Ingolstadt hierher gezogen bin, habe ich gleich eine Woche später im P1 angefangen. Das war ein krasser Kulturschock, hat mich aber mehr fasziniert als abgeschreckt. Es ist einfach eine ganz besondere Mischung an Gästen hier: Studenten, Sportler, Superstars, Büroleute, Hochadel – da ist alles dabei. Und das Schönste ist: Irgendwie sind hier alle gleich.
 
Wir hängen die Jacken immer hinter einem Vorhang auf und man weiß nie, wer als nächstes vor einem steht, wenn man wieder hervorkommt. Wenn das dann Thomas Gottschalk, Oliver Pocher, H.P. Baxxter und Boris Becker auf einmal sind, schluckt man schon kurz. Und so etwas passiert einem einfach nur hier, deswegen mag ich es so. Ich kann mittlerweile von meinem Modeblog „thelostboy“ leben, aber wenn ich in München bin, übernehme ich trotzdem immer Schichten im P1. Für mich ist das auch eine große Inspiration. Man sieht immer, was gerade angesagt ist. In einem Monat hängen ohne Ende Jacken von einer bestimmten Marke hier, in einem anderen ist auf einmal alles blau. Und hier kommen ja auch ganz edle Stücke rein, die man sonst nie in den Händen halten würde. Heimlich anprobiert habe ich aber noch nie etwas.
 
Bei uns verlieren und vergessen die Gäste das gleiche wie in anderen Clubs, nur dass es oft etwas mehr wert ist. Und die Zahl an verlorenen Kreditkarten – 20 bis 30 pro Woche – dürfte etwas höher sein.
 
Die Garderobe ist im P1 außerdem auch eine Sozialstation. Wir verarzten, wenn sich jemand wehtut, trösten, wenn jemand weint und laden die Handyakkus auf, wenn jemand sonst nicht mehr nach Hause kommt. Und manchmal hören wir auch nur zu, denn – und auch das habe ich hier gelernt: Nur weil Menschen Geld haben, heißt das nicht, dass sie nicht auch manchmal einsam sind. Ob die Party den Leuten gefällt, kriegen wir auf jeden Fall als erstes mit, denn wenn sie die Musik nicht mögen, dann gehen sie nicht zum DJ, zur Bar oder zum Geschäftsführer, sondern zu uns. Aber sie erzählen uns natürlich auch, wenn sie den Abend besonders toll fanden.

Auf der nächsten Seite: Isabel über Betrunkene, die an der Garderobe Matheaufgaben lösen.
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Isabel, 20, Rote Sonne





Meinen ersten Tag an der Garderobe hatte ich vor eineinhalb Jahren – ausgerechnet zur Wiesn-Zeit. Da ging irgendwann gar nichts mehr. Ich war zu langsam, weil ich so nett war und mich mit jedem unterhalten wollte. Mittlerweile hab ich das raus. Ich rede zwar immer noch sehr gerne mit den Gästen, aber manchmal muss es eben auch ein bisschen schneller gehen. Und auf manche Gespräche darf man sich auch einfach nicht einlassen.
 
Man wird schon häufig mal angemacht, aber wenn es mir zu viel wird, setze ich mein Piss-off-Face auf, und wenn das nicht hilft, hole ich den Türsteher. An der Garderobe bekommt man ab und zu nicht so viel Respekt wie an der Bar. Ich arbeite trotzdem lieber hier. Die meisten Gäste sind super entspannt und die Garderobe ist gut gelegen, man bekommt viel mit und kann sich auch mal was zu Trinken holen zwischendurch – und außerdem muss man nicht so viel kopfrechnen wie an der Bar.
 
Wenn die Party richtig gut ist, merken wir das daran, dass die Leute ihre Jacken gar nicht erst abgeben, sondern direkt loslegen.
 
Ich arbeite immer gerne. Klar, man mag manche DJs lieber als andere, aber wenn mir die Musik gar nicht gefällt, kann ich sie mittlerweile auch einfach ausblenden. Nur die Dubstep-Partys mag ich nicht so, da kommen dann schon mal ein paar Kifferjungs und Gäste, denen man gerne zusammen mit ihrer Jacke auch noch einen Sprühstoß Deo geben würde.
 
Darauf gekommen, an der Garderobe zu arbeiten, bin ich durch meinen Bruder. Der war früher oft im Palais dafür zuständig und hat immer gute Geschichten erzählt. In der Abizeit zum Beispiel saß er mal in der After Hour während der Arbeit über einer Matheaufgabe und da war diese total betrunkene, mittelalte Frau, die fragte, was er macht und dann wie wild drauflos schrieb und zeichnete. Mein Bruder dachte, die ist einfach nur total fertig. Aber als er es zu Hause überprüfte, war alles richtig.

Auf der nächsten Seite: Julia über Hollywoodstars, die ihr Handy im Pimpernel vergessen.
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Julia, 27, Pimpernel





Ich hab meinen BWL-Master in Passau gemacht und hatte zu viel Zeit. Deswegen habe ich hier an der Garderobe angefangen – mit Pendeln sogar. An meinem ersten Tag gab es gleich Stress zwischen zwei Gästen, direkt vor der Garderobe. Da hab ich mir schon überlegt, ob ich hier richtig bin. Aber das war nur eine Ausnahme. Die Gäste hier sind sonst total lustig und haben immer eine Geschichte zu erzählen. Am witzigsten sind sie allerdings, wenn sie am nächsten Tag wieder kommen und irgendwas abholen wollen, was sie gar nicht hier verloren oder vergessen haben. Ein typisches Gespräch ist dann: „Hey, hab ich meine Jacke hier gestern vergessen?“ „Nein, sorry.“ „Hmm, hab ich dir erzählt, wo ich vorher war?“ „Ich glaube nicht, gestern war aber auch viel los.“ „Und mit wem bin ich nach Hause gegangen?“
 
Wirklich was vergessen hat zuletzt ein Hollywoodstar, der hier mit einem deutschen Schauspieler gefeiert hat. Wir geben keine Namen raus. Aber sie hatte ihre Jacke nicht abgegeben – und sie dann auch prompt inklusive Handy liegen lassen. Am nächsten Tag wurde beides abgeholt. Sie blieb aber draußen im Wagen sitzen.
 
Unter der Woche ist bei uns normalerweise nicht so viel los wie am Wochenende. Ich mag das aber auch gerne, dann kann man die Menschen auf der Tanzfläche beobachten und ihre Beziehungen zueinander. Wenn ich sehr neugierig bin, frag ich schon auch mal nach. Dann kommt zum Beispiel raus, dass zwei Menschen, die total komisch miteinander umgehen, Ex-Partner sind, die aber aus unerfindlichen Gründen noch einmal miteinander feiern gehen wollten.
 
Vom Nachtleben kann ich mich noch nicht trennen, weil es einen Kontrast zum normalen Büroalltag bietet und ich die Arbeit und die Menschen hier viel zu gern mag. Es kommt schon oft vor, dass wir uns, wenn alle Gäste so gegen sieben oder acht weg sind, auch noch zusammensetzen, trinken und reden oder sogar noch weiterziehen.

Auf der nächsten Seite: Dominic über einen Heiratsantrag an der Garderobe des Harry Klein.
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Dominic, 29, Harry Klein





Das Schöne an der Garderobe ist, dass jeder mindestens zweimal an uns vorbei muss. Die Stammgäste erzählen uns dann sowieso immer, was bei ihnen gerade so los ist. Aber man bekommt auch sonst von jedem Gast einen kleinen Ausschnitt seines Abends mit. Manchmal ist das auch nur so ein Gefühl der Stimmung, in der sie sind. Im Laufe des abends tauen viele natürlich etwas mehr auf und es wird lauter und gesprächiger.
 
Ich habe sogar an meiner Garderobe hier schon live einen Heiratsantrag mitbekommen. Die beiden haben vor mir die ganze Zeit geturtelt und plötzlich hat er sie gefragt. Ob die beiden wirklich geheiratet haben oder ob der Antrag überhaupt ernst gemeint war, weiß ich nicht – die gefragte Dame allerdings hat ihn ernst genommen, glaube ich.
 
Wie die Party sich entwickelt, merke ich – wenn die Tür aufgeht – an den Rufen, die immer lauter werden, und daran, wie sehr der Boden bebt auf dem Weg zur Toilette. Und klar, wenn die Party gut ist, dann wollen die Gäste nicht gehen, das ist hier aber meistens so.
 
Ich arbeite seit acht Jahren an der Garderobe, vier davon hier im Harry Klein. Ich mag den Job also offensichtlich. Klar ist es manchmal nervig, wenn Leute ihre Zigarettenschachtel in der Tasche lassen und dann wegen jeder Kippe ihre Jacke noch einmal haben wollen. Aber seit das bei uns jeweils 50 Cent kostet, ist das besser geworden. Man hat insgesamt einfach einen guten Kontakt zu den Gästen, es sind ja auch sehr persönliche Sachen, die sie uns anvertrauen. Manchmal auch etwas zu persönlich: Es gibt eine Frau mittleren Alters, die immer erst einmal fast alles ablegt, in dem sie gekommen ist – inklusive ihrer Unterwäsche. Das müsste nicht unbedingt sein. Aber sie hat immer einen riesen Spaß hier und wir sind nicht besonders zimperlich an der Garderobe. Nur bei Pelzjacken kann es sein, dass ich mal anfange zu diskutieren. Die mag ich nicht.

Der Staat lügt

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Mariana Rivera ist außer sich. “Lügner”, sagt sie. “Heuchler. Schweine! Sie erklären die Studenten für tot, dabei geht die Suche weiter.” Der offiziellen Erklärung, dass die vermissten Studenten umgebracht, verbrannt und ihre Asche in einen Fluss gestreut worden sein soll, wie sie der mexikanische Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam verbreitet, glaubt Mariana kein Wort. “Unsere entführten Freunde leben noch”, sagt Mariana wütend. Davon ist sie überzeugt.

Rivera studiert Philosophie in Mexiko Stadt. Ihre Wut treibt sie aber hinaus aus der Bibliothek, wo sie eigentlich an ihrer Masterarbeit schreiben müsste. Seit vier Monaten ist die Studentin mit den schwarzen Locken und auffallend geschminkten Lippen fast jeden Tag auf der Straße. Mariana verteilt Infomaterial auf dem Campus und hilft, die Aktivisten ihrer Fakultät zu organisieren: ein Protestmarsch folgt auf eine Sitzblockade, ein Orgatreffen mit Studenten anderer Universitäten auf spontane Demos vor Bürogebäuden der Regierungspartei PRI.




Mariana Rivera (rechts) glaubt kein Wort von dem, was die Regierung behauptet.

Der Grund für Marianas Wut: Am 26. September waren etwa 100 Lehramtsstudenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa auf dem Weg aus ihrem kleinen Dorf nach Iguala, der nächst größeren Stadt im Bundesstaat Guerrero, verschleppt worden. Am Abend gerieten sie in eine Polizeisperre. „Wir versuchten noch, den Bus zu wenden. Doch da begannen sie schon auf uns zu schießen, ohne irgendeinen Anlass“, erinnert sich Miguel Nepomuceño. Der bullige Mann um die 20 ist selbst Student an der Escuela de Ayotzinapa.

José Luis Abarca, der von der Mafiabande Guerreros Unidos ins Rathaus von Iguala gehievte Bürgermeister, wollte die linken Studenten nicht in seiner Stadt haben. Die Aktivisten hatten im Jahr zuvor schon mal das Rathaus besetzt, um gegen die Ermordung eines Genossen zu demonstrieren. Und Maria de los Angeles Pineda, die Frau des Bürgermeisters und Schwester eines Drogenbosses, hatte am Abend eine große Wahlkampfrede geplant. Also wies der Bürgermeister die Polizei an, die Studenten zu stoppen.

Was daraufhin geschah, darüber gehen die Versionen auseinander. Fest steht: Sechs Menschen starben. Und 43 Studenten verschwanden in der Nacht. Die städtische Polizei soll sie unter dem Vorwand, sie seien Mitglieder der Verbrecherorganisation Los Rojos, an deren Gegner, die Guerreros Unidos, übergeben haben. Bandenmitglieder transportierten die jungen Männer wohl in Lastwagen und Viehtransportern ab. Viele müssen bereits während der Fahrt erstickt sein. Die anderen wurden wohl erschossen, bevor sie auf einer Müllkippe verbrannt worden sein sollen. Soweit geht die offizielle Version der Behörden, mit denen Mexiko das Studenten-Massaker jetzt zu den Akten legen will.

Doch an der offiziellen Rekonstruktion der Nacht gibt es Zweifel. Mariana und ihre Mitstreiter sind sich sicher: Die Studenten aus Ayotzinapa werden gefangen gehalten, um die Protestbewegung unter Druck zu setzen. „Auch die Eltern glauben fest daran, dass ihre Kinder noch am Leben sind“, sagt Mariana.

Den Behörden traut die Philosophiestudentin nicht. „Zu viele Ermittlungspannen, zu viele falsche Aussagen.“ Mariana glaubt auch nicht, dass laut Ermittlungsbericht drei Anhänger einer Drogenbande die Leichen verbrannt und die Asche in einen Fluss gestreut haben sollen. Sie zweifelt grundsätzlich alles an, was die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto verkündet. Die Fragen, die sich gerade viele in Mexiko stellen, klingen aber durchdacht: Wie soll es möglich sein, dass drei Männer 43 Leichen in nur einer Nacht komplett verbrennen können? Dass sie die heiße Asche anschließend ausgerechnet in Plastiktüten zum Fluss gebracht haben sollen, wenn ein Feuer doch mehrere Stunden mit mehr als 900 Grad glühen muss, um Knochen zu Asche zu zersetzen?




Informationsveranstaltung an der Universidad Nacional.

„Fue el estado!“ „Es war der Staat!“ Seit mehr als einem Monat hallen die Rufe schon durch Mexiko. Weil es Polizisten waren, die die Studenten in Iguala entführten. Und weil die Regierung schon lange gewusst haben soll, dass die Sicherheitskräfte und der Bürgermeister in dem Städtchen in Guerrero gemeinsame Sache mit Drogenbanden machten.

„Das alles ist ein Ablenkungsmanöver“, folgert Mariana Rivera. „Die Regierung will, dass wir aufgeben, dass wir denken, wir können sowieso nichts mehr ändern, wenn wir jetzt auf die Straße gehen.“ Und selbst wenn längst nicht mehr alle glauben, dass die verschleppten Studenten noch am Leben sind, ändert sich gerade etwas in Mexiko. Die Verzweiflung, die Apathie, die Angst, die viele Mexikaner über Jahre zurückhielt, ihre Empörung hinauszuschreien, während ihr Land immer weiter ins Chaos stürzte, sie schlägt in Wut um.



Podestplätze

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Es gibt ja diese Läden, die man sehr leicht als Klassiker im Stadtbild bezeichnen kann. Weil es sie gefühlt schon immer gab. Mehr aber wohl noch, weil man sich kaum vorstellen kann, dass sie jemals anders aussahen. Die Hohenzollern Drogerie ist so ein Exemplar. Deren Besitzerin hebt seit mehr als 50 Jahren Shampoo-Fläschchen, Haargummis und andere Beiläufigkeiten des täglichen Bedarfs in ihrem Schaufenster auf kleine Podeste. Wenn sich nur alle immer so viel Mühe geben würden – Einkaufen wäre sofort wieder etwas Besonderes. 

Kein Platz für Castoren

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Gäbe es diesen einen Satz nicht, dann wäre der ganze Zirkus überflüssig. Niemand müsste sich Gedanken über „heiße Zellen“ für Atommüll machen. Die Bundesrepublik müsste nicht befürchten, völkerrechtliche Verträge zu brechen. Die Länder bräuchten nicht Verantwortung für Castoren hin- und herzuschieben. Es gäbe auch nicht die Verfassungsbeschwerde dagegen. Aber es gibt ihn, diesen Satz: „Mit der Verabschiedung des Standortsuch-Gesetzes werden die Transporte von Behältern mit abgebrannten Kernbrennstoffen ins Zwischenlager Gorleben eingestellt.“ Von solchen Behältern, sogenannten Castoren, kommen noch 26 nach Deutschland zurück, fünf aus La Hague in Frankreich, 21 aus Sellafield in England. Nur: Keiner weiß, wohin damit.



26 Castorenbehälter kommen demnächst von der Wiederaufarbeitung in England und Frankreich nach Deutschland zurück. Wo sie untergebracht werden sollen, ist offen.

Im Sommer 2013 war besagter Satz noch der Schlüssel zum Erfolg, Niedersachsen hatte ihn zur Bedingung für einen Neustart beim Atommüll gemacht. Nichts sollte mehr darauf hindeuten, dass Gorleben jahrelang der Favorit für ein Atomendlager war. Also durften auch keine Castoren mehr in das Zwischenlager, das in Sichtweite des Salzbergwerks auf der anderen Seite der Straße liegt. Erst dadurch war, nach monatelangen Verhandlungen, der Weg frei für eine neue Endlagersuche. Doch die 26 verbliebenen Castoren, die letzten Reste der Wiederaufarbeitung deutschen Atommülls im Ausland, waren damit plötzlich ohne Ziel. Dabei sollten die ersten von ihnen, so sehen es Staatsverträge vor, demnächst zurück nach Deutschland kommen. Doch dort finden sie keinen Platz.

Im Sommer 2013 erklärten sich immerhin noch die rot-grünen Landesregierungen Baden-Württembergs und Schleswig-Holsteins bereit, einen Teil des Atommülls zu übernehmen, in ein Zwischenlager neben einem der dortigen Atomkraftwerke. Einzige Bedingung: Auch ein drittes Bundesland muss mitmachen. Niedersachsen fühlte sich schon hinreichend mit Atommüll versorgt und damit unzuständig, so blieben als Länder mit Atomkraftwerken nur Hessen und Bayern. Beide hielten still.

Mittlerweile fällt nun auch Schleswig-Holstein weg, gewissermaßen mit höchstrichterlicher Rechtfertigung. Mitte des Monats besiegelte das Bundesverwaltungsgericht das Ende des Zwischenlagers Brunsbüttel – genau dorthin sollte ursprünglich ein Großteil der Castoren-Fracht. Und aus allerlei Gründen sieht das Land auch keine Chance mehr, den Müll an anderen Atomkraftwerken zu lagern. Stattdessen fordert Kiels grüner Umweltminister Robert Habeck einen Neuanfang. „Die atompolitische Debatte ist völlig festgefahren“, sagt Habeck, „wir sollten uns daraus befreien und noch mal neu ansetzen.“

Nur wie? Habeck schweben neue, zentrale Zwischenlager vor, die sich auch leichter sichern ließen. Seien die Atommeiler erst verschwunden, stünden schließlich sonst „auf der grünen Wiese ein Dutzend Hallen, die von der Wach- und Schließgesellschaft bewacht werden“. Dumm nur, dass der Bund genau so ein Zwischenlager dichtgemacht hat: Gorleben.

Obendrein geht es um millionenschwere Investitionen. Denn die Zwischenlager bei den Atomkraftwerken sind nur für Castoren ausgelegt, die mit abgebrannten Brennelementen bestückt sind, nicht aber für den Abfall aus Wiederaufarbeitungsanlagen. Der nämlich verlangt ziemlich aufwendige technische Vorrichtungen – „heiße Zellen“ etwa, in denen sich notfalls ein Castor reparieren ließe, ohne dass Radioaktivität austritt. Die Betreiber der Atomreaktoren aber, die Stromkonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW, sind nicht bereit, sie anzuschaffen. Sie haben schließlich schon die heiße Zelle in Gorleben bezahlt.

So entsteht ein Patt. Die Länder konnten sich zwar auf den Kompromiss für die Endlagersuche samt dem Aus für das Castor-Lager Gorleben verständigen, nicht aber auf Alternativen. Ohne alternative Standorte für die 26 Behälter aber können sich auch die Stromkonzerne entspannt zurücklehnen. „Für welchen Standort sollen wir denn eigentlich Anträge stellen?“, heißt es bei Eon. Ohne Anträge aber gibt es keine Genehmigungen, ohne Genehmigungen kein Ziel für den Atommüll. So bleibt der Atommüll erst einmal in Frankreich und Großbritannien – und wird dort in den nächsten Jahren Standmieten in Millionenhöhe verschlingen. Wer aber zahlt sie?

Seit Ende vorigen Jahres liegt der Fall auch beim Bundesverfassungsgericht. Nach SZ-Informationen hat der Eon-Konzern dort Beschwerde eingelegt. Für zusätzliche Kosten wolle man nicht aufkommen, heißt es bei Eon. Schließlich sei die „alternative Zwischenlagerung ausschließlich politisch motiviert“ – eben durch jenen Satz aus dem Sommer 2013. Entweder müsse die öffentliche Hand alle Mehrkosten tragen. Oder der Gesetzgeber macht das Zwischenlager Gorleben wieder auf.

Davon wiederum will das Land Niedersachsen nichts wissen, es hatte ja das Ende des Zwischenlagers mühsam ausgehandelt. Dem Land liegt ebenfalls eine Klageschrift von Eon vor, der Konzern hat auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg angerufen. Paradoxerweise schöpft das Land aber genau aus dieser Klageschrift neue Hoffnung. Denn in dem 70-seitigen Papier räumt Eon auch ein, dass sich bei den 26 Castoren durchaus aufdröseln lässt, von welchem Unternehmen welcher Atommüll stammt. Damit aber, so heißt es nun in einem Vermerk niedersächsischer Juristen, sei auch jedes Unternehmen für den eigenen Müll zuständig. Bei welchem Akw sie den dann lagerten, sei letztlich ihre Sache.

Wenn die Bundesregierung nicht rasch eine Lösung finde, warnt Niedersachsens Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne), „führt das dazu, dass alle Kernkraftbetreiber jeweils ihren eigenen Müll in ihre Zwischenlager zurücknehmen müssen“. Die Bundesregierung wiederum verweist darauf, dass sich die Länder endlich auf Standorte einigen müssten. So verweist einer auf den anderen. Und nichts geht voran.

Tagesblog - 30. Januar 2015

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17:30 Uhr: Auch ein Tagesblog muss mal ins Wochenende! Ich wünsche euch allen einen schönen Abend, bis kommende Woche! Bis dahin:
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17:15 Uhr:
Ihr wisst es ja selbst - Freitagabend ist Jungs-Mädchen-Frage-Zeit. Heute geht es darum, warum immer mehr Frauen diese designmäßig eher katastrophalen Zyklus-Apps eigentlich benutzen. Elias wollte wissen: Ist das einfach nur, um Missgeschicke zu vermeiden? Oder stecken da geheime Fähigkeiten hinter, die Jungs einfach nicht checken? Die Antwort bekommt ihr hier:




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16:20 Uhr:
Übrigens haben wir gestern zu Teresas tollen Protokollen von Münchner-Clubgarderoben sehr feine Leserpost bekommen, die ich euch natürlich nicht vorenthalten will. Genau genommen bezieht sich die Post auf dieses Protokoll:


Via Moss Boritz

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15:40 Uhr:
Aufmerksamkeit für Krankheiten oder Missstände in der Welt zu generieren, finde ich ja immer nobel und gut. Ehrlich gesagt habe ich mittlerweile aber den Überblick verloren, welcher Protest jetzt gegen was ist. Aktueller Trend: Frauen fotografieren sich mit verwischtem Lippenstift auf Instagram und Twitter, um ein Zeichen gegen Gebärmutterhalskrebs zu setzen. Die Idee dahinter: Das englische Wort "smear" steht sowohl für verschmiert, als auch für einen Abstrich, mit dem man das gefährliche HPV-Virus frühzeitig entdecken kann. Ähnlich wie bei der ALS-Icebucket-Challenge nominiert man dann andere, die ebenfalls ein Foto von sich posten sollen. Nicht verstanden: Sollen Männer auch mitmachen?
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14:20 Uhr:
Verdammt, Nadja hat mir gerade eine Beschäftigung für das kommende Wochenende geschickt: Die Anwendung Poettweet generiert aus den bisherigen Tweets ein neues Gedicht. Habe es eben mit einem Sonett ausprobiert und bin auf befremdliche Weise berührt. Fast so schön, wie unser Experiment mit der Apple-Autovervollständigung ("Ich hab Zombies geschossen, die ganze Zeit"). Besonders der Schluss!




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13:40 Uhr:
Gegessen. Zum Glück nicht das hier (oder bin ich die Einzige, die vegane Blutwurst seltsam findet?)




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12:20 Uhr:
Bevor ich jetzt zum Essen verschwinde, für euch noch ein superspannendes Interview von Nadja: Sie hat mit dem Islamwissenschaftler Dr. Abdel-Hakim Ourghi darüber gesprochen, warum deutsche IS-Kämpfer eigentlich immer so einen seltsam klingenden Duktus beim Sprechen haben. Hat er ihr gut erklärt, finde ich.




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11:45 Uhr: In Wien findet heute Abend übrigens wieder der Akademiker-Ball statt - ihr erinnert euch vielleicht, jener als rechtsextrem bekannte Ball, bei dem der Deutsche Student und Demonstrant Josef S. vergangenes Jahr festgenommen wurde. Wegen Landesfriedensbruch und Körperverletzung wurde er damals unter sehr dubioser Beweisführung zu einem Jahr Haft verurteilt, mittlerweile lebt Josef aber wieder in Jena (die Kollegin Kathrin hatte damals aufgeschrieben, was genau los war). Auch heute Abend werden wieder tausende Demonstranten erwartet.

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11:20 Uhr: Wenn man in Berlin wohnt, muss man ja auch seiner Street-Credibility feilen, nech? An Hip-Hop-Produzent und 2Pac-Homie Suge Knight werde ich mir wohl aber trotzdem kein Beispiel nehmen - der wurde nämlich diesen Sommer erstmal sechsfach auf einer Party angeschossen und hat sich jetzt auf einem Filmset ordentlich mit der Crew gezofft. Seine Reaktion? Angeblich ist er den Leuten mit seinem Truck auf einen Diner-Parkplatz gefolgt und hat sie überfahren. Ein Crewmitglied ist jetzt tot, Suge soll wegen Mordes angeklagt werden. Passenderweise heißt seine Plattenfirma übrigens "Death Row Records".
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11:05 Uhr: Bin wieder da. Und deshalb einfach mal anlasslos dieses Gif von Userin wrong-girl:
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09:55 Uhr:
Und, bevor es jetzt gleich in die Konferenz geht, noch was für den Post-Frühstücksmagen: Eine Frau in Texas hat in einer Zeitspanne von unter 20 Minuten neun (!) Pfund Steak verspeist. Man kann ihr dabei in einem Video zugucken. Insgeheim träume ich ja auch davon, mal zu so einem Wettessen zu gehen. Aber ich bin als Kind schon an der Challenge gescheitert, mehr als vier Cheeseburger zu essen.
https://www.youtube.com/watch?x-yt-cl=85027636&v=ESCB_-8L994&x-yt-ts=1422503916#t=134 

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09:40 Uhr:
Noch ein bisschen Nachrichtenlage:
  • Griechenlandkrise: Nach der Wahl von Alexis Tsirpas zum neuen griechischen Ministerpräsidenten brechen die Aktienkurse ein. Tsirpas hat mittlerweile konkrete Maßnahmen für den von ihm gewünschten Schuldenschnitt genannt, im Rest der EU findet das niemand so richtig super

  • Der rechtsextreme französische Front National streitet darüber, wie man nach dem Attentat bei Charlie Hebdo mit Muslimen umgehen soll. Viele in der Partei wollen die Wählerstimmen von Islamfeinden abfischen

  • Wer sich heute bei Facebook einloggt, akzeptiert automatisch die neuen Nutzungsbedingungen

  • Heute Abend beginnt die Fußball-Bundesliga wieder mit dem Spiel Wolfsburg gegen Bayern


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09:20 Uhr:
Ich hoffe übrigens, ihr habt gestern aufmerksam die SZ gelesen? Die Seite 3 war die erste vom geschätzten Kollegen hakan-tanriverdi.




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09:05 Uhr:
Und damit hier jetzt gar nicht erst das Gerücht aufkommt, wir seien untätig gewesen: Ein erster neuer Text auf der Startseite! Die Schweizer Agentur "Erfolgswelle" verkauft nämlich neugeschaffene Babynamen für mehrere zehntausend Euro das Stück. Dachten wir erstmal so: PR-Gag! Kathrin hat aber mit dem Inhaber telefoniert und der sagt: Wir meinen das ernst! Wie das genau funktioniert, könnt ihr hier nachlesen. Der Agentur-Inhaber sagt in dem Text übrigens, er sie würden dann auch über die Wurzeln des Nachnamens nachdenken und daraus etwas ableiten. Ich bitte dann schonmal die Crowd um Vorschläge, was man von "Haunhorst" für Vornamen ableiten könnte.




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09:00 Uhr: Guten Morgen liebes jetzt.de! Heute Morgen in der U-Bahn erstmal irritiert gewesen, weil um kurz nach acht einfach noch kein Mensch auf der Straße ist. Vielleicht, weil's ein bisschen geschneit hat? Dann aber daran erinnert, dass man hier ja am Wochenende auch nicht vor elf Uhr Frühstücken gehen kann. Vielleicht gibt es um Berlin also eine Art Zeitverschiebungsblase, die dazu führt, dass alles ein bisschen später startet?
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Mein Name kostet mehr als dein Auto

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Ein Hunde-Leckerli, das bewegliche Gelenke verspricht, haben sie „Actiflex+“ genannt. Ein edles Mineralwasser heißt jetzt „edelvia“. Und wer in der Schweizer Gemeinde Sisseln ins Schwimmbad will, der geht ins „Sissila“.





Das ist das Geschäft der Schweizer Namensagentur Erfolgswelle. Deren Texter denken sich Namen für Produkte und Marken aus – und für alles andere, was ihre Kunden sonst noch so benannt haben möchten. Seit Jahresbeginn auch für Kinder.

28.000 Euro für einen einzigartigen Namen


Umgerechnet etwa 28.000 Euro verlangt die Agentur für den Babynamen-Service. Verrückt? Keineswegs, findet Marc Hauser, der Inhaber von Erfolgswelle: „Das ist genauso viel wie für eine internationale Markennamensfindung.“ Dafür bekomme der Kunde einen Namen mit „Wohlklang und Rhythmus“, den noch kein anderes Kind trägt, der mit dem Familiennamen harmoniert und auf den kulturellen Hintergrund der Familie abgestimmt ist, samt Herleitung und Geschichte des Namens.

„Wir entwickeln eine glaubwürdige neue Geschichte und Mythologie rund um den neuen Namen“, verspricht die Webseite von Erfolgswelle. Dafür würden Teile von bestehenden Worten benutzt. „Wenn eine Familie französische Wurzeln hat, könnte ‚Sol’, vom französischen Wort soleil für Sonne im Namen vorkommen“, sagt Marc Hauser. „Das kann auf ein sonniges Gemüt hindeuten.“

Ein Kreativ-Team aus 31 Angestellten – 13 Texter, vier Historiker, zwölf Übersetzer und zwei Marken-Anwälte – tüftelt gemeinsam am neuen Namen. Dafür brauchen sie etwa 100 Arbeitsstunden und insgesamt vier bis sechs Wochen. Die Texter denken sich Namensvorschläge aus, die Historiker prüfen, ob die Namen schon einmal negativ besetzt waren, die Übersetzer recherchieren ihre Bedeutung in den zwölf meistgesprochenen Sprachen und die Anwälte stellen sicher, dass kein Produkt und keine Marke den Namen trägt. Falls die Eltern das möchten, wird auch noch die Meinung eines Testpublikums eingeholt.

Nur ein PR-Gag?


31 Menschen, vier Historiker, anderthalb Monate Arbeit – ernsthaft? Das Prozedere klingt nicht nur übertrieben aufwändig, sondern riecht auch ein bisschen nach einem PR-Gag. Doch am Telefon versichert Hauser durchaus glaubhaft, dass die Idee ernst gemeint sei. Und auch die Webseite wirkt nicht so, als sei sie über Nacht programmiert worden.

Eines hat Erfolgswelle auf jeden Fall schon erreicht: internationale Aufmerksamkeit. Buzzfeed hat berichtet, ebenso die Huffington Post, CNBC oder USA Today. Der Tenor ist immer der gleiche: „$32.000, WTF!?“. Unter den Artikeln empören sich die Kommentatoren über das absurd hohe Honorar, und wenig überraschend verbreitet sich die Geschichte in sozialen Medien.

Dabei ist es doch eigentlich nur logisch, dass reiche Menschen viel Geld für noch nie dagewesen Babynamen ausgeben. Längst ist Monty Pythons „Wir sind alle Individuen!“-Satire aus „Life of Brian“ Realität geworden; jede und jeder will heutzutage möglichst einzigartig sein. Wer so denkt, kann wohl tatsächlich das Gefühl entwickeln, mit einer Emma oder einem Ben im Kinderwagen (das waren 2014 die beliebtesten Namen), in der Masse unterzugehen. Kindernamen als Statussymbol für die Namensgeber, also die Eltern? Nach maßgeschneiderten Schuhen und sonderangefertigten Regalen ist der eigens designte Kindername doch kein sehr großer Schritt mehr.

Mein Kind darf nicht Nutella heißen


„Eltern geben ihren Kindern immer umständlichere Namen“, sagt Hauser. „Manche nennen ihr Kind so wie Prominente ihre Babys nennen, oder nach Produkten.“ In Frankreich hat ein Gericht gerade einem Elternpaar verboten, ihr Kind Nutella zu nennen. Eigentlich dürfen französische Eltern ihre Kinder seit rund 20 Jahren nennen wie sie möchten – davor gab es eine feste Liste, aus der man auswählen konnte. Doch Nutella verstoße gegen die Interessen des Kindes, weil er Spott auf sich ziehen könne. Statt Nutella heißt das Kind auf Beschluss der Richter nun Ella.

Rechtlich spricht theoretisch nichts gegen Fantasienamen, „solange das Geschlecht zu erkennen ist, der Name kein Fußballverein oder Gegenstand, also im Wesentlichen ein Name ist, und dem Kind nicht schadet“, sagt eine Sprecherin des Innenministeriums, das für das Namensrecht zuständig ist. Das sei oft „Abwägungssache“.

Das Problem: Ein Personenname lässt sich nicht schützen


Erfolgswelle bietet den Service erst seit ein paar Wochen an, darum kann die Agentur noch keine Beispielnamen nennen. Bislang habe es „eine Handvoll“ Anfragen aus den USA, Südkorea und Pakistan gegeben. Die ersten Paare wollen mit dem Namen nicht in die Medien. Verständlich, es wäre auch ärgerlich, wenn den teuer erkauften Namen gleich jemand kopiert. Im Gegensatz zu Markennamen kann man Personennamen nämlich nicht schützen. Hauser sucht darum noch ein Paar, das in die Medien möchte und dafür das Honorar erstattet bekommt.

„Der Ruf nach Einzigartigkeit ist heute so groß, nur beim Namen nicht, da wollen wir so heißen wie Zehntausende andere“, sagt Marc Hauser und zitiert den britischen Dichter Edward Young, der schrieb: „Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.“

Die Mechanik einer Katastrophe

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Die Meldungen aus Westafrika klingen unglaublich: In Sierra Leone haben sich zuletzt in einer Woche nur noch 65 Menschen mit Ebola infiziert, in Guinea lediglich 30, und in Liberia sogar nur vier. Die Zahlen, welche die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Verbreitung des tödlichen Virus veröffentlicht hat, machen Hoffnung. Und sie unterscheiden sich eklatant von dem Horrorszenario, das die US-Seuchenschutzbehörde CDC im Herbst 2014 verbreitet hatte: 1,4Millionen Ebola-Infektionen bis Anfang 2015. Ende Januar liegt die Zahl der bestätigten Fälle bei etwas mehr als 21 600. Bis zu 10000 Infektionen jede Woche hatten Experten befürchtet – stattdessen meldete die WHO Ende des Jahres pro Woche durchschnittlich 800 neue Fälle. Zuletzt waren es in den am meisten betroffenen Ländern nicht einmal mehr 100.



Die Zahl der Ebola-Neuansteckungen in Westafrika geht zurück. Eine Ursache dafür ist, dass die Menschen in den betroffenen Gebieten ihr Verhalten geändert haben, um Infizierungen zu vermeiden.

Selbst wenn man wie die WHO mit einer hohen Dunkelziffer rechnet, sind die aktuellen Zahlen erstaunlich. Wieso verläuft die Epidemie so anders als erwartet? Greift die spät angelaufene internationale Hilfe nun doch? Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut, hat keine eindeutige Antwort. „So ganz können sich das auch die Experten nicht erklären“, sagt er. Vermutlich aber hätten mehrere Faktoren zusammengespielt, darunter auch die intensivierte Unterstützung aus dem Ausland. „Wichtiger aber war wohl das veränderte Verhalten der betroffenen Menschen“, sagt Schmidt-Chanasit.

Ähnlich äußert sich auch Tankred Stöbe, Chef der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen (MSF). „Wir glauben, dass vor allem in Liberia, wo Ebola im Herbst am schlimmsten wütete, die Verhaltensänderung der Menschen entscheidend war.“ Sie würden inzwischen Körperkontakt meiden, neue Hygieneregeln beachten und hätten Bestattungsrituale verändert. Es seien also vor allem die Akzeptanz und das Verständnis der Bevölkerung, die den Kampf gegen Ebola gelingen lassen. In Guinea und Sierra Leone sei das noch nicht im selben Maß geglückt wie in Liberia, wo die Ansteckungsrate derzeit am niedrigsten ist. Die Kluft zwischen Prognose und Realität hat Stöbes Ansicht nach aber auch mit der üblichen Reaktion auf Katastrophen zu tun: „Erst wird verharmlost, dann rechnet man mit dem Allerschlimmsten – diesen Mechanismus kennen wir schon aus anderen Epidemien.“

Laut WHO stehen inzwischen in allen drei Ländern mehr Behandlungsplätze für Ebola-Patienten zur Verfügung als nötig. Der Effekt einer ausreichenden Zahl an Betten ist groß: Erkrankte können isoliert werden und stecken niemanden mehr an. Außerdem steigen die Heilungschancen, wenn Patienten mit Flüssigkeit versorgt werden. Doch wenn die Menschen den Helfern nicht vertrauen oder so abgelegen leben, dass sie von der Ebola-Aufklärung nichts mitbekommen, nützen auch Betten nichts. Im Dezember entdeckte ein WHO-Team im abgeschiedenen Osten Sierra Leones fast 90 Ebola-Tote, die – hochansteckend – in einem Krankenhaus lagerten. Solche Fälle zeigen, dass viele Infektionen nicht gemeldet werden und die Epidemie wieder aufflammen kann. Tankred Stöbe von MSF erinnert an das vergangene Frühjahr, als Ebola in Westafrika etwa 200 Menschen umgebracht hatte und die Fallzahlen wieder zu sinken begannen. Im Mai glaubte man den Ausbruch unter Kontrolle. „Es waren aber ein paar wenige unscheinbare Ereignisse wie eine Beerdigung oder ein Verwandtenbesuch über Ländergrenzen hinweg, die den Ausbruch zum Flächenbrand gemacht haben“, sagt Stöbe. Zwar könnte man jetzt viel besser und schneller auf solche Ereignisse reagieren, dennoch müsse man vorsichtig mit den Zahlen umgehen. Dass die WHO von einer Trendwende spricht, ärgert Stöbe. „Der Kampf gegen Ebola ist noch nicht vorbei.“

Er muss jetzt nur mit anderen Mitteln geführt werden. Behandlungsplätze gibt es genug, vor allem in den Ballungszentren. Das von Deutschland finanzierte Krankenhaus in Liberias Hauptstadt Monrovia wird nach Angaben von MSF wohl gar nicht mehr gebraucht. Das Deutsche Rote Kreuz nimmt dort nun Patienten mit anderen Krankheiten auf. Zur vollständigen Eindämmung, da sind sich die Ebola-Experten einig, sind vor allem zwei Dinge nötig: die lückenlose Nachverfolgung aller Kontakte eines Ebola-Patienten, um mögliche Ansteckungen sofort behandeln zu können. Und zweitens mobile Helferteams, die schnell in abgelegene Regionen gelangen und dort ein Aufflackern der Seuche verhindern. Denn eines macht sowohl der WHO als auch den Ärzten ohne Grenzen Sorgen: Nur bei der Hälfte der aktuellen Ebola-Patienten handelt es sich um registrierte Kontaktpersonen älterer Fälle. Bei den anderen weiß man nicht, wo sie sich angesteckt haben – offenbar sind einige Infektionsquellen noch nicht entdeckt.

Und doch sind die neuen Zahlen Grund für Optimismus. Den werden die drei Länder brauchen. Nach der Seuchenbekämpfung erwartet sie die Aufgabe, ihren Einwohnern wieder ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Auch dabei kann die internationale Gemeinschaft helfen, dann hoffentlich mit weniger Verspätung.
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