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Was man in Stockholm lernen kann

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Tove mag Mathe. Weil es so schön logisch ist, sagt die Sechstklässlerin. Wenn sie mal eine Frage nicht gleich versteht, wiederholt ihr Tischnachbar Viggo sie für sie. Tove ist taub, das Mädchen hat eine Hörhilfe im Ohr. Unter ihren langen blonden Haaren sieht man die zwar nicht. Aber im Unterricht sprechen deshalb alle in kleine schwarze Geräte, die wie iPods in Ladestationen vor ihnen stehen. Die Lehrerin malt eine Familie an die Tafel, Vater, Mutter, Kinder, und schreibt das Alter unter die Figuren. Die Schüler sollen Durchschnitt und Median ausrechnen, sie machen gut mit. Außer Tove sitzen zwei weitere Kinder im Raum, auf die die Lehrer besondere Rücksicht nehmen müssen, zwei Legastheniker.



Schweden gilt als Vorbild bei der Inklusion behinderter Kinder. Vollkommen integriert sind Schüler mit Einschränkungen aber auch dort nicht.

Eintausend Schüler besuchen die Johan Skytteskolan in Älvsjö im Stockholmer Süden. Etwa jeder achte von ihnen habe eine „psychologische Diagnose“, sagt Schulleiter Stig Gisslén. Er zählt Legasthenie und ADHS auf, aber auch elf Schüler mit Asperger-Syndrom und anderen Formen von Autismus sind darunter. Seit drei Jahren arbeite die Schule daran, alle Kinder noch intensiver am regulären Unterricht teilhaben zu lassen. „Wir lehren unsere Schüler, dass jeder Mensch anders ist“, sagt Gisslén. Gleichzeitig sollen alle teilhaben.

Schweden gilt als Vorbild bei der Inklusion behinderter Kinder, die deutsche Unesco-Kommission lobte vergangenes Jahr, dort seien Förderschulen „so gut wie abgeschafft“, Schweden sei da „vorbildhaft“, jubelte zum Beispiel die Zeitung Neues Deutschland. Das schwedische Schulsystem unterscheidet sich stark vom deutschen. Es ist darauf ausgelegt, jeden gleich zu behandeln. Die ersten neun Schuljahre verbringen alle Kinder auf derselben Grundschule. Die Eltern haben lediglich die Wahl zwischen privaten und kommunalen Trägern.

Beide werden durch Steuergeld finanziert, das Bildungsministerium gibt im Curriculum Lernziele vor. Wie sie diese erreichen und wie viel sie dafür investieren möchten, entscheiden die Gemeinden jedoch selbst, was teils zu großen regionalen Unterschieden führt. Überall gilt: Jeder Schüler soll die nächstgelegene Grundschule besuchen können. „Wenn das Kind ein Handicap hat, dann muss die Schule dafür sorgen, dass es trotzdem in diese Schule gehen kann“, sagt Adelinde Schmidhuber, die in Stockholm für die städtischen Grundschulen zuständig ist. Das könne bedeuten, dass deren Direktor eine Rampe für Rollstuhlfahrer bauen, technische Hilfen anschaffen oder dem Schüler eine Begleitperson zur Seite stellen müsse. „Wo ein Kind Gebärdensprache braucht, da kann dann die ganze Klasse Gebärdensprache lernen“, sagt Schmidhuber.

Perfekt integriert sind Schüler mit Einschränkungen trotzdem oft nicht. An vielen Schulen gibt es kleine Sondergruppen, in denen sie getrennt von den anderen unterrichtet werden. „Leider haben wir das in den Neunzigerjahren viel gemacht“, sagt Schmidhuber. „Und leider machen wir das immer noch häufig.“ Die separaten Gruppen sollen nur Übergangslösungen sein. Schmidhuber beschreibt sie als eine Art Nachhilfe, oft auch nur für bestimmte Fächer, bis das Kind bereit ist, in die reguläre Klasse zu wechseln. Schüler, bei denen das gar nicht gelingt, können in eine der 16 festeingerichteten Spezialgruppen gehen, die es in Stockholm gibt. Darüber entscheidet aber nicht ihr Direktor, sondern Experten der Stadt. Lediglich 225 der 60000 Stockholmer Schüler sitzen laut Schmidhuber in diesen festen Spezialgruppen.

Unterstützt werden die Gemeinden und Städte von der staatlichen Behörde für Sonderpädagogik, Specialpedagogiska skolmyndigheten (SPSM). SPSM-Experte Per Skoglund hat Zahlen für ganz Schweden und seine etwa 900000 Grundschüler. Demnach gehen 12000 von ihnen auf Sonderschulen (Särskolan), die nur geistig behinderte Kinder unter einer bestimmten IQ-Grenze aufnehmen. 10000 weitere sitzen in normalen Grundschulen – allerdings in Sondergruppen, schätzt Skoglund. Wenn diese Kinder am normalen Unterricht teilnehmen, komme es darauf an, dass sie nicht nur „integriert“, also in die Klasse gesetzt, werden. Sie müssten „gesehen, verstanden, unterrichtet und unterstützt“ werden, sagt Skoglund. Das funktioniere mal besser und mal schlechter.

Wie es an der Johan Skytteskolan funktioniert, erklärt Vize-Direktorin Monika Strandberg, die das Projekt Inklusion koordiniert. Sie schickt oft zwei Lehrer gleichzeitig in eine Klasse – den Lehrer für das Unterrichtsfach und einen der fünf Sonderpädagogen der Schule, der seine Schützlinge sonst in einer Sondergruppe außerhalb des normalen Unterrichts betreuen würde. Diese getrennten Gruppen gibt es zwar auch noch, sie sollen aber so selten wie möglich stattfinden.

Stattdessen achten nun alle Lehrer stärker darauf, dass jeder Schüler mitkommt. Um das zu erreichen, geben sie ihnen Informationen immer auf mehreren Wegen. Einen Text beispielsweise lesen sie vor, bevor sie ihn austeilen, das hilft den Leseschwachen. Wenn sie etwas erklären, schreiben sie die wichtigsten Vokabeln an die Tafel oder arbeiten mit Bildern.

Fühlen sich leistungsstarke Schüler bei so viel Betreuung nicht unterfordert? Strandberg glaubt das nicht, sie hält die Zusammenarbeit mit lernschwächeren Schülern für eine gute Erfahrung. „Die Menschen in der Gesellschaft sind unterschiedlich. Wir zeigen unseren Schülern, wie die Gesellschaft ist.“ Sie haben offenbar Erfolg damit: Nahezu alle an der Schule schließen so gut ab, dass sie danach drei Jahre aufs Gymnasium gehen können. Die größte Herausforderung sind autistische Schüler. Auch hier ist jedes Kind anders. Manche müssen später anfangen, weil ihr Tagesablauf anders ist als der ihrer Klassenkameraden. Manche möchten in den Pausen nicht auf den Schulhof gehen. Auf Ausflüge und Projektwochen müssen autistische Schüler besonders gut vorbereitet werden. Sie mögen es meist nicht, wenn etwas von ihrer Routine abweicht.

Einem autistischen Jungen in der neunten Klasse ist das an diesem Tag passiert. Albert hat normalerweise Begleitung zum Mittagessen, doch die ist heute nicht gekommen. Also habe er gar nichts gegessen, erzählt die Kunstlehrerin Margareta Kupper besorgt. Sie fürchtet, dass es im Unterricht nun schwierig wird mit ihm. Doch Albert wartet friedlich mit den anderen vor dem Kunstraum, kommt mit dem Klingeln als Erster herein, geht geradewegs auf seinen Platz und legt seine Sachen ordentlich vor sich. Die Lehrerin hat ausgestopfte Vögel auf den Tischen verteilt, die Kinder sollen sie malen – aber nicht anfassen. Kupper erklärt alles langsam und ausführlich, sagt vieles zweimal. Albert hört ruhig zu.

Wenn man Schmidhuber fragt, was sie noch verbessern möchte, spricht sie von einer langen Reise, die wohl niemals ende. „Früher hat man zu viel Angst gehabt vor diesen Kindern und sich nur darauf konzentriert, dass sie sich wohlfühlen, irgendwie dabei sind“, sagt sie. Der nächste Schritt sei, sie zu fordern. „Sie müssen auch etwas lernen, es aufs Gymnasium schaffen, einen Beruf ergreifen“, sagt sie. Eben genau wie alle anderen.

Die EZB schlägt zurück

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Benoît Cœuré war nach Davos gekommen, um zu erklären. Der Franzose, Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank und des Deutschen mächtig, hatte vorher sehr genau die deutsche Presse studiert. Er hatte all die beißende Kritik gelesen, all die scharfen Worte. Die EZB habe „den Rubikon“ überschritten, ihr Plan, Staatsanleihen in großem Stil aufzukaufen, sei „eine Zumutung“, ja sogar „ein Dokument des Scheiterns“. Namhafte Professoren warfen den Notenbankern vor, sie hätten eine „Inflationsmaschine“ oder gar eine „Vermögensvernichtungswaffe“ geschaffen.



Der Beschluss der EZB, in den nächsten eineinhalb Jahren Staats- und Unternehmensanleihen im Umfang von 1,1 Billionen Euro aufzukaufen wurde stark kritisiert. Nun wehren sich die Verantwortlichen.

Cœuré hält diese Kritik für verfehlt. Mehr noch: Er sieht auch Deutschland am Zug, mehr für das Wachstum in Europa zu tun. Wenn man seiner Argumentation folgt, dann hat die EZB den billionenschweren Anleihekauf ja nicht aus freien Stücken initiiert, sondern weil sie keine andere Wahl mehr hatte: Ihr Leitzins liegt schon bei null und lässt sich nicht weiter senken. Vor allem aber: Die Politik in Europa tut zu wenig, um die zähe Krise zu bekämpfen. Also muss notgedrungen jene Institution einspringen, die als einzige dazu bereit ist: die EZB. „Wir haben unseren Teil erledigt, nun müssen andere ihren Teil erledigen“, sagte Cœuré am Samstag beim Weltwirtschaftsforum in Davos.

Man kann das auch so verstehen: Die EZB ist nicht länger bereit, all die Kritik, die sie vor allem aus Deutschland zu hören bekommt, hinzunehmen. Sie bedrängt nun ihrerseits die Euro-Staaten, endlich für mehr Wachstum und mehr Jobs in Europa zu sorgen. Cœuré wählte dazu ungewöhnlich klare Worte: „Wir sind nicht bereit, das Risiko auf uns zu nehmen, weiter geduldig zu sein“, sagte er. Wenn das Wachstum weiterhin niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch bleibe, werde dies „das Fundament des gesamten europäischen Projekts gefährden“. Es sei daher nötig, dass die Politik handele und das Vorgehen der EZB unterstütze. Cœuré fordert die Euro-Staaten ganz konkret auf, mehr zu investieren. Nötig seien zudem Strukturreformen, damit die Arbeitsmärkte in Europa besser funktionieren.

Ähnlich äußerte sich am Wochenende auch EZB-Präsident Mario Draghi. Auch er bedrängte die Politiker der Euro-Staaten, mehr für das Wachstum zu tun und die Notenbank nicht allein zu lassen. Er sprach sich dafür aus, eine Wirtschaftsunion zu schaffen und die Euro-Länder dadurch zu Reformen zu verpflichten. So könne glaubhaft gemacht werden, dass einzelne Länder tatsächlich durch Wachstum ihre Verschuldung überwinden könnten. Dies könne die EZB nicht leisten. Auch EZB-Direktor Yves Mersch erklärte in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung: Man könne nicht immer nur die Währungspolitik bemühen, um die Vertrauensprobleme in der Euro-Zone anzugehen. Die Notenbank will damit unmittelbar vor dem Treffen der EU-Finanzminister an diesem Montag in Brüssel die Debatte in eine andere Richtung lenken und klarmachen, dass sie mehr Unterstützung erwartet.

Die Europäische Zentralbank hatte am Donnerstag beschlossen, dass sie in den nächsten gut eineinhalb Jahren Staats- und Unternehmensanleihen im Umfang von insgesamt gut 1,1 Billionen Euro aufkaufen wird – und dass sie bei Bedarf sogar bereit ist, dieses Programm über den angekündigten Zeitraum zu verlängern.

Die Bundesregierung hatte in den vergangenen Monaten in vertraulichen Gesprächen mit der Europäischen Zentralbank keinen Hehl daraus gemacht, dass sie vom geplanten Ankauf von Staatsanleihen nichts hält, ihre Kritik allerdings nie öffentlich geäußert. Kanzlerin Angela Merkel sei über das Vorhaben von Draghi regelrecht verärgert gewesen, berichtete die Financial Times am Wochenende. Im Gespräch mit dem britischen Premierminister David Cameron habe Merkel Anfang Januar von einer „sehr, sehr schlechten Idee“ gesprochen. Auch bei einem Treffen eine Woche später in Berlin habe Draghi die Kanzlerin und Finanzminister Wolfgang Schäuble nicht von seinem Aufkaufprogramm überzeugen können. Ihre Sorge: Die Politik des billigen Geldes verführe manche EU-Länder dazu, nötige Reformen aufzuschieben.

Aus Sicht der EZB sind diese Reformen wiederum nur ein Teil der Lösung. Notwendig ist aus Sicht der Notenbanker ähnlich wie in den USA, wo die Regierung die Geldpolitik der Federal Reserve mit eigenen Ausgabenprogrammen unterstützte, eine expansive Haushaltspolitik in jenen EU-Staaten, die sich dies leisten können.

So wünschen sich die Notenbanker schon seit Monaten, dass die Bundesregierung die Konjunktur in Deutschland – und damit auch in der Euro-Zone – durch zusätzliche Investitionen ankurbelt. Deutschland habe dazu den notwendigen Spielraum, heißt es in der EZB. Doch Merkel und Schäuble wollen von ihrem Ziel einer schwarzen Null, also einem ausgeglichenen Etat, nicht abrücken.

Das Problem verschwindet nicht

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Um Viertel nach zwei sieht es noch so aus, als würde Pegida bald nur noch die Veranstaltung der letzten Unzufriedenen aus dem Sächsischen sein. 5000 Demonstranten sind es vielleicht, die sich da auf dem Theaterplatz kalte Füße holen, ein Bruchteil der 25000, von denen die Pegida-Veranstalter zuletzt selbstbewusst redeten. Es sieht aus, als könnten jene recht behalten, die meinen, dass sich die Bewegung bald zerstritten haben und dann verlaufen haben wird. Doch dann kommen sie, mit ihren Deutschlandfahnen und Transparenten, die Gassen hier sind eng, die Leute schieben sich langsam voran, der Beginn der Kundgebung wird verschoben. 17300 Pegida-Anhänger füllen nach Polizeiangaben gegen 15 Uhr den Platz vor der Semperoper, als Kathrin Oertel ans Mikrofon tritt. 5000 Gegendemonstranten sind gekommen. Verschwunden ist Pegida an diesem kalten, grauen Sonntag nicht.



Am Sonntag kamen nach Polizeiangaben über 17000 Menschen zur Pegida-Demonstration auf dem Theaterplatz in Dresden.

Es brodelt in Dresden, nach wie vor. Diesmal kommen die Patriotischen Europäer gegen die vermeintliche Islamisierung des Abendlandes an einem Sonntag zusammen, ausnahmsweise. Denn am Montag ist die Innenstadt besetzt. Herbert Grönemeyer, Silly und Keimzeit wollen vor der Frauenkirche aufspielen, für Toleranz und ein weltoffenes Dresden. Die Pegida-Leute sind da lieber ausgewichen – aus praktischen Gründen, aber auch, weil es ins Opfer-Image passt, das die Führenden der Bewegung von sich zeichnen.

Auch Kathrin Oertel tut das an diesem Nachmittag. 37 Jahre alt ist sie am Freitag geworden, einige Demonstranten singen ihr ein Geburtstagslied. Seit Lutz Bachmann, der Initiator der Montagsaufmärsche, am Donnerstagabend zurückgetreten ist, ist sie Stimme und Gesicht dieser in viele Richtungen ausfransenden Bewegung. Nachdem Bachmanns ausländerfeindliche Äußerungen zum Skandal geworden waren, hat sie versucht, sich von den Extremisten in den eigenen Reihen loszusagen. Oertels Ton war zuletzt moderater geworden, nachdrücklicher ihr Wunsch nach Dialog. Doch davon ist an diesem Nachmittag nichts mehr zu spüren.

Stattdessen nimmt ihre Rhetorik erneut an Schärfe. Oertel spricht von „Presselügnern“ und „Politikversagern“, verliest noch einmal die sechs Forderungen der Bewegung, fordert ein Ende der Polizeireform, beklagt den angeblichen Hass der Roten und Grünen gegen Pegida. Als Beispiel nennt sie den Tod von Khaled B.. Der Flüchtling aus Eritrea ist am Samstag in Berlin beerdigt worden. Am 13. Januar war er mit mehreren Messerstichen in Hals und Brust tot aufgefunden worden. Eine fremdenfeindliche Tat? Später hatte ein Mitbewohner B.s gestanden, seinen 20-jährigen Landsmann im Streit getötet zu haben. Die Häme im Netz war groß, die sächsische CDU forderte Entschuldigungen. Für Pietät scheint kein Platz zu sein in diesen Tagen. Für Politik hingegen schon.

Am Freitagabend saß Sigmar Gabriel, der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende, in Polohemd und Freizeitjacke im Saal des Stadtmuseums, wo unter Vermittlung der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung Pegida-Anhänger und Gegner diskutieren, später diskutierte er mit. Er sei als „Privatmann“ da, sagte er – doch dass dieser Besuch die Diskussion über den Umgang mit der islamfeindlichen Bewegung befeuern, war klar. Darf man auf Pegida zu gehen? Und wenn ja – wie weit?

In Dresden hofft man, Antwort auf diese Frage gefunden zu haben. „Miteinander in Sachsen“ heißt die neue Gesprächsreihe, mit der Landeshauptstadt und Staatsregierung auf den Bürgerprotest reagieren. Der erste Termin fand vergangenen Mittwoch statt. Am gleichen Tag also, als durch Leipzig Legida zog und den größten Polizeieinsatz seit der Wende provozierte. Man hat schon besseres Timing erlebt – man hat auch Politiker schon auf Gegendemonstrationen gesehen. In Dresden waren 477 Menschen der Einladung Stanislaw Tillichs gefolgt. 300 von ihnen seien per Los ausgewählt worden, erklärte ein Regierungssprecher. Am Ende saßen in der Runde ein NPD-Mann aus dem Erzgebirge, aber weder Migranten noch Muslime. In einem Interview mit der Welt am Sonntag ließ der sächsische Ministerpräsident verlauten: „Der Islam gehört nicht zu Sachsen.“ Bei einem muslimischen Bevölkerungsanteil von knapp 0,5 Prozent hat er damit sogar irgendwie recht.

Von ungefähr kommen solche Äußerungen, die auch ein Zerwürfnis mit der Kanzlerin riskieren, freilich nicht. Die CDU in Sachsen kann und will im Umgang mit Pegida nicht der AfD das Feld überlassen. Zumal Vereinssprecherin Kathrin Oertel in AfD-Chefin Frauke Petry eine Mentorin auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit gefunden zu haben scheint. Inzwischen verschickt Pegida Pressemitteilungen, lädt sogar zu Prossekonferenzen. Lutz Bachmann, damals noch Vorsitzender, sagte vor einer Woche in ein Dutzend Mikrofone: „Die Politiker müssen ihre Arbeit machen, damit wir mal wieder am Montagabend auf der Couch sitzen können.“ Drei Tage später beschloss die sächsische CDU ein Papier zur Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dort ist von „Integration über das Erlernen der deutschen Sprache und die Einbeziehung in das Erwerbsleben und unsere Kultur“ die Rede. Was genau mit „unsere Kultur“ gemeint ist – das bleibt unklar.

Auch wenn nicht die angekündigten 25000 auf dem Theaterplatz demonstrieren: Was da in großen Teilen der Bevölkerung gärt, die rassistischen Ressentiments im Netz und auf der Straße – das alles wird nicht einfach so verschwinden. In Hoyerswerda, jener Stadt, in der 1991 ein Asylbewerberheim mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen wurde und die von Neonazis seinerzeit für „ausländerfrei“ erklärt wurde, demonstrierten am Samstag etwa 350 Menschen gegen die angebliche Überfremdung. Etwa tausend waren es in Erfurt. Dort formierte sich erstmals Pegada – deren Anhängern macht die „Amerikanisierung des Abendlandes“ noch mehr Sorgen als die Islamisierung. Und auch in Leipzig will am Mittwoch wieder Legida laufen.

Dessen Organisator Silvio Rösler können die Dresdner Pegida-Anhänger schon am Sonntag applaudieren. Überraschend steht er neben Kathrin Oertel – wo sie sich doch gerade erst von den Leipzigern mit ihren Verbindungen in die harte rechte Szene distanziert hat. Der Schulterschluss nach rechts ist da. Nein, es verschwindet nicht, das Problem.

Gespenstische Leere

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Wenn sich die Ägypter davon überzeugen wollten, was geblieben ist von den Freiheiten, die sie sich in ihrer Revolution erkämpft hatten, sie mussten am Sonntag nur versuchen, auf den Tahrir-Platz zu gelangen. Vor genau vier Jahren hatten dort mit einem Tag des Zorns jene Proteste begonnen, die 17 Tage später den langjährigen autoritären Machthaber Hosni Mubarak zum Rücktritt zwangen. Panzer und Polizisten riegeln nun den damaligen Brennpunkt weiträumig ab, allenfalls vom Vorgarten des Ägyptischen Museums lässt sich ein Blick auf den gespenstisch leeren Platz erhaschen. Schon in den Tagen zuvor hatten die Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt jeden Protest verhindert.



Am Jahrestag der Revolution von 2011 versperrten Panzer den Zugang zum Tahir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo.

Am Samstag versucht ein Häuflein von vielleicht drei, vier Dutzend Aktivisten der linken Sozialistischen Volksallianz zum Platz zu gelangen, der zu der Zeit noch nicht gesperrt ist. Sie rufen die Parolen der Revolution von 2011 und wollen Blumen zum Gedenken an die Märtyrer niederlegen. Dann schießen plötzlich schwarz uniformierte und maskierte Polizisten mit Tränengas und Schrotkugeln auf den friedlichen Protestzug, wie Augenzeugen berichten. Schaimaa al-Sabbagh, 34 Jahre alt, Parteimitglied und Journalistin, wird getroffen; sie blutet im Gesicht, bricht nach kurzer Zeit zusammen. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt die Mutter eines fünfjährigen Sohnes. Das Innenministerium freilich weist jede Verantwortung zurück.

„Ihr Verbrechen war, dass sie Blumen niederlegen wollte“, sagt Medhat Sahed am Tag danach, ein führender Funktionär der Volksallianz. Zu einer Pressekonferenz hat er Vertreter säkularer und liberaler Parteien um sich geschart, die ihre Solidarität bekunden. Sie sind wütend, werfen der Polizei vor, die Frau gezielt ermordet zu haben. „Es zeigt, wie weit wir uns von den Idealen der Revolution vom 25.Januar entfernt haben, sagt er. Hala Shukrallah, Chefin der von Mohamed el-Baradei gegründeten Verfassungspartei, fragt: „Wie sollen wir in diesem Klima der Angst Parlamentswahlen abhalten? Sollen wir erwarten, dass Wahlen fair verlaufen, die vom gleichen Innenminister organisiert werden, der für den Tod unserer Kinder verantwortlich ist?“

Der Generalstaatsanwalt habe eine Untersuchung des Todesfalls angekündigt, meldet die halbamtliche Zeitung al-Ahram. Doch was von der Justiz zu erwarten ist, darüber machen sich Aktivisten und demokratisch gesinnte Parteien wenig Illusionen: Erst am Freitag hatten Mubaraks Söhne Alaa und Gamal das Gefängnis verlassen. Ein Berufungsgericht hatte Mitte Januar das Urteil gegen sie kassiert; der Korruptionsprozess wird neu aufgerollt. Auch ein anderes Verfahren gegen ihren Vater wegen der Tötung von Demonstranten im Zuge der Revolution war niedergeschlagen worden. Der Generalstaatsanwalt hat in dem Fall das Kassationsgericht angerufen, Ägyptens höchste juristische Instanz.

Doch jene, die 2011 auf dem Tahrir-Platz gegen die Willkür demonstriert haben, erleben eine Restauration des alten Regimes: Minister und Berater Mubaraks kehren in die Entourage von Präsident Abdel Fattah al-Sisi zurück. Zurück ist nach Ansicht von Menschenrechtlern auch der Polizeistaat. Dabei hatte Sisi doch erst am Dienstag in einer Rede zum Tag der Polizei bekräftigt, die Ägypter hätten das Recht zu demonstrieren. Er schränkte jedoch ein, dass man „auch an jene 90 Millionen denken müsse, die essen, trinken und leben wollten, die sich sicher fühlen wollten mit Blick auf ihre Zukunft“. Es ist bezeichnend, dass Staatsmedien diesen Aspekt herausstellten.

In Alexandria wurde am Sonntag ein weiterer Demonstrant getötet. Schon am Freitag war eine 15-Jährige am Rande von Protesten in der Hafenstadt am Mittelmeer umgekommen. Auch sie sollen beide von Schrotkugeln der Polizei getroffen worden sein. Beide Male demonstrierten offenbar Anhänger der verbannten Muslimbruderschaft. Am Abend eskalierten dann die Auseinandersetzungen im Kairoer Stadtteil Matariya. Von landesweit mindestens 14 Toten war zunächst die Rede.

In Ägypten galt am Sonntag Staatstrauer. Gedacht wurde aber nicht Schaimaa al-Sabbaghs, der getöteten Landsleute oder der 800 Menschen, die 2011 in den Tagen der Revolution ihr Leben verloren. Betrauert wurde der Tod des saudischen Monarchen Abdullah.

Es macht uns an

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Nein, klug ist das alles natürlich nicht. Spätestens seit im vergangenen Sommer die Nacktselfies von Jennifer Lawrence und den dutzenden anderen Prominenten aus der iCloud gestohlen wurden, dürfte jedem das Risiko bewusst sein. Wer „sextet“, also expliziten Content übers Smartphone verschickt, handelt unvorsichtig. Aber wer ist schon immer total vernünftig, wenn es um Sex geht?


Die Mehrheit der 18- bis 24-Jährigen offenbar nicht. Im letzten Jahr ergab eine Umfrage in den USA , dass 70 Prozent von ihnen aufreizende Nachrichten oder Fotos auf dem Smartphone empfangen. Bei Teenagern ist Sexting die neue „first base“. Es hat also das Küssen als ersten Checkpoint auf dem Weg zum echten Sex ersetzt. Sagen Soziologen aus den USA, wo man die Etappen bis zum Geschlechtsverkehr traditionell in Baseball-Metaphern verpackt.

Nein, man muss es nicht mögen, seine Tagträume in Echtzeit mit jemandem zu teilen – aber unsere Smartphones machen es möglich. Also wollten wir wissen, wie diese Möglichkeit genutzt wird. Und was daran so faszinierend ist.

Daniel, 30, Arzt


Ich verschicke eigentlich kaum Fotos von mir selbst, bekomme aber sehr viele von Mädchen. Wenn ich mich auf Tinder mit einer gut verstehe, wechseln wir bald zu Whatsapp – auf Tinder kann man ja keine Fotos verschicken.

Ich bitte da eigentlich nie drum, die meisten Mädels schicken die Fotos von allein. Meistens ist es erst mal der Nacktfoto-Klassiker: Oben ohne, der eine Arm hält das Handy schräg nach oben, der andere drückt die Brüste so an den Oberkörper, dass sie größer aussehen.

Wenn sie unbedingt wollen, schicke ich den Mädchen auch ein Foto von mir. Immer das gleiche übrigens – da stehe ich splitternackt mit einem Sektglas in der Hand vor dem Schlafzimmerspiegel. Das wirkt offenbar unverklemmt und selbstironisch auf die und hat schon oft funktioniert. Wenn ich die Mädchen dann in echt treffe, sind wir gleich auf einem sehr lockeren Flirt-Niveau. Fotos von Vaginas bekomme ich übrigens nie. Irgendwie denken Mädchen wohl, dass die nicht fotogen sind. Dabei ist das doch Unsinn!

Jaana, 24, Philosophie-Studentin


Sexting ist geil. Punkt. Und eigentlich würde ich gerne nicht mehr dazu sagen – wenn da nicht dieses Scheißgefühl wäre: Wer liest die anzüglichen SMS, die ich meinem Freund schreibe? Wer sieht die Nacktfotos, die ich ihm schicke?

Man hört ja immer wieder, dass sich die Dateien auch bei Diensten wie Snapchat gar nicht dauerhaft selbst zerstören, sondern auf riesigen Servern irgendwo in Amerika gespeichert bleiben. Seit Edward Snowden sollte man eh davon ausgehen, dass es keine völlig private Kommunikation mehr gibt – irgendein Geheimdienst liest oder lauscht immer. Im Zweifel ein 21-jähriger, postpubertärer Informatik-Crack, der bei der NSA gelandet ist, weil er gut mit Computern kann, und der mit seinen Kollegen dreckige Witze über meine Brüste reißt.

Wenn ich mir das nur vorstelle, werde ich schon sauer. Und an Ereignisse wie das im vergangenen Jahr, als plötzlich hunderttausende private Bilder im Netz standen, will ich erst gar nicht denken. Wer regelmäßig sextet, muss den Kopf ein Stück weit ausschalten. Aber das Blut strömt in solchen Momenten ja ohnehin durch andere Körperteile.
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Leonie, 27, Werbetexterin


Ich habe mit dem Sexting angefangen, bevor ich überhaupt ein Handy hatte, geschweige denn ein Smartphone. Mit meinem ersten Freund habe ich mir in der Schule Briefe geschrieben, in denen wir uns erzählt haben, was wir am Nachmittag miteinander anstellen wollen. Das war mitunter ziemlich explizit.

Wir haben die Zettel in Umschläge gesteckt und von unseren Freunden und Freundinnen quer durchs Klassenzimmer reichen lassen. Ich weiß nicht, ob es meinem Freund genauso ging, aber für mich war der Nervenkitzel noch wichtiger als der Inhalt. Das ging so lange gut, bis unser Mathe-Lehrer einen der Briefe einkassiert hat. Eigentlich hat er immer alle Zettel vorgelesen – unseren nicht. Ich habe mich danach ein paar Wochen nicht mehr getraut, mich in seinem Unterricht zu melden, so peinlich war mir das.

Diese Erfahrung hat mich aber nicht allzu lange vom Sexting abgehalten. Das Schuljahr war kurz danach eh vorbei, dann kamen die großen Ferien, neue Lehrer und neue Zettel unter der Bank. Wenig später habe ich mir mein erstes eigenes Handy gekauft – eigentlich viel besser für kurze, anzügliche Nachrichten geeignet als alle analogen Wege.

Das habe ich aber erst viel später realisiert, als ich ein Auslandssemester in Amerika gemacht habe. Dort wurde bereits fleißig gesextet, als hier noch niemand davon geredet hat, und dank Smartphones nicht nur in Form von Texten, sondern auch mit Fotos. Das war für mich eine ganz neue Erfahrung und noch mal ein ganzes Stück aufregender. Leider hält mein aktueller Freund nicht allzu viel davon, aber ich bin gerade dabei, ihn zu überzeugen.



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Jonas, 29, Kunsthistoriker


Angefangen habe ich mit dem Sexting vor genau einem Jahr. Da bekam ich zu Weihnachten ein Smartphone, mit dem ich endlich Fotos machen und empfangen konnte. Meine Freundin schickte mir am selben Abend noch ein Bild von sich in neuer Unterwäsche vor dem Spiegel, die typische Pose dieser Selfie-Tussis auf Instagram. Bis heute sind alle Nackt- oder Halbnacktfotos, die wir uns schicken, ironisch. Man kann sich ja unmöglich ernst nehmen, wenn man seinen Körper so in Szene setzt. Aber trotzdem macht es uns irgendwie an: Du bekommst ein superprivates Bild, das nur zwischen dir und deinem Partner ausgetauscht wird und weiß Gott was auslösen könnte, wenn es öffentlich werden würde.

Aus diesem Grund hatte ich am Anfang eine Regel: Wenn mein Schwanz auf dem Foto ist, darf mein Gesicht nicht gleichzeitig zu sehen sein. Wer weiß, wo das Foto mal landet, wenn wir nicht mehr zusammen sind. Aber die Regel habe ich schon nach ein paar Wochen gebrochen. Weil es so wahnsinnig lustig aussah, oben ohne vor dem Spiegel in der Sportumkleide und mit total ernstem Gesichtsausdruck meinen Penis raushängen zu lassen.

Wir wohnen in derselben Stadt, haben es also eigentlich gar nicht nötig, uns übers Handy scharf zu machen. Es ist eher eine Art Running Gag in unserer Beziehung: Wenn ich irgendwo ohne sie unterwegs bin, schicke ich ihr typische Touristenselfies von mir, vor Bergpanorama oder berühmten Bauwerken, und lasse dabei wie versehentlich meinen Penis aus der Hose hängen. Sie macht das gleiche ab und zu mit ihren Brüsten.  

Ist das schon Sexting oder einfach ein seltsamer Humor? Keine Ahnung, aber irgendwie finden wir diese ironische Brechung von Nacktheit schon ziemlich scharf.
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Denise, 27, PR-Beraterin


Halb herunter gelassene Jeans. Eine Hand, die in den Slip gleitet. Brüste, Brüste, Brüste aus zwei Dutzend unterschiedlichen Perspektiven. Meine ersten Werke erinnerten an Billigposter und Klo-Magazine, die ich aus Jungen-WGs kannte – nur mit meinen eigenen Körperteilen in der Hauptrolle. Mein damaliger Freund und ich hatten 4000 Kilometer zwischen uns. Wenn wir ein Jahr Fernbeziehung überleben wollten, mussten wir uns was einfallen lassen.

Das erste Bild schickte ich ohne Vorwarnung los. Es machte mich an, mir vorzustellen, was er fühlt, wenn er meine Nachricht aufmacht – und plötzlich meinen nackten Körper sieht. Mit der Zeit warf das improvisierte Studio aus Bett, Laken, Nachttischlampe und Handykamera immer elaboriertere Kreationen ab. Ich fand das äußerst albern. Aber auch ziemlich gut. Nicht ganz so enthusiastisch empfing ich die Nacktbilder meines damaligen Freundes. Vermutlich, weil er genau eine Kameraeinstellung bevorzugte: Riesenmonsterpenis im Vordergrund, an dem sich im Hintergrund ein kleiner Mann mit heruntergelassener Hose festhält. Gesagt habe ich es ihm aber nie: Vielleicht machte es ihn ja genau so an, seine Nacktbilder zu verschicken, wie mich. Ich wollte ihm das nicht kaputt machen. Leider bleibt der Penis bis heute das Lieblingsmotiv der Männer, die mir Nacktbilder schicken. Dabei wirken Schultern, Brusthaare oder ein Bauch-V viel mehr auf mich!
 
Die Fernbeziehung überstanden mein damaliger Freund und ich übrigens. Wir trennten uns erst mehr als ein Jahr danach. Ich mache mir keine Sorgen, dass er meine Nacktbilder gegen mich verwenden könnte – dazu kenne ich ihn zu gut und vertraue ihm zu sehr. Aber manchmal ist das schon komisch zu wissen, dass er jederzeit wieder meine Brüste angucken könnte.
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Nora, 25, Designerin


Meine beste Freundin hat mir vor einigen Monaten erzählt, dass sie und ihr Freund sich Nacktfotos und ab und zu auch Videos schicken, wenn sie sich ein paar Tage nicht gesehen haben. Ich habe überhaupt nicht verstanden, wozu das gut sein soll: Warum soll man sich heiß machen, wenn man sich in dem Moment eh nicht haben kann? Ich koche mir doch auch kein Drei-Gänge-Menü, wenn ich gerade vom Zahnarzt komme und nichts essen darf.

Wenige Wochen später habe ich auf einer Party in Berlin Til kennengelernt. Wir sind noch am ersten Wochenende im Bett gelandet. Er arbeitet in Hamburg, ich wohne in München. Gleich am Montagmorgen hat er mir ein Foto von sich beim Duschen geschickt, nackt und offensichtlich sehr erregt. Der Text: „Ich will dich. Jetzt.“

Das fand ich in dem Moment unglaublich geil, für mich war das wie ein Erweckungserlebnis. Ich habe ihn sofort angerufen und hatte kurz darauf das erste Mal in meinem Leben Telefonsex. Noch vor der Arbeit. Seitdem sexten wir regelmäßig, wenn wir uns am Wochenende nicht in echt sehen können. Videos haben wir noch nicht ausprobiert, aber auch das ist nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit.

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Thilo, 27, Chemiker


Ich bin bisexuell und lebe in einer offenen Beziehung. Meine Freundin Jana weiß, dass ich ein paar Mal im Jahr Sex mit Männern habe und findet das okay, zweimal war sie sogar schon mit dabei. Mit Jana kann ich mir Sexting überhaupt nicht vorstellen, das würde gar nicht passen. Wir sehen uns eh sehr regelmäßig, da bleibt genügend Gelegenheit, um uns in echt zu spüren.
 
Mit meinen Affären (ich nenne sie so, obwohl alle Beteiligten davon wissen) sexte ich dagegen regelmäßig. Angefangen haben wir mit virtuellem Sex über Skype oder andere Video-Messenger. Das Problem dabei: Es müssen beide gleichzeitig online sein und Zeit haben. Deshalb sind wir dazu übergegangen, uns erotische Fotos per MMS zu schicken.
 
Mittlerweile nutzen wir fast nur noch Snapchat. Ob sich die Bilder und Videos wirklich selbst zerstören oder nicht doch irgendwo gespeichert bleiben, weiß ich nicht. Aber zumindest sind sie dann nicht mehr auf dem Handy meines Sexting-Partners. Selbst wenn wir uns total zerstreiten sollten, brauche ich keine Sorgen haben, dass er mir plötzlich droht, die Fotos zu veröffentlichen. Sicher ist sicher.

Ich glaube, dass Schwule oder Lesben generell öfter sexten als heterosexuelle Paare. Zumindest ist das in meinem Bekanntenkreis so. Vermutlich hat das etwas damit zu tun, dass Homosexuelle in der Öffentlichkeit oft schon schief angeschaut werden, wenn sie nur Händchen halten oder es wagen, sich zu küssen. Deshalb haben Schwule das Internet schon früh dafür genutzt, um sich zu One-Night-Stands zu verabreden. Und wer schon beim Online-Dating seiner Zeit voraus war, ist das anscheinend auch beim Sexting.

Danke, Pegida

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Endlich vereint auf der Straße: die Generation der 20- bis 30-Jährigen. 


Liebe Pegida,

liebe Fahnenschwenker und Wutrentner, liebe Prügelpatrioten und Dummschwätzer: Ich bin froh, dass es euch gibt.

Freut euch vielleicht zu hören. Seit letzter Woche zeigt ihr ja erste Zerfallserscheinungen. Euer Chef ist zurückgetreten, ein paar von euch haben auf Journalisten eingeprügelt. Gestern in Dresden kam wieder nur ein Bruchteil der angekündigten Teilnehmer. Vielleicht marschiert ihr in ein paar Wochen nur noch mit zweihundert Mann, und irgendwann wird es auch denen zu blöd. Wäre okay für mich. Denn eines habt ihr schon geleistet, wofür ich euch dankbar bin. Ihr habt mich aufgeweckt.

Statt der patriotischen Großstreitmacht, die ihr jede Woche ankündigt, mobilisiert ihr nämlich vor allem Widerstand. 25.000 Gegendemonstranten waren es letzte Woche allein in Leipzig, vorletzte Woche 100.000 in ganz Deutschland, heute werden es vermutlich ähnlich viele. So viele Menschen hat zuletzt die SPD mit ihren Hartz-Gesetzen auf die Straße gebracht. Das war 2004.

Bis jetzt demonstrierten wir gegen Studiengebühren und die Gema. Es ging immer um uns. 



Euretwegen, und hier nochmal mein bester Dank, gehe ich endlich auch mal auf die Straße. Demonstrieren, also das in größerer Gruppe gesammelte Dagegen- oder Dafürsein, ist ja gerade ein wenig aus der Mode. Vielleicht, weil uns die klaren Gegner fehlen. Früher gab es Springer, gab es Strauß, gab es Pershing-II-Raketen. Es gab Menschen und Dinge, die ganz offensichtlich schlimm genug waren, um sich als Gegner jedes jungen Menschen zu eignen, der ein halbwegs eingenordetes politisches Gewissen hatte.

Was gibt es da schon, seit ich erwachsen bin? Den Protest gegen George W. Bush? Das war 2003. Da war ich mit Schule beschäftigt. Als ich studierte, gab es Demos gegen Studiengebühren. Später dann gegen das Piraterie-Abkommen Acta und, man muss fast lachen, gegen das „Clubsterben“ wegen einer Tariferhöhung der Gema. Es ging auf die Straße für freies Internet, bessere Musik und gegen höhere Eintrittspreise in der Disco. Eigentlich ging es immer um uns.

Irgendwann gab es Demos gegen den Verteidigungsminister Guttenberg. Da hatten die Demonstranten Monokel und „Monarchie jetzt!“-Schilder dabei. Wenn wir schon mal demonstrierten, war es ironisch.

Vielleicht hatten wir zwischen Bachelor-Abschluss und Auslandspraktikum ein bisschen verlernt, was richtige Probleme sind. Wem graut es schon vor Hartz IV oder dem Abbau von Bergbau-Subventionen, wenn er Anfang 20 ist? Dann kam plötzlich sehr viel auf einmal: Die NSA-Enthüllungen hatten das Zeug zum richtig lauten Aufschrei. Aber bevor Edward Snowden zu unserem Rudi Dutschke werden konnte, fingen in Syrien plötzlich IS-Extremisten damit an, Europäern die Köpfe abzuschneiden. Da erschien die NSA plötzlich wieder deutlich weniger schlimm. Schließlich versprach die doch, uns vor Terror zu schützen. Wer hätte schon zweifelsfrei sagen können, ob er da jetzt für die richtige Sache auf die Straße geht?


Uns rüttelt etwas auf, das endlich mal nicht komplex ist. Sondern einfach nur dumpf und völkisch.



Aber jetzt seid ihr da, liebe Pegida. Und plötzlich watscht uns etwas wach, das gar nicht komplex ist. Dumpfer, völkischer Mist. In so großen Mengen, dass mir sogar Freunde aus dem Ausland schreiben, was da los sei – sie hätten auf CNN grimmige deutsche Flaggenschwenker gesehen?

Ihr „patriotischen Europäer“ seid keine Speerspitze, kein homogener Block. Bei euch stehen Omas neben vorbestraften Nazis neben braven Junior-Angestellten. Ihr seid schwer festzumachen, vermutlich weil ihr im Grunde ja auch keine Ahnung habt, was ihr eigentlich wollt. Womit ihr uns übrigens gar nicht so unähnlich seid. Die Probleme, gegen die ich in den letzten Jahren auf die Straße hätte gehen können, waren schon zu komplex und ambivalent für mich allein – wie hätte eine Massenbewegung da nichts falsch verstehen können?

Natürlich wäre es schön, wenn es euch nicht gäbe. Wenn jeder von euch hin und wieder Zeitung lesen würde und die ARD nicht als Propagandakanal ignorieren würde. Wenn ihr alle regelmäßig wählen gehen würdet und den Funken Mitgefühl hättet, den es braucht, um einzusehen, dass die Flüchtlinge nicht nach Deutschland kommen, weil sie schmarotzen wollen, sondern weil es ihnen mies geht. Und dass keiner von denen an eurem Frust schuld ist.

So ist es aber nicht. Und weil es nicht so ist, weil es also euch frustrierte, empathielose Kaltherzen gibt und schon immer gab, und weil ihr viele seid, bin ich dankbar, dass ihr euch zusammengetan habt. Dass ihr als fahnenschwenkende Menge durch Städte zieht. Dass ihr eure zur Faust geballten Gesichter in Fernsehkameras haltet und euren hysterischen Hass in schlimme Sätze packt. Dass ihr sichtbar macht, dass es sowas wie euch gibt. Auch heute noch, auch in Deutschland.

Es ist nämlich gruselig zu wissen, dass es euch gibt. Aber immer noch besser, als es nicht zu wissen.

Mord und Marketing

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Dschihadismus, heißt es, entwickelt sich immer mehr zur Protestbewegung unter westlichen Jugendlichen. Zur Möglichkeit also, sich abzugrenzen von Normen und Werten der Gesellschaft. Zum Anderssein. Beim Anwerben von Unterstützern und neuen Kämpfern ist derzeit vor allem die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) erfolgreich. Warum funktioniert deren Propaganda bei uns so gut, viel besser beispielsweise als die Versuche von al-Qaida? Weil der IS die bessere PR-Maschine hat?

Stephan Rebbe ist Beratungsgeschäftsführer bei Kolle Rebbe, einer der erfolgreichsten Kommunikationsagenturen Deutschlands. In einem Artikel über die Kommunikationsstrategie des IS schrieb Rebbe, die Dschihadisten hätten in den relevanten Communities ein Angebot für frustrierte junge Männer formuliert, demgegenüber das Angebot des Wettbewerbers (also der freiheitlichen Demokratie) „ein dünnes Süppchen“ sei.

jetzt.de: Herr Rebbe, ist es zynisch zu fragen, ob der Islamische Staat die derzeit beste PR-Agentur hat?
Stephan Rebbe: In dieser Formulierung wohl schon. Aber das heißt leider nicht, dass es nicht wahr ist. Seitdem ich diese schwarz-gewandeten Leute mit den kurzen Messern zum ersten Mal gesehen habe, wie sie Europäern und Amerikanern die Köpfe abschneiden, denke ich: Das ist ein Wahnsinn, wie das als Kommunikationsstrategie funktioniert. Was das global auslöst.

Sie erkennen beim IS also tatsächlich eine PR-Strategie?
Ja. Und zwar eine inzwischen hochprofessionelle, die sich gezielt an junge Menschen richtet.

Wie?
Auf mehreren Ebenen. Eine davon ist die Art, wie Gewalt in Szene gesetzt wird. Die reale Gewalt, die wir da sehen, ist in ihrer Inszenierung extrem nah bei dem, was wir unter anderem aus Videospielen kennen: abgeschnittene Köpfe, Blutströme aus irgendwelchen Körperteilen. Das ist ultra-brutal, aber eben in der Lebensrealität vieler Jugendlicher – auf einer abstrakten Ebene wie in Filmen oder Videospielen natürlich – ganz normal.

Moment. Die schiere Brutalität funktioniert als Agitation?
Nein. Ihre Inszenierung. Derjenige, der die Gewalt am besten in Szene setzt, wird das größte Identifikationspotenzial erzeugen.

Was heißt „am besten“?
Eben möglichst nah an dem, was wir kennen. Das muss nicht bloße Brutalität sein. Ich habe ein Video gesehen, in dem Jungs mit ihrem Toyota Hilux durch Aleppo fahren. Wie bei uns die Klischee-Gangster in ihrem 3er-BMW sitzen diese Kerle da drinnen – Ellenbogen aus dem Fenster, grimmiges Gesicht – und sprechen irgendwelche Leute an: „Hey Bruder, alles klar?!“ oder „Du da hinten, pass mal auf, dass du dein Kopftuch richtig runterziehst.“ Da fehlt nur noch, dass sie auch noch hupen und laute Musik aus dem Auto dröhnt. Das hat was von „GTA“ und amerikanischen Serien. Und natürlich symbolisiert es Macht.

Kann PR eine Jugendbewegung gezielt entstehen lassen?
Nein. Das muss von unten kommen. Wie in der Pop-Kultur: Die Hippies wurden abgelöst vom Punk. Dann kam eine breite Disco-Bewegung, die wieder nach Harmonie und Glamour gesucht hat, dann kam der Rap und so weiter. Jede neue Entwicklung ist immer getrieben von Menschen, die mit dem Bestehenden abgeschlossen haben, die gegen Veraltetes rebellieren. Das ist das normale Spiel zwischen These und Antithese. Und wenn die Antithese stark ist, schließen sich ihr mehr und mehr Leute an. Das lässt sich von oben nicht auslösen oder planen.

Man braucht also eine Strömung, die als radikal anders und darin sehr authentisch wahrgenommen wird – und mit der lässt sich dann arbeiten?
Und man braucht Gesichter. Menschen, die als Symbol und Projektionsfläche funktionieren. Beispiel Punk-Kultur: Da waren die Radikalsten auch Projektionsfläche und Sehnsuchtstypen, weil sie für die totale Abkehr von der Gesellschaft standen. Sid Vicious zum Beispiel, der auf einem Sex-Pistols-Konzert Menschen aus dem Publikum mit Blut bespuckt – und sich in letzter Konsequenz eben auch totgespritzt hat.

Für den IS wäre das dann wohl der ehemalige Gangsta-Rapper Deso Dogg, der sich dem Dschihad verschrieben hat?
Genau. Auch seine Wirkung basiert darauf, dass er besonders laut und besonders radikal ist und sich damit besonders mächtig über alles hinwegsetzt, was in der westlichen Welt in Form von Gesetzen oder Vereinbarungen existiert.



Stephan Rebbe

Angeblich ist er auch einer der Köpfe hinter der IS-Medienkampagne.
Wundern würde mich das jedenfalls nicht. Man merkt, dass da Menschen am Werk sind, die das alles sehr intuitiv machen. Die haben offensichtlich von klein auf die Zusammenhänge in der westlichen Medienkultur begriffen und beherrschen diese Klaviatur perfekt.

Was gehört da, abgesehen von den Videos, noch dazu?
Eine einfache, möglichst klare und gerne auch radikale Symbolik. Was in der Punk-Kultur Ketten, Sicherheitsnadeln, Springerstiefel und das Anarchy-Symbol waren, sind jetzt die schwarzen Kutten, die Fahne, der erhobene Zeigefinger. Das hat, um es im Marketing-Sprech zu sagen, einen hohen „visual impact“. Das ist schon sehr konsequent. Als Jugendlicher in der Selbstfindung bietet einem das sehr viele Anknüpfungspunkte.

Vor allem die Fahne könnte in ihrer Schlichtheit fast von Apple stammen.
Finde ich auch. Ich mag die richtig! Ich finde die cool (hält kurz inne, überlegt). Wirklich schlimm: Ich finde die cool! Ich muss nicht mal wissen, was da draufsteht. Die hat eine Einfachheit und damit eine ungeheure Kraft. Rein abstrakt gesprochen: Was das Branding angeht, machen die einfach sehr viel richtig.

Man kann beim IS also tatsächlich von Markenbildung sprechen?
Klar. Allein die Tatsache, dass wir IS so locker in den Mund nehmen, ist verrückt! Man muss sich mal vor Augen halten, was das für ein Konzept ist, sich selbst einen Namen zu geben, der ein Staatsgebilde unterstellt. Und die ganze Welt übernimmt das. Das ist reine Markenbildung.

Was geben uns Marken?
Genau das, worüber wir hier reden: Abgrenzung und Anziehungskraft als Gegenspieler – und damit Orientierung. Und natürlich einen Wertekanon, den jede Marke repräsentiert: Nivea ist „caring“, Coca Cola ist „Freude“, Volvo ist „Sicherheit“. Beim IS können wir da vermutlich ein paar Zettel vollschreiben. Aber da wird immer etwas auftauchen wie Brutalität, Aggressivität, Angst. Zunächst Negatives also. Aber bereits auf der nächsten Werteebene kommt da etwas wie Autorität, Macht, Klarheit. Das will der IS ausstrahlen. Und das sind Werte, die gerade für orientierungslose Menschen sehr attraktiv sind. Egal, ob sie aus Aleppo kommen oder aus Bochum.

Hände weg vom Lenkrad

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Dorothee Bär hat drei kleine Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren – und einen Traum. Die Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium wünscht sich, ihre zwei Töchter und ihren Sohn eines nicht allzu fernen Tages ins Auto setzen zu können und das Fahrzeug dann so zu programmieren, dass es das eine Kind zum Fußball, das andere zum Handball und das dritte in die Musikschule fährt. Anschließend bringt das Auto die Kinder wieder nach Hause. Ganz von allein – und ganz sicher.



So sieht Daimlers Version der Zukunft aus. Bald sollen solche automonen Mobile in Deutschland getestet werden. Verkehrsminister Dobrindt will einen Teil der A 9 zur Teststrecke ausrüsten.

Was sich anhört wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film, ist eine Vision, die nicht nur Bär, sondern auch Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (beide CSU) ernsthaft verfolgen. Noch in diesem Jahr will Dobrindt damit beginnen, im Rahmen eines Pilotprojekts ein Teilstück der Autobahn A 9 in Bayern so zu digitalisieren und auszurüsten, dass eine Kommunikation von Fahrzeug zu Straße sowie von Fahrzeug zu Fahrzeug möglich wird. Eines Tages könnten dort „Fahrzeuge mit Assistenzsystemen und später auch voll automatisierte Fahrzeuge fahren“, kündigte der Minister jetzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Das langfristige Ziel, wobei die Betonung auf „langfristig“ liegt, sei „die komplett vernetzte Straße“, sagt Bär. „Das bedeutet: mehr Verkehrssicherheit, besserer Verkehrsfluss, weniger Schadstoffe und eine Entlastung des Fahrers.“

Das Projekt ist mehr als Spielerei: Verkehrsprognosen zeigen, dass der Verkehr in Deutschland deutlich zunehmen wird. Um die zu erwartenden Verkehrsströme bewältigen zu können, müsste sehr viel mehr Geld als bislang in den Ausbau der Infrastruktur investiert werden – doch Geld ist bekanntlich knapp. Eine andere Möglichkeit wäre, die Effizienz auf den bestehenden Strecken zu erhöhen, also den Verkehr flüssiger zu machen und Staus zu vermeiden. Digitale Kommunikationssysteme eröffnen da nach Meinung des Verkehrsministeriums ganz neue Möglichkeiten: So können Messstationen Informationen sammeln über den aktuellen Zustand der Straße, beispielsweise wie nass sie ist, wie glatt oder ob sich Schlaglöcher gebildet haben. Diese Informationen können sie an die sich nähernden Autos senden. Auch können sich die Autos gegenseitig informieren, beispielsweise über bevorstehende Staus.

Dobrindt ist überzeugt: „Das selbstfahrende Auto wird sich durchsetzen.“ Denn damit ließen sich „begrenzte Infrastruktur-Kapazitäten sehr viel effektiver nutzen“.

Für den Minister geht es also um Infrastrukturen. Die deutsche Autoindustrie ist dagegen der Meinung, dass es hier um nicht weniger als um ihre Zukunft geht. Als der IT-Konzern Google im vergangenen Jahr sein erstes selbstfahrendes Auto präsentierte, löste das bei den Herstellern so etwas wie ein Google-Trauma aus. Auch wenn die kleinen Kugeln noch nicht aussehen wie richtige Autos, sondern wie Designer-Salzstreuer oder halbierte Eierschalen, so war doch klar: Die können jetzt auch so etwas wie Autos bauen. Und technologisch sind sie ziemlich weit vorne, auch wenn man bisher nur Google-Autos in einer Google-Welt auf Google-Straßen sieht.

Von Stuttgart über München und Ingolstadt bis Wolfsburg arbeiten die Konzerne nun auf Hochtouren an eigenen Fahrzeugen, die in ein paar Jahren vieles alleine können sollen. Heute geht es um Abstandhalter, Bremsassistenten und Spurwechselwarner. Von 2016 an könnte es technisch möglich sein, das Auto alleine in die vernetzte Parkgarage zu schicken. Irgendwann nach 2020 oder 2025 soll dann das voll automatisierte Fahren kommen: das vernetzte Auto als von Sensoren, Kleinkameras und Minicomputern gesteuertes Fortbewegungsmittel. Der Fahrer dann auf dem Rücksitz, E-Mails lesend.

In Nevada und Kalifornien können Googles selbstfahrende Vehikel getestet werden. Was die deutsche Industrie seit Langem fordert, ist: mehr Spielraum für die neuen Projekte auch in Deutschland. „Insbesondere die USA sind uns da in mancher Hinsicht voraus“, fürchtet VW-Chef Martin Winterkorn. Wie sich das auf den Automobilstandort Deutschland auswirke, sei noch offen. Aber: „Ein Vorteil ist es ganz sicher nicht.“ Wird man nun abgehängt?

Bereits im November 2013 hatte das Ministerium einen runden Tisch „Automatisiertes Fahren“ eingerichtet, dem unter anderem Vertreter der Automobilindustrie, der Versicherungswirtschaft sowie der Forschung angehören. Er dient dazu, herauszufinden, ob und wie sich das automatisierte Fahren in Deutschland realisieren lässt. Damit ist auch die Hoffnung verbunden, dass automatisierte Systeme einen wesentlichen Beitrag dazu liefern, „Fahrfehler aufzufangen und den Fahrer zu entlasten“.

Noch sind die Überlegungen zu dem Pilotprojekt auf der A 9 allerdings nicht allzu weit fortgeschritten. Fest steht nur, dass der Test auf einer Teilstrecke „der hochbelasteten überregionalen Autobahn“ stattfinden soll. Noch in diesem Jahr soll damit begonnen werden, erste Messsysteme entlang der Strecke zu installieren. Autofahrer müssen aber noch lange nicht damit rechnen, dass vor, neben oder hinten ihnen plötzlich ein fahrerloses Auto auftaucht.

Erst einmal müssen Autohersteller und Versicherer klären, wer im Falle eines Unfalls wie genau haftet. Je nachdem, wie diese Einigung aussieht, könne es dann sein, dass die Tests auf der A 9 gar nicht im Normalbetrieb stattfänden, sondern dass dafür eine Spur gesperrt werde oder die fahrerlosen Autos beispielsweise nur nachts auf einem kurzen Stück eingesetzt würden, heißt es im Ministerium.

Das Tempo wird vorgegeben: Google will schon im Frühjahr eine eigene Testflotte von 150 Autos auf die Straße schicken. Die Technologie kommt – unter anderem – ausgerechnet aus Deutschland. Conti, Bosch und ZF Lenksysteme – drei alte Zulieferer sind schon in der neuen Welt angekommen. Um zu zeigen, dass man dabei ist, brachten die deutschen Hersteller bei der Elektronikmesse CES in Las Vegas neulich ihre Ideen auf die Bühne. Eine Menge Konzeptautos, futuristische Studien wie der Mercedes F 015 mit Gestik- und Blicksteuerung. Wann aus der Lounge-Limousine der Stuttgarter ein Fall für Dobrindts A9 wird, wissen auch die Konzerne nicht. Man plant, ohne genau zu wissen, für wann.

Nur so viel: Kaum waren die Dobrindt-Pläne am Montag bekannt, sendete der Daimler-Konzern eine Pressemeldung nach draußen. Überschrift: „Wir können alles – auch autonomes Fahren!"

Tsipras schließt Bündnis mit den Rechten

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In Athen ist am Montag der Sieger der Parlamentswahl, der 40-jährige Linkspolitiker Alexis Tsipras, als neuer Regierungschef vereidigt worden. Er wird künftig mit einer in Europa bisher einmaligen Koalition regieren. Seine Linksallianz Syriza hat sich überraschend schnell mit den griechischen Rechtspopulisten von Panos Kammenos, 49, auf ein Bündnis verständigt. Die nationalistische Kleinpartei hilft der Linken, die mit 149 Sitzen die absolute Mehrheit in dem 300-köpfigen Parlament verfehlte, mit ihren 13Abgeordneten an die Macht.

Beide Parteien verbindet die entschiedene Gegnerschaft zu den Sparbeschlüssen des abgelösten konservativen Premiers Antonis Samaras. Ansonsten klaffen zwischen Syriza und den „Unabhängigen Griechen“ (Anel) von Kammenos, der früher zur Samaras-Partei gehörte, tiefe ideologische Gräben. Im Wahlkampf forderte Anel, Migranten auszuweisen, die sich illegal im Land aufhalten. Syriza ist dagegen für Integration. Im Streit mit der Türkei um Hoheitsrechte in der Ägäis ist Anel ebenfalls für eine harte Linie. Parteigründer Kammenos hat zudem angeregt, Griechenland könne sich Kredite in Russland besorgen, wenn die EU dem Land nicht helfe.



Linkspolitiker Alexis Tsipras, der neue Regierungschef Griechenlands, will ausgerechnet mit den Rechtspopulisten um Panos Kammenos koalieren.


Tsipras sagte vor seinen Anhängern am Sonntagabend in Athen, Griechenland werde nun die Sparpolitik hinter sich lassen. „Es wird weder einen katastrophalen Zusammenbruch geben, noch wird ein fortwährendes Katzbuckeln akzeptiert werden“, sagte Tsipras. An diesem Dienstag soll das neue Kabinett vereidigt werden.

Die Pläne der Euro-Staaten für eine weitere wirtschaftliche Stabilisierung Griechenlands könnten nach dem Sieg von Syriza scheitern. Aus Kreisen der EU-Mitgliedsländer verlautete, der Stufenplan für einen Ausstieg des Landes aus der Abhängigkeit von den Nachbarn sei kaum noch realistisch. Wenn die Griechen auch unter Tsipras Mitglied der Euro-Zone bleiben wollten, bleibe ihnen kaum eine andere Wahl, als ein weiteres volles Hilfsprogramm zu beantragen. Es wäre nach den zwei bisherigen Paketen im Gesamtumfang von 240 Milliarden Euro bereits das dritte.

Eine solche Entscheidung hätte nicht nur für Tsipras unangenehme Folgen, sondern auch für seine künftigen Kollegen, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Der neue Athener Regierungschef hatte im Wahlkampf versprochen, die Reformauflagen von EU und Internationalem Währungsfonds zu beseitigen. Benötigte er nun zusätzliche Kredite, kämen stattdessen wohl sogar neue Auflagen hinzu. Merkel und einige weitere Regierungschefs müssten ein drittes Programm ihrerseits ihren nationalen Parlamenten zur Abstimmung vorlegen. Nach Tsipras’ Wahlsieg ist die Bereitschaft, weiteren Darlehen zuzustimmen, jedoch insbesondere in Merkels Unionsfraktion gering.

Nach den bisherigen Plänen der Euro-Staaten sollte die griechische Regierung ihren Kapitalbedarf von diesem Jahr an wieder über die privaten Finanzmärkte decken. Um den Übergang abzufedern, hatten sich die Partnerländer bereit erklärt, zusätzlich eine sogenannte vorbeugende Kreditlinie, also eine Art Dispo-Kredit, zur Verfügung zu stellen. Dieses Konzept wird aber kaum aufgehen, weil die Zinsen, die Griechenland privaten Geldgebern zahlen müsste, bereits vor Tsipras’ Wahlsieg wieder in die Höhe geschossen waren.

Die Bundesregierung bot der neuen Regierung eine Zusammenarbeit an, doch müsse Tsipras alle Verpflichtungen erfüllen, die seine Vorgänger im Amt eingegangen seien. Ähnlich äußerte sich Frankreichs Präsident François Hollande, der Tsipras telefonisch einlud, nach Paris zu kommen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte in der ARD, ein Schuldenschnitt für Griechenland stehe derzeit nicht zur Debatte.

Europakritische Parteien begrüßten den Sieg Syrizas. Sie freue sich über die „gigantische demokratische Ohrfeige“ für die Europäische Union, sagte Marine Le Pen, Chefin des französischen Front National. Der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke kommentierte: „Ein Schuldenschnitt für Griechenland muss sein – insoweit hat Syriza völlig recht.“ Allerdings müsse das Land dann auch aus dem Euro austreten.

Tagesblog - 27. Januar 2015

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17:49 Uhr: Der jetzt.de-Tag ist vorbei. Kämpfe mich jetzt durch den Schnee nach Hause.
Tschüß!
[plugin imagelink link="http://media.giphy.com/media/BPFDboWuEW46c/giphy.gif" imagesrc="http://media.giphy.com/media/BPFDboWuEW46c/giphy.gif"]

++++

17:36 Uhr:
Dienstag ist Lexikontag. Dienstag ist nicht zwingend Ausgehtag. Aber trotzdem kann man die Frage ja mal stellen, wird sicher demnächst wieder aktuell: Was kann ich gegen einen Kater tun? Franziska hat das getan und sich Tipps geben lassen.




++++

16:42 Uhr:
Draußen schneit es und hier drin werden (zumindest in manchen Stockwerken) Nachrichten gemacht. Superpassend also, dieser Zusammenschnitt von Reportern, denen beim Berichten über Schnee blöde Sachen passieren:
http://www.youtube.com/watch?v=RHGsjbvRyPQ
Okay, einige davon sehen sehr nach Fake aus. Aber egal. Wir sind ja leicht zu begeistern, wenn jemand hinfällt. Wir haben ja früher auch alle bei "Bitte lächeln!" gelacht (kennt hier jemand noch "Bitte lächeln!"?)

++++

16:17 Uhr:
Am Morgen schon erwähnt: Heute ist 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung. Bei Krautreporter haben sie nachgefragt, wie junge Menschen dem gedenken. Da ist zum Beispiel John Denno dabei, 16 Jahre alt, der Szenen aus dem Dritten Reich mit Lego nachbaut.
[plugin imagelink link="https://krautreporter.de/system/image_upload/file/874/w1000_7mLkh16sbGqA7gylB4tdtErDKGkbMJPLvylR6Dq7U5c.jpg" imagesrc="https://krautreporter.de/system/image_upload/file/874/w1000_7mLkh16sbGqA7gylB4tdtErDKGkbMJPLvylR6Dq7U5c.jpg"]
Hier gibt es noch mehr Bilder davon.

Und dann gibt es noch eine andere moderne Gedenk-Form: den Twitter-Account, der in Echtzeit das Ende des 2. Weltkriegs twittert.




++++

15:03 Uhr:
Falls ihr euch jetzt eine Geschichte erzählen lassen wollt und zwar eine, die gleichzeitig ein Hip-Hop-Track, eine Graphic Novel UND ein Kurzfilm ist, dann sei euch dieses Gemeinschaftsprojekt von Kollegah und Prinz Pi (der jetzt auf einmal wieder Prinz Porno heißt?!) empfohlen: 15 Minuten Dschungelabenteuer!
http://www.youtube.com/watch?v=BgKnNTjRWPU

++++

14:02 Uhr:
Number of fucks Jakob gives:


Number of fucks Jan gives:


Number of fucks Kathrin gives:


Warum?
Deswegen:

(Übrigens gemalt von the one and only Daniela Rudolf)
Und weil es einen neuen Text gibt. Genau darüber. Über Obamas "Zero Fucks"-Phase.

++++

13:34 Uhr:
Wir jetzt so: zurück vom Essen.

Mit einer kleinen Geschichte, die Simon erzählt hat (bzw. den Link dazu geschickt, was ja das "Erzählen" des 21. Jahrhunderts ist):

In Schwerin war der dortige Pegida-Ableger "Mvgida" (Leute, das ist ja nicht mal ein Akronym!) auf der Straße. Die Gegner wollten kreativ gegendemonstrieren, haben die Domain mvgida.de registriert und mit den Mvgida-Parolen befüllt. Anschließend haben sie an die Islamfeinde auf der Straße Schilder mit der Domain drauf verteilt – und dann schnell deren Inhalt ausgetauscht. Sodass die Mvgidaisten (Leute, das ist ja nicht mal ein Akronym und sowieso kein Wort!) Werbung für diese Seite liefen:
[plugin imagelink link="http://www.endstation-rechts.de/uploads/RTEmagicC_Mvgida-gackern.jpg.jpg" imagesrc="http://www.endstation-rechts.de/uploads/RTEmagicC_Mvgida-gackern.jpg.jpg"] Guerilla!

++++

12:40 Uhr:
Wir jetzt so: essen.

++++

12:10 Uhr:
Ach Welt, du und deine Ideen. In Mexiko wollen sie jetzt mit einer davon gegen die hohe Übergewichts-Rate vorgehen: Wenn man zehn Kniebeugen macht, darf man umsonst U-Bahn fahren.
[plugin imagelink link="https://fusiondotnet.files.wordpress.com/2015/01/ahued_07.jpg?w=1024&h=705" imagesrc="https://fusiondotnet.files.wordpress.com/2015/01/ahued_07.jpg?w=1024&h=705"] Runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch, runter, hoch – und dann runter in die U-Bahn.

In Moskau haben sie das auch schon mal probiert. Die waren da aber etwas strenger: Bitte 30 Kniebeugen in unter zwei Minuten!
http://www.youtube.com/watch?x-yt-cl=84503534&x-yt-ts=1421914688&v=ojo9M1cPSPI#t=93

++++

11:01 Uhr:
Schnell, schnell, ein neuer Text: Charlotte wurde auf der Staße angesprochen. Passsiert schon mal, wenn man Charlotte ist. Aber: Seit neustem denkt sie immer gleich "Ach, wieder so ein Pick-up-Artist!" Stimmt's? Hier mal klicken.


Das ist nicht Charlotte. Aber das ist ihr passiert.

++++

10:00 Uhr:
Komme nicht in Tritt. Jetzt Konferenz, dann Termin. Stellt euch auf eine längere Pause ein. Und lernt zwischenzeitlich mal diese Grafik auswendig, damit euch das nicht passiert, mit nicht in Tritt kommen und so:
[plugin imagelink link="http://big.assets.huffingtonpost.com/BestWorkday.png" imagesrc="http://big.assets.huffingtonpost.com/BestWorkday.png"]

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09:31 Uhr:
Neues aus der Welt:

- Heute vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Die Kollegen von süddeutsche.de haben dazu ein ganzes, großes Textepaket auf Lager, mit Reportagen, Zeitzeugenberichten etc.

- Russlands Präsident Putin wird allerdings nicht an der Gedenkfeier teilnehmen.

- Italien freut sich über Tsipras in Griechenland.

- Alle sind ganz aufgeregt, weil Facebook und Instagram heute Morgen mal ausgefallen sind...

- ...und weil es in den USA schneit. Sag ich mal: So, so.

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09:10 Uhr:
People of the jetzt.de, unglaublich: Meinen letzten Tagesblog habe ich im Jahr 2014 (!) geschrieben! Erwartet also keine allzu großen Sprünge von mir, muss mich erst wieder eingewöhnen.

Einstweilen: einen guten Morgen! Bald geht es hier los.

Neun Zimmer in 60 Minuten

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Rüdiger Winter ist am Morgen wieder im Regen gestanden. Es war dieser klischeehafte, gemeine Hamburger Regen, bei dem man das Gefühl hat, es regnete einem sogar von unten in die Kapuze. Bald ist man völlig durchnässt und durchgefroren, aber Rüdiger Winter hat durchgehalten, ist doch klar. Es hat sich nicht gelohnt. Auch klar. „Die hatten natürlich vorgesorgt“, sagt Winter. „Wir konnten nur zwei überhaupt ansprechen, und die wollten nicht mit uns reden.“ Die, die vorgesorgt haben sollen, das sind die Betreiber eines ziemlich herunter gekommenen Hotels im Hamburger Stadtteil St.Georg. Und die, die nicht reden wollten, das sind die Zimmermädchen.



Die Organisation "Arbeit und Leben Hamburg" kümmert sich um Arbeitnehmer aus dem europäischen Ausland, die in Deutschland ausgebeutet werden. Vor allem Zimmermädchen sind betroffen.

Rüdiger Winter arbeitet bei „Arbeit und Leben Hamburg“, einer Organisation, die mehrheitlich von der Gewerkschaft getragen wird, und die sich um Probleme kümmert, die mit der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit zu tun haben. Oder deutlicher: Damit, dass viele Arbeitnehmer aus dem europäischen Ausland in Deutschland „übers Ohr gehauen“ werden, wie Winter das formuliert. „Die sprechen die Sprache nicht, die wissen nichts über die Arbeitsschutzgesetze hier oder über unser Sozialversicherungssystem. Und das nützen eben viele aus.“

Vor allem Firmen, die von Hotelbetreibern mit der Zimmerreinigung beauftragt werden, nützen das aus, scheint es. Mehrere hundert Fälle hat Hamburg und Leben seit Anfang 2014 vor Gericht gebracht, seit die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Bürger aus Rumänien und Bulgarien gilt. Frauen aus diesen Ländern sind der Statistik nach besonders betroffen; die Firmenbetreiber sind gewitzt. Beliebt ist die Methode, formal zwar den für die Reinigungsbranche vorgeschriebenen Mindestlohn von 9,55Euro zu bezahlen, die Menschen aber das Drei- oder Vierfache der offiziellen Stundenzahl arbeiten zu lassen. Oft wird eine Zimmerzahl festgesetzt, die geschafft werden muss – aber der Zeitplan ist völlig unrealistisch. Neun Zimmer binnen 60 Minuten, inklusive Müll wegbringen, Bad putzen, Bettwäsche wechseln, Staubsaugen. Wer kann das schaffen?

Deshalb stellt sich Rüdiger Winter vor die Hotels, trotz des gemeinen Regens. Er hat Flyer dabei, die über die Rechte von Arbeitnehmern aufklären sollen, auf Bulgarisch, Polnisch, Rumänisch. Und die erklären, wo man Hilfe bekommt, wenn man mitten in Deutschland von seinem Arbeitgeber menschenunwürdig behandelt wird.

Natürlich hätte es eine bessere Möglichkeit gegeben. Im vergangenen Frühjahr gab es schon einmal eine große öffentliche Diskussion um die Ausbeutung von Reinigungspersonal besonders in Hamburger Hotels. Die geknechteten Zimmermädchen waren Stadtgespräch, viele Hoteliers fürchteten um das Image der Branche. Also präsentierte man: eine Plakataktion. Arbeit und Leben, die Organisation von Rüdiger Winter, und der Hotelverband Dehoga Hamburg entwickelten zusammen ein Poster, das in den Umkleideräumen der Zimmermädchen ausgehängt werden sollte. Darauf steht, in verschiedenen Sprachen, wie hoch der Mindestlohn ist, dass man Anspruch auf 28 Tage Urlaub hat und Überstunden bezahlt werden müssen.

Es gab dann wieder eine Menge Schlagzeilen in den Regionalzeitungen, diesmal müssen sie den Hoteliers gefallen haben. Menschen von Dehoga und Menschen aus den großen schicken Hotels der Stadt hielten das Plakat in die Kameras. Jetzt wird alles gut, nicht wahr?

Dann passierte: nichts. „Die Plakate liegen bei uns im Keller“, sagt Rüdiger Winter. „Ist langsam ein bisschen Staub drauf.“ Bei Dehoga sieht man das anders. Sie gehe davon aus, dass „etwa um die 40 Stück“ ausgehängt wurden, sagt die Geschäftsführerin Ulrike von Albedyll. „Aber natürlich sollten es mehr sein, das stimmt schon.“ Immerhin gebe es einige Hotels, die kooperativ seien und die Plakate freiwillig ausgehängt hätten, sagt Albedyll. Rüdiger Winter sagt, die wenigen kooperativen Hotels seien ja genau die, in denen das Personal ohnehin gut behandelt werde. Deshalb wird er sich in ein paar Tagen wieder hinstellen, in den Regen. Und schauen, ob ihm jemand zuhört.

Mehr Fragen als Antworten

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Der Mann ist so vom Geheimnis umgeben, dass nicht einmal über die Schreibweise seines Namens Einigkeit besteht, obwohl fast jeder Argentinier ihn schon mal gehört hat. Ein Teil der Hauptstadtpresse nennt ihn Stiuso, andere schreiben ihn mit zwei „s“, Stiusso. Und auch über den Vornamen besteht kein Konsens, manche benutzen Antonio, andere „Jaime“, was aber offenbar ein Deckname ist. Klar ist, dass Antonio „Jaime“ Stiuso die Schlüsselfigur ist in der Affäre um den mysteriösen Tod des Sonderermittlers Alberto Nisman, der sich in Argentinien zur Staatskrise ausgeweitet hat.

Stiuso arbeitete seit 1972 für den berüchtigten argentinischen Sicherheitsdienst SI, hat also Diktatur und Demokratie gedient, was für seine Wendigkeit spricht. Der Buenos Aires Herald nennt ihn einen „mythischen Masterspion“, der alle Geheimnisse der Elite kenne, weshalb die Mächtigen vor ihm zitterten. Stiuso war Operationschef des SI – bis Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ihn vor Jahreswechsel feuerte. Grund waren heftige Kontroversen über die Parallelstrukturen, die der mächtige Stiuso aufgebaut hatte.



Eine Frau hält ein Schild mit der Aufschrift 'Justicia' - Gerechtigkeit, und fordert Aufklärung im Fall des ermordeten Staatsanwalts Alberto Nisman.


Im Januar setzte der 61-Jährige sich ins Nachbarland Uruguay ab, wenige Tage vor dem Tod des Staatsanwalts Nisman, mit dem er eng zusammengearbeitet hatte bei der Aufklärung des Anschlags auf das jüdische Kulturzentrum Amia in Buenos Aires von 1994, bei dem 85 Menschen starben. Stiuso war zuständig für das Wühlen im Verborgenen, das Abhören von Telefonen und andere Drecksarbeit. Staatsanwalt Nisman arbeitete die Informationen mit 40 Mitarbeitern juristisch auf. „Jaime“ Stiuso galt als Nismans rechte Hand – oder war es umgekehrt? Aussagen der Ex-Frau Nismans, der Richterin Sandra Arroyo Salgado, lassen die Vermutung zu. Nisman war „Stiusos Mann“, das behauptet vor allem Präsidentin Kirchner: Nach ihrer Version ist der Staatsanwalt benutzt worden, um gegen ihre Regierung Front zu machen.

Am Tag nach seinem Tod hätte Nisman für die Regierung peinliche Rechercheergebnisse im Fall Amia vor dem Kongress präsentieren wollen. Nisman wollte Kirchner, Außenminister Timerman und Ex-Präsident Carlos Menem anklagen, die Aufklärung des Amia-Attentats verschleppt zu haben. Die Regierung versucht nun den Eindruck zu erwecken, Stiuso habe Nisman in den Wochen zuvor mit teils falschen Informationen im Fall Amia gefüttert, um sich an Kirchner für den Rauswurf zu rächen. Nisman könnte dies in letzter Minute gemerkt haben, sich mit dem Ex-Geheimdienstchef überworfen und dies mit dem Leben bezahlt haben. Das ist in etwa die Essenz der Andeutungen der Regierung.

Am Wochenende kam heraus, dass der Schuss, der Nisman tötete, aus nur einem Zentimeter Entfernung von seinem Kopf abgefeuert worden war. Die Staatsanwaltschaft geht von Selbstmord aus, untersucht allerdings auch, ob der Sonderermittler womöglich dazu getrieben wurde. Die Waffe hatte Nisman von einem Mitarbeiter bekommen, weil er sich bedroht fühlte.

Agent Stiuso wiederum fühlt sich von der Regierung verfolgt. Er brachte seine Familie vorsichtshalber nach Uruguay, wie die spanische Zeitung El Mundo berichtete. Er und Nisman hatten Front gemacht gegen das Memorandum der Regierung Kirchner mit Iran von 2013. Darin hatten sich beide Seiten verständigt, das Amia-Attentat gemeinsam aufzuklären. Nisman und Stiuso hingegen hatten Iran klar als Drahtzieher gesehen und nur in diese Richtung ermittelt. Nisman warf Kirchner vor, die Aufklärung wirtschaftlichen Interessen geopfert zu haben. Iran hat die Attentats-Vorwürfe stets zurückgewiesen. Das Memorandum sei kein Versuch, mit Öl Straffreiheit zu kaufen, sondern die Wahrheit herauszufinden, sagte Irans Geschäftsträger in Buenos Aires am Wochenende.

Äußerst unzufrieden mit Kirchners Iran-Politik ist die jüdische Gemeinde von Buenos Aires, die endlich Aufklärung will. Aus den Wikileaks-Unterlagen geht hervor, dass ein Vertreter der Gemeinde sich auch bei der US-Botschaft beschwerte, Kirchners Regierung manipuliere den Fall Amia. Nisman unterhielt ebenfalls enge Kontakte zur US-Botschaft, er unterrichtete sie regelmäßig über die Ermittlungen. Das alles wurde der Regierung allmählich lästig. Aus Opportunismus gegenüber Iran, wie Nisman behauptete? Oder liegen ihr andere Erkenntnisse über die Hintermänner vor? Noch immer gibt es mehr Fragen als Antworten.

Angereichert wird das Mysterium nun noch durch die Flucht des Journalisten Damian Pachter aus Argentinien. Der Reporter, der für den Buenos Aires Herald arbeitete, hatte als erster via Twitter den Tod des Staatsanwalts gemeldet. Weil er nach eigenen Angaben um sein Leben fürchtet und sich von der argentinischen Regierung verfolgt fühlt, ist er Hals über Kopf in seine zweite Heimat Israel getürmt, wo er am Sonntagabend ankam. Von dort aus ließ er wissen, dass er erst zurückkehren werde, wenn er sich nicht mehr bedroht fühle. „Ich denke nicht, dass das unter dieser Regierung geschehen wird“, sagte er.

In einem teils sehr geheimnisvoll gehaltenen Beitrag für die Zeitung Haaretz schildert Pachter die Umstände seiner Flucht, die ihm von einer vertrauenswürdigen Quelle empfohlen worden sei. Er berichtet von der ersten geheimen Information über Nismans Tod und den anschließenden Versuchen der Regierung Kirchner, ihn unter Druck zu setzen. Sein Telefon sei abgehört worden, und ein Agent habe ihn verfolgt. Details über seine Bedrohung gab er nicht preis, kündigte aber an, dass er zu gegebener Zeit Beweise vorlegen werde. Er habe immer noch nicht alles durchschaut, was ihm widerfahren sei, schreibt er.

Der Freund deines Feindes

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Lizzie Doron ist bekannt geworden durch autobiografische Romane, in denen sie ihr Leben als Kind einer Holocaustüberlebenden in Israel mit viel schwarzem Humor literarisch gestaltet. Ihre Szenen aus dem Leben der Zweiten Generation finden sich in israelischen Schulbüchern und sind in mehrere Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint ihr neues Buch „Who the Fuck Is Kafka“ – und zwar ausschließlich auf Deutsch. Darin beschreibt die israelische Autorin Innenansichten des israelischpalästinensischen Verhältnisses und den mühsamen Aufbau einer persönlichen Freundschaft.



Die Sperranlage zwischen Israel und Palästina ist nur ein Symbol für den seit Jahren währenden Konflikt zwischen den beiden Ländern. In ihrem Buch "Who the Fuck Is Kafka" erzählt die israelische Autorin Lizzi Doron von ihrer Freundschaft zu einem Palästinenser.

SZ: Was hat Sie veranlasst, in Ihrem neuen Buch einen Palästinenser zum Protagonisten zu machen?
Lizzie Doron: Ich habe in der Vergangenheit immer meine Geschichte in den Mittelpunkt gestellt und wollte nun die des „Anderen“ erzählen. Auf einer Friedenskonferenz 2009 in Rom traf ich einen Palästinenser aus dem Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan. In meinem Buch nenne ich ihn Nadim. Wir lernten uns kennen und merkten, dass wir eine Menge Träume teilten. Es entstand die Idee, dass er einen Film über mich macht und ich ein Buch über ihn. Wir hatten den gemeinsamen Willen, den Menschen im Nahen Osten zu zeigen, dass Israelis und Palästinenser Freunde sein können.

War das nicht naiv?
Nein. Wir dachten, wir können jetzt etwas verändern, unsere Freunde und Familien beeinflussen, auch andere motivieren, voneinander zu lernen. Viele Menschen glaubten – wie während des Osloer Abkommens – mit uns daran, dass, wenn man miteinander redet, dem anderen zuhört und ihn versteht, auch die Politik sich verändern wird.

Spätestens aber seit dem letzten Gazakrieg ist dieser Glaube widerlegt.
Heute sehe ich, dass dieses ganze Vorhaben größenwahnsinnig war. Nadim hat seinen Film nicht gedreht. Denn er vermutet, dass sein Bruder bei der Hamas ist. Und er hat Angst vor seinem Vater, der nichts von unserem Projekt wusste. Als er mich ihm einmal vorstellte, bat er mich, Italienisch zu sprechen. Und sein Vater glaubte, ich sei Italienerin. Wir sind von Anfang an einer Illusion nachgelaufen.

Sie berichten in Ihrem Buch von vielen solchen Momenten. Ein Roman ist das nicht, eher ein mit schwarzem Humor gefärbtes Potpourri israelisch-palästinensischer Alltagsneurosen.
Keine Ahnung, wie ich diesen Text nennen soll. Erst war es ein Tagebuch mit zwei Stimmen. Ich habe jedes Treffen festgehalten, jeden Gedanken, jedes Gefühl, alles, was uns widerfuhr. Aber nach eineinhalb Jahren bekam Nadim kalte Füße. Er hatte Angst, dass die Hamas ihn für einen Kollaborateur halten würde. Und verlangte, das Geschriebene zu lesen. Da wir uns immer auf Englisch unterhielten, ließ ich den ganzen Text ins Arabische übersetzen. Als er ihn mir zurückgab, war fast alles gestrichen. Ich war ziemlich sauer. Wir einigten uns dann auf einen Monolog: Ich spräche über meinen Gefühle und Gedanken und würde mit dem Leser teilen, was mich während der Zeit unserer intensiven Beziehung bewegte. Neben der Schilderung objektiver Tatsachen steht meine subjektive Perspektive. Von da an kam ich mir wie ein Akrobat vor – zwischen zwei Bewusstseinsebenen balancierend.

Wenn Nadim so besorgt war, dass man ihn identifiziert, mussten Sie für die Geschichte nicht die Fakten verändern?
Alles in dem Buch basiert auf Fakten. Ich habe nur ein paar Details seiner Biografie verändert. Dazu benutzte ich Geschichten anderer Palästinenser – trotzdem ist es immer noch seine Geschichte. Denn die eine ähnelt der anderen. Beispielsweise in der Art, wie Palästinenser am Checkpoint behandelt werden. Oder darin, dass ihre Kinder, obgleich sie Muslime sind, in eine christliche Schule gehen – Israel hat aus Sicherheitsgründen die Schule für muslimische Kinder nicht fertigbauen lassen. Viele Palästinenser in seinem Viertel sind Akademiker und arbeiten an Hochschulen in der Westbank. Ich war überrascht, dass die Geschichte, die ich erzähle, nicht die eines Einzelnen, sondern die Geschichte einer Gemeinschaft ist.

Die aber in sich extrem gespalten ist.
Bis in die Familien. Ich habe auch mit seinen Kindern gesprochen. Der jüngste Sohn ist ein palästinensischer Friedensaktivist. Der ältere studiert. Er hasst Israelis, ist voller Wut. Er hielt es nicht einmal aus, mit uns am Tisch zu sitzen. Er hat die Erniedrigungen seiner Mutter an den Checkpoints miterlebt. Und er war mit dem Jungen befreundet, der vor einigen Monaten von jüdischen Radikalen bei lebendigem Leibe verbrannt worden ist. Aber es gibt auch sehr viele gebildete Palästinenser in Silwan, die sich sogar darum bemühten, israelische Staatsbürger zu werden. Sie wollen in einer westlich geprägten Gesellschaft leben. Das Problem sind die israelischen Behörden, die darauf spekulieren, dass diese Schicht eines Tages die Stadt verlässt. Silwan war lange ein sehr ruhiger Ort.

Ist das inzwischen anders?
Als das Buch fertig war, verschlechterte sich die Situation. Die Leute sind wütend, es gibt jede Nacht Zusammenstöße. Dennoch: Bis vor wenigen Monaten gab es dort für die Menschen die Motivation, friedlich zu leben.

Warum erscheint Ihr Buch nicht auf Hebräisch, nicht auf Arabisch, sondern auf Deutsch?
Nadim hat Angst, dass ihn jemand erkennt. Er sagt: Selbst wenn die Radikalen nicht mich ins Visier nehmen, dann jemand anderen, weil sie glauben, dass er Nadim ist. Wir witzelten: Protagonist des Buches ist halt der, den die Hamas erwischt. Aber es gibt noch einen anderen Grund: Ich hatte meinem israelischen Verleger versprochen, sechs Bücher über das Leben der „Zweiten Generation“ zu schreiben, von der Kindheit bis heute. Mittlerweile ist es sehr trendy, Bücher über den Holocaust und unsere eigene Geschichte zu schreiben. Parallel zum sechsten schrieb ich dieses Buch. Es wurde eher fertig. Und dann sagte man mir: Das könnte problematisch werden, die Leute erwarten doch etwas über den Holocaust. Die Geschichte des Anderen ist im Moment nicht sehr populär in Israel.

Wie denken Sie darüber?
Ich habe mich in dem Moment auch gefragt, ob ich ein Buch kaufen würde, das die Geschichte eines Palästinensers erzählt. Es ist schwer, in israelischen Buchhandlungen heute etwas zu finden, das sich mit den Angelegenheiten der Palästinenser befasst. Wir suchen Bücher, die uns unterhalten und nicht mit unangenehmen Geschichten konfrontieren.

Woran liegt das?
In der Psychologie nennt man das Empathie-Ermüdung. Wir sind so erschöpft von diesem Konflikt und den Geschichten der Anderen. Die Situation ist noch bedrohlicher geworden und niemand weiß, was morgen geschieht.

Sie erzählen gleichzeitig auch die Geschichte einer israelischen Linken, die an ihre Grenzen stößt und nicht mehr weiterweiß.
In den vergangenen Jahren habe ich viele Konflikte aushalten müssen. Ich war während des Schreibens starker Kritik fast aller meiner Freunde ausgesetzt. Sie warfen mir vor, ich sei blind. Unterstützt haben mich nur mein Mann und meine Kinder. Mit anderen konnte ich meine Erlebnisse und Gefühle nicht teilen. Es ist sehr schwer den israelisch-palästinensischen Konflikt wirklich zu verstehen. Ja, mein Buch schildert nicht nur die Geschichte der Palästinenser, sondern auch israelischen Alltag, den Zustand von Menschen, die keine Energie mehr haben, sich schuldig zu fühlen oder damit klarzukommen, dass sie nichts verändern können.

Und Nadim? Sie beschreiben ihn als Zerrissenen, der sich selbst im Weg steht, der eine Veränderung seines Lebens will, aber in seiner kulturellen Tradition gefangen ist.
Auch er ist sehr allein. Er sagte mir: Das einzige, was mir Halt gibt, sind die Wurzeln der Familie und der Tradition. Ich kann nicht sein wie du. Du wirst von einem Staat geschützt. Nadim fürchtet sich vor der palästinensischen Hamas. Und vor dem israelischen Geheimdienst Mossad. Ich kann ihn verstehen. Trotzdem ist es schwer für mich, seine Haltung zu akzeptieren.

Und Sie halten dennoch an dieser Freundschaft fest?
Sie ist die spannendste Erfahrung, die ich als Schriftstellerin jemals gemacht habe. Wir haben ja keine politischen Konflikte.

Aber große Differenzen in Fragen der Religion, der Kultur, der Frauenrechte...
Ja. Nadim liest beispielsweise keine Bücher. Er kennt nur den Koran. Als Schriftstellerin war ich bestürzt, dass er nicht neugierig auf meine Bücher war. Und seiner Frau ist der Tradition nach nur erlaubt, uns zu bedienen und den Tisch abzuräumen. Ich darf nicht einmal einen Kaffee allein mit ihr trinken. Das macht mich immer noch verrückt. Als Kind hörte ich meine Mutter öfter sagen, das Wichtigste sei, einem anderen eine helfende Hand zu reichen. Sie selbst hatte im KZ einmal von einem SS-Arzt Medizin bekommen. Er rettete ihr Leben. Nach dem Krieg sagte sie für ihn aus. Er kam ins Gefängnis. Sie hatte verhindert, dass er hingerichtet wurde. Die Möglichkeit, etwas für andere zu tun, sagte sie, sei das höchste Maß der Zivilisation. Und ich glaube, das Treffen mit Nadim, seine Freundschaft, ist für mich die Erfüllung dieser Worte meiner Mutter. Es sind meine Worte geworden. Dafür bin ich dankbar, auch wenn wir keinen Frieden in den Nahen Osten gebracht haben.

Wie sehen Sie heute die Chancen zu einer Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern? Einerseits bin ich pessimistischer. Ich kann keine Lösung erkennen. Das andere ist: Nadim und ich haben eine unausgesprochene Vereinbarung, einander zu helfen. Während des letzten Gazakrieges rief er bei mir an. Er wisse, dass noch mehr Raketen auf Tel Aviv abgefeuert würden. Ich solle mit meiner Familie zu ihm nach Jerusalem kommen, dort sei ich sicher. Zwei Tage später wurde auch Jerusalem beschossen. Als ich ihn anrief, sagte er mir: Ganz in der Nähe von meinem Haus ist eine Rakete eingeschlagen. Ich fragte ihn: Was wird aus uns? Und er antwortete: Ich bin sehr optimistisch – der IS wird uns beide umbringen.

Wir haben so eine Art gemeinsamen Humor. Wir beide teilen das Gefühl: Menschen können nicht Umstände ändern, die größer sind als sie selbst. Wir sind Freunde, nicht weil wir die selben Werte teilen, sondern wegen unseres Charakters. Es gibt viele Gründe, befreundet zu sein, aber besonders interessant ist es, der Freund deines Feindes zu sein.

Noch nicht mal ignorieren

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Vielleicht wäre es ja anders gekommen, wenn sich die obersten Sozialdemokraten am Montagvormittag gegenübergesessen und einander in die Augen geblickt hätten. Vielleicht hätte es dann eine Debatte gegeben, womöglich sogar einen ordentlichen Streit – schließlich hatte der Parteichef dafür am Freitagabend genügend Anlass geliefert, indem er in Dresden eine Diskussionsrunde mit Anhängern und Gegnern der Pegida-Bewegung besuchte. Damit hatte Sigmar Gabriel vor allem seine Generalsekretärin Yasmin Fahimi brüskiert, die dezidiert gegen Gespräche mit Pegida-Leuten ist und daher nach menschlichem Ermessen allen Grund gehabt hätte, den Vorsitzenden in der Telefonkonferenz des SPD-Präsidiums am Montagmorgen zur Rede zu stellen. Doch weder sie noch jemand anderes aus der Runde der Spitzengenossen griff Gabriel an. Es wurde eine Schaltkonferenz der harmlosen Art.



SPD-Chef Sigmar Gabriel, hier im Gespräch mit dem Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach (r), besuchte am Freitag eine Diskussionsrunde mit Pegida-Anhängern in Dresden. In der Partei bleibt die Aktion umstritten.


Das dürfte zum einen daran gelegen haben, dass sich solche Telefonschalten kaum zum Streiten eignen: Man weiß nicht genau, wer sich eigentlich alles eingewählt hat und mithört, außerdem wird man schnell mal missverstanden. Zum anderen war den entscheidenden Akteuren am Montagmorgen klar, was ein im Präsidium offen ausgetragener Konflikt nach sich gezogen hätte: Er wäre öffentlich geworden – und die Parteispitze hätte in der Pegida-Frage nicht nur als uneins, sondern als zerstritten dagestanden. Also hielten sich auch diejenigen zurück, die dem umtriebigen Parteichef möglicherweise ganz gern mal die Meinung gesagt hätten.

Der wiederum, so berichten es Teilnehmer der Schalte, nannte erst einmal das von ihm überlieferte Zitat falsch, er habe die Veranstaltung der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung als Privatmann besucht: Das habe er nie gesagt, sondern lediglich erklärt, er habe sich privat in der Gegend aufgehalten und dann die Veranstaltung besucht. Zudem betonte er laut Teilnehmern, wie einig er und Fahimi sich darin seien, dass man mit den Pegida-Organisatoren selbstverständlich nicht reden könne. Man sei sich aber auch einig darin, dass man die Bewegung nicht ignorieren könne, so wird Gabriel wiedergegeben. Aus der Runde kam den Schilderungen zufolge dann die Frage an Gabriel, welche Eindrücke er denn von seinem Besuch mitgenommen habe. Daraufhin habe der Parteichef sinngemäß unter anderem geantwortet, es gebe unter den Pegida-Anhängern Verschwörungstheoretiker und ähnlich zweifelhafte Zeitgenossen – aber eben auch Menschen mit sozialen Problemen, wie man sie etwa aus der Bürgersprechstunde kenne. Nach zehn bis 15 Minuten war die Telefonschalte beendet.

Aber wie gesagt, das dürfte eher dem Format sowie der Angst vor einer öffentlichen Eskalation geschuldet gewesen sein. Intern verdrehte mancher auch am Montag die Augen über Gabriels Aktion. Und Fahimi blieb bei ihrer Position. Sie lehnt Gespräche mit Pegida-Anhängern weiterhin ab – auch wenn sie zugestand, es möge durchaus Leute geben, die bei den Demonstrationen mitliefen, weil sie glaubten, ihre Probleme nicht anders artikulieren zu können. Auf die Frage aber, ob sie künftig auch Diskussionen der sächsischen Landeszentrale besuchen wolle, sagte Fahimi: „Nein.“ Sie sei für sich „zu der Entscheidung gekommen, dass ich das nicht möchte“.

Ansonsten gab es innerhalb wie außerhalb der SPD Verfechter der einen wie der anderen Position. Unterstützung bekam Gabriel etwa von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Innenminister Thomas de Maizière (beide CDU), die sich für einen Dialog mit den Pegida-Anhängern aussprachen. CSU-Chef Horst Seehofer wiederum verkündete, er halte nichts davon, „dass man sich mit den Leuten zusammensetzt“, während die Kanzlerin mitteilen ließ, sie persönlich habe nicht vor, demnächst das Gespräch mit Sympathisanten der Bewegung zu suchen.

Innerhalb der SPD dürfte Gabriels Dresdner Überraschungsbesuch eine ganz andere Debatte befördern, in der es nicht um die Pros oder Contras eines Pegida-Dialogs geht, sondern um den Vorsitzenden selbst. Lange Zeit war Gabriel als besonnener Parteichef und Wirtschaftsminister aufgetreten – doch mit der Aktion von Dresden hat er jenes Image in Erinnerung gerufen, von dem er eigentlich loskommen will: das Bild des sprunghaften Instinktpolitikers, der auch für politische Freunde unberechenbar ist und sich im Zweifel nicht groß darum schert, wem er mit einer spontan umgesetzten Idee in die Parade fährt.

Immerhin kann sich Gabriel diesmal darauf berufen, dass seine Aktion intern einigen bekannt war. Allerdings gibt es im Willy-Brandt-Haus auch Leute, nach deren Wahrnehmung es in der vergangenen Woche nicht zu jedem Zeitpunkt restlos klar war, ob Gabriel die Veranstaltung in Dresden tatsächlich besuchen würde.

Die Angst vorm Pickup-Artist

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Eigentlich will ich nur zur U-Bahn „Französische Straße“. Aber der Typ in der blauen Jacke lässt mich nicht durch. Er breitet die Arme aus, setzt zum Sprechen an, heraus kommt ein Keuchen. Der Typ ist kaum älter als 25, aber von dem Gerenne eben muss er sich doch erst mal noch erholen, seine Einkaufstüte pendelt wild am rechten Arm auf und ab. „Der sucht bestimmt irgendeine Sehenswürdigkeit“, denke ich. Schließlich sagt er: „Ich mache sowas sonst ja nie, aber ich hab dich von der anderen Straßenseite aus gesehen und dachte, wenn ich dich jetzt nicht anspreche, dann...“ Den Rest des Satzes höre ich schon gar nicht mehr. Ich sage nicht mal „nein, danke“ sondern gehe einfach weg. Denn in meinem Kopf klingelt es: „Pickup-Artist“. „Wirklich nicht?“ ruft er mir noch hinterher, aber da bin ich schon im U-Bahn-Abgang.

Pickup-Artists sind Typen, die anderen Männern in Kursen beibringen, wie man Frauen „kennenlernt“, wobei „aufreißt“ wohl die treffendere Bezeichnung ist. Sie tragen häufig absurde Fantasienamen wie „Devil“ oder irgendwas Rassig-Lateinamerikanisches, dabei ist in ihr wahrer Name von der Kategorie „Stefan“ oder „Thorsten“ und ihre Heimatstadt vermutlich irgendeine Kleinstadt in NRW. In den Pickup-Kursen erklären diese Typen dann unselbstbewussten anderen Männern für sehr viel Geld, dass Frauen eine Mischung aus Arschloch und Softie wollen und man mit der richtigen Technik jede rumbekommt. Danach werden die Schüler auf die Straße geschickt, um ihr neues Wissen an realen Opfern zu erproben – eben an Frauen wie mir, die gerade zufällig vorbeilaufen. Sie sollen üben, mit vorher einstudierten Maschen andere anzusprechen und dabei im besten Fall die Nummer oder ein Date ergattern. Wer die Frau ins Bett bekommt, ist quasi der King of Pickup.



Schon wieder so einer! Oder?

Man könnte sagen, das Ganze sei ein Spiel, aber Spiele sind nun mal nur lustig, wenn beide Parteien wissen, dass gespielt wird. Die Pickup-Geschichte läuft hingegen einseitig, da die Männer den Frauen vorgaukeln, aufrichtig interessiert zu sein. Und deshalb sind Pickup-Artists, um es kurz zu machen, eigentlich ziemliche Würstchen, an die man keinen weiteren Gedanken verschwenden sollte. Und trotzdem tue ich es.

Weil ich, während ich kurz darauf in der U-Bahn nach Hause sitze, auf einmal denke: „Was, wenn du dem Typen gerade Unrecht getan hast?“ Wenn das tatsächlich ein Stefan aus Castrop-Rauxel war, der sich nicht in seiner Freizeit als „Flirt-Coach“ bezeichnet, sondern vielleicht in Berlin Politikwissenschaft studiert? Nicht, dass ich dann mit ihm hätte Kaffee trinken wollen, aber - hat mich dieses ganze Gefasel über Pickup-Artists dann paranoid gemacht? Habe ich vielleicht ein komisches Männerbild entwickelt, nur weil es Typen auf der Welt gibt, die ein komisches Frauenbild haben?

„Flirten ist doch immer eine Masche, warum findest du das bei Pickup-Artists dann besonders schlimm? Du kannst ja immer noch 'nein' sagen und weggehen?“, sagt ein Freund, dem ich später von meinem Gedankengang erzähle. Natürlich hat er damit, ganz rational betrachtet, recht. Aber gefühlsmäßig nicht. Denn ein Pickup-Artist ist für mich niemand, der nach dem Trial-and-Error-Prinzip mal eben eine Frau angräbt, sondern jemand, der dabei sehr bewusst in Kauf nimmt, auch mal zu weit zu gehen. Stichwort Julien Blanc, ein mittlerweile weltweit bekannter Pickup-Guru, der in seinen Videos auch mal Frauen an seinen Schritt presst, vortäuscht zu würgen und indirekt zu Vergewaltigungen aufruft. Und auch andere Videos von Pickup-Artists, die mit versteckter Kamera filmen, wie sie einer Frau einen Kuss abringen oder weibliche Körper auf einer Skala von eins bis zehn einordnen, haben nun mal leider für sämtliche Jungs auf der Welt, die ganz normal Frauen ansprechen wollen, die Preise versaut. Zumindest bei mir. 


Das Kompliment am Stachus schmeichelt mir - bis eine Freundin erzählt, dass sie dort auch angesprochen wurde.


Auch wenn es das mein paranoides Verhalten einigermaßen erklärt – unfair ist es natürlich trotzdem, jeden Mann, der eine Frau auf der Straße anspricht, direkt auf eine Vergewaltiger-Ebene mit Julien Blanc zu stellen. Zwar sind angeblich im deutschen Pickup-Forum 100.000 Männer registriert, die meisten von denen sind aber vermutlich harmlose Jungs, die sich bei anderen ein wenig Selbstbewusstsein abgucken wollen. Die teuren Seminare beim Flirtprofi, die zwischen 1500 und 4000 Euro kosten, können sich vermutlich nur wenige von denen leisten.

Andererseits ist die Situation in Berlin nicht das erste Mal, dass ich auf einen Pickup-Artist stoße. Bereits am Münchner Stachus wurde ich von einem angesprochen, der mir erzählte, er würde Frauen ja nie ansprechen, aber ich sei ihm gerade aufgefallen und er habe mich unbedingt fragen müssen, ob wir Kaffee trinken wollen. Damals sagte ich nein und ging weiter, fühlte mich aber geschmeichelt. Bis mir wenige Tage später eine Freundin erzählte, mit der gleichen Masche am gleichen Ort angesprochen worden zu sein und dass dort nun mal momentan wieder Pickup-Artists unterwegs seien. Danach habe ich mich geschämt, diese standardisierte Anmache nicht als solche erkannt zu haben. Das Kompliment war wertlos geworden.

In den folgenden Tagen denke ich noch mehrmals über den Typen in der blauen Jacke nach. Ich beschließe, wenn mich das nächste Mal jemand auf der Straße anspricht, freundlicher zu sein. Die Straßenanmache wieder zu rehabilitieren und zumindest nicht gleich das schlimmste zu denken. Ein Kompliment wieder als solches anzunehmen, positiver zu werden.

Und dann stehe ich, einige Tage später, wieder an der Französchen Straße an einer Ampel. Ein Typ bleibt neben mir stehen und fragt nach der Uhrzeit. Ich nenne sie ihm, seine Augen fixieren dabei meine. Er fragt, ob ich von hier komme und ich erwidere, ich müsse jetzt wirklich schnell zur U-Bahn. Die Ampel wird grün, er läuft neben mir her, versucht mich weiterhin in ein Gespräch zu verwickeln. Ich sage höflich „nein danke“ und gehe zum U-Bahn-Abgang. Bevor der Empfang gleich weg ist, gebe ich in mein Browserfenster schnell „Pickup-Artist“ und „Berlin Friedrichstraße“ ein. Zahlreiche Ergebnisse ploppen auf, ein bestimmtes Hotel in der Straße wird immer wieder als Seminarort der Pickup-Artists erwähnt. Ich drehe mich um. Vom Treppenabsatz aus kann ich seine Leuchtschrift sehen.

Warum Obama „out of fucks“ ist

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Und plötzlich, so heißt es, ist Barack Obama wieder cool. Der Szene währen seiner Rede zur Lage der Nation wegen: „I have no more campaigns to run“, sagt er da. Ein paar der Republikaner giggeln und klatschen schadenfroh, wie es sich für die Oppositionspartei gehört, und der US-Präsident reicht ihnen mit einem Seitenblick nach: „I know 'cause I won both of them!“ Versenkt. Ganz locker.




So viele "Fucks" hat Obama noch übrig.

Aber eigentlich stimmt das ja nicht. Denn eigentlich sagt er das ja alles nicht locker. Wenn wir ehrlich sind, hat die Art, wie der US-Präsident den ersten Satz nachhallen lässt, sogar etwas tendenziell Steifes. Bisschen bockig vielleicht sogar. Wie er den Worten hinterher sieht, das Profil in die Kamera gedreht, den Blick an einen nicht vorhandenen Horizont geheftet, als vergewissere er sich eben schnell noch, dass die erschütternde Wahrheit, die er eben in die Welt entlassen hat, dort auch sicher ankommt: So cool, wie alle jetzt behaupten, ist das gar nicht. Es wirkt einstudiert. Gelernt. Nicht gelebt. Und wer auf Youtube ein paar Mal hin- und herspult, glaubt auch nicht mehr, dass der Witz, mit dem er die Republikanern auskontert, wirklich spontan war.

https://www.youtube.com/watch?v=4fI5-BZyzRU
 
Andererseits ist es auch nichts Neues mehr, dass in den US-Präsident mindestens eine Prise mehr Coolness projiziert wird, als da tatsächlich ist (Andrian Kreye vom SZ-Feuilleton hat das hier zum Beispiel mal analysiert).
 
Nun also „zero fucks“.
 
Seit der Rede ist die Redewendung im Kosmos Politik angekommen. Kommentatoren und das Internet sehen den Präsidenten nämlich in einem neuen Karriereabschnitt: dem einer sehr souveränen Wurschtigkeit gegenüber vielem, was die Politik so unbeliebt macht - wahltaktische Spielchen zum Beispiel, übertriebene Versprechungen, um wiedergewählt zu werden, oder Postengeschacher. Alles nicht mehr sein Thema. No more campaigns to run. Obama sei jetzt in der „zero fucks phase“, schrieb Megan Garber auf theatlantic.com daraufhin. Und medium.com titelte: „Barack Obama is out of fucks“.
 
Beides bezieht sich auf ein Mem, das schon seit ein paar Jahren im Netz verbreitet ist. „Zero fucks given“ heißt so viel wie „Geht mir grandios am Arsch vorbei“ und signalisiert dabei die minimal-brachiale Gleichgültigkeit, die auch ein guter Indie-, Rap- oder Protest-Song haben könnte. Benutzt wird es zum Beispiel so:

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Oder auch so:

[plugin imagelink link=" http://www.quickmeme.com/img/99/99a9b3dc7e96c108daf2966feb83a6d943c32e3fff995e0c684c4520fab7a8bc.jpg" imagesrc=" http://www.quickmeme.com/img/99/99a9b3dc7e96c108daf2966feb83a6d943c32e3fff995e0c684c4520fab7a8bc.jpg"]
 
Und seit Neuestem eben auch so:

[plugin imagelink link="http://i.imgur.com/Noqw0D8.jpg" imagesrc="http://i.imgur.com/Noqw0D8.jpg"]
 
Was so weit alles bekannt ist. Allerdings geht Megan Garbers Vorschlag noch weiter. Sie regt an, mit dem Begriff „zero fucks phase“ den Ausdruck „lame duck“ zu ersetzen – bislang das Schimpfwort der Wahl, wenn man jemanden charakterisieren wollte, der in seinem Job nicht mehr sehr hoch zielt, weil er eh bald weg ist.
 
Der Ausdruck, so die Atlantic-Autorin, sei als Bild unverständlich, träfe vor allem aber oft nicht zu. Und in der Tat: Wer sich nicht mehr um das tägliche Geplänkel kümmern muss, wer sich mit Blick auf die Spielregeln frei dazu entschließen kann, sie auch mal zu ignorieren und ein par Felder zu überspringen, der wird dabei nicht zwangsläufig zum Underperformer (was die Lame-Duck-Metapher ja unterstellt). Er kann im Gegenteil sogar sehr viel freier und damit wirkmächtiger agieren. Theoretisch jedenfalls. Und falls er doch zum trägen Aussitzer wird, passt die neue Phrase ja auch noch - wie in: "Ich weiß, ihr erwartet noch ein politisches Programm, but I don't give a single fuck!" Sprachlich ist das schon sehr viel zweckdienlicher. Gut also.
 
Schlecht hingegen: Eine deutsche Übersetzung muss, wie so oft, vermutlich scheitern. Angela Merkel erreicht bestimmt bald die „Geht-mir-am-Arsch-vorbei-Phase“? Horst Seehofer ist jüngst in die „Geb’-ich-nen-Fick-drauf-Ära“ eingetreten? Peer Steinbrück blickt seit ein paar Monaten mit „Interessiert-mich-nen-feuchten-Furz-Attitüde“ auf die Politik? Irgendwie entwickelt das nicht denselben Wumms. Dann wahrscheinlich doch lieber ein verklärter Obama – komplett out of fucks. Out of flying fucks womöglich sogar.

Was kann ich gegen einen Kater tun?

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Der Morgen nach einer Party: Müde halte ich meinen dröhnenden Kopf, kneife die Augen zu und bereue sämtliche Shots, Gläser Rotwein und Flaschen Bier der vergangenen Nacht. Und ich frage mich: „Warum hab ich nur so viel durcheinander getrunken? Warum Beck’s, davon kriege ich doch wirklich jedes Mal Kopfweh! Und warum zur Hölle wurde noch nichts erfunden, was dieses Elend einfach verhindert?“
Verkatert sein ist schrecklich: Kopfschmerzen, Durst, Müdigkeit, Übelkeit und Lichtempfindlichkeit sind die häufigsten Katersymptome. Manche Menschen, so wie ich, glauben, dass ein bestimmtes Getränk schuld daran ist. Aber kann das überhaupt sein? Und was kann man tun, um den Kater zu vermeiden?

Um das zu klären, rufe ich Manfred Singer an. Der Professor für Innere Medizin und Vorstandsvorsitzende der Stiftung für Biomedizinische Alkoholforschung nimmt mir gleich die Hoffnung auf eine einfache Lösung. Er sagt, dieses Gebiet sei hochkomplex und bisher nicht besonders gut erforscht.

Über die Ursachen der Katerbeschwerden sind sich die Mediziner nicht einig. Ein wichtiger Faktor ist auf jeden Fall, dass Alkohol zur Dehydratation führt: „Der Körper verliert erheblich an Wasser, obwohl man viel trinkt“, sagt Singer. Als weitere mögliche Ursache nennt er Acetaldehyd. Diese toxische Substanz entsteht beim Abbau von Ethanol (Alkohol) im Körper und soll ebenfalls für die Kopfschmerzen verantwortlich sein.
Ein dritter möglicher Auslöser sind sogenannte Fusel- oder Begleitalkohole, die als Zusatzprodukt bei der alkoholischen Gärung entstehen.  Sie werden in der Leber ebenfalls zu toxischen Stoffwechselprodukten abgebaut. „Je reiner der Alkohol, desto besser scheint man ihn zu vertragen“, sagt Prof. Florian Eyer, Leiter der Abteilung für Klinische Toxikologie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität in München. Die Reinheit hängt davon ab, woraus der Alkohol gewonnen und wie sorgfältig er destilliert wurde. Als rein gilt beispielsweise mehrfach gefilterter Wodka.

Neben Alkohol beeinflussen auch noch Zucker, Säuren und andere chemische Stoffe, wie der Körper ein bestimmtes Getränk verträgt: „In Bier sind mehr als 2000 verschiedene Substanzen, in Wein um die 1000“, sagt Singer. Die chemischen Inhaltsstoffe sind von Getränk zu Getränk unterschiedlich.


Wie sensibel ein Mensch auf diese Faktoren reagiert, ist individuell verschieden. „Es gibt Leute, die exzessiv trinken und hinterher kaum oder keinerlei Beschwerden haben. Sie neigen eher zu Alkoholismus. Der Kater ist in gewisser Weise also auch ein Schutz“, sagt Eyer.


Zu den gängigen Katererklärungs- und -vermeidungsversuchen sagen die beiden Mediziner: Wissenschaftlich belegt ist davon so gut wie nichts. Vieles klingt aber nach momentanem Wissensstand recht plausibel.

Zum Beispiel halten Singer und Eyer meine „Beck’s“-Unverträglichkeit durchaus für möglich. Denn Bier ist nicht gleich Bier – obwohl die Grundstoffe die gleichen sind, ist die genaue chemische Zusammensetzung bei jeder Marke unterschiedlich. Auf irgendeinen Stoff in diesem Bier reagiere ich offenbar besonders sensibel. Welcher Stoff das genau ist und warum er bei mir Kopfschmerzen auslöst, können sie mir nicht sagen.

Sie halten es auch für denkbar, dass Durcheinandertrinken einen schlimmeren Kater verursacht, als wenn man sich den ganzen Abend an nur ein Getränk hält: Je mehr verschiedene alkoholische Getränke ich trinke, desto größer wird der Mix aus Fuselalkoholen und Begleitsubstanzen, die ich damit aufnehme. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich etwas davon nicht vertrage, wird also höher.

Was tatsächlich helfen kann, einen Kater zu vermeiden: vor dem Trinken reichhaltig, am besten fettig essen. „Der Alkohol geht dann langsamer ins Blut und der Alkoholspiegel steigt insgesamt nicht so hoch“, sagt Eyer. Denn der Körper ist permanent dabei, den aufgenommenen Alkohol wieder abzubauen. Deswegen spielt der Faktor Zeit eine Rolle. Je langsamer der Alkohol aufgenommen wird, desto weniger spürt man die Folgen.

Außerdem keine dumme Idee: nach jedem alkoholischen Getränk ein großes Glas Wasser trinken. Das wirkt der durch den Alkohol ausgelösten Dehydratation entgegen. Außerdem mindert es den Durst – auch auf alkoholische Getränke.

Von der Einnahme von Kopfwehtabletten oder speziellen Anti-Kater-Mitteln vor dem Schlafen rät Eyer ab: „Aus medizinischer Sicht ist das nicht zu empfehlen. Grundsätzlich sollte man Medikamente nur bei entsprechendem Krankheitsbild einnehmen, sie haben ja auch Nebenwirkungen. Ein Kater ist sicher keine Indikation für die Einnahme eines Medikaments wie Aspirin.“ Und die Wirkung von Anti-Kater-Pillen sei wissenschaftlich nicht belegt. „Teilweise sind das nur Vitamin- oder Spurenelement-Präparate.“

Gleiches gilt für das sogenannte „Konterbier“: Der Glaube an seine Wirkung beruhe auf der Annahme, dass der Kater auch eine Entzugssymptomatik darstellt, die durch die erneute Zufuhr von Alkohol gelindert wird. Diese Ansicht ist aber wissenschaftlich nicht belegt. Eine weitere Erklärung ist laut Eyer, dass dem Körper wieder verlorene Flüssigkeit zugefügt wird. Diesen Zweck erfüllen aber nichtalkoholische Getränke viel besser. „Letzten Endes verzögert das Konterbier den Kater nur um einige Zeit, weil der Alkoholspiegel wieder erhöht wird“, sagt Eyer.

Meine Recherche hat mir gezeigt: Ein einfaches Mittel gegen Kater gibt es (noch) nicht. Professor Singer hat aber noch einen naheliegenden Rat für mich: „Wissen Sie, was der sicherste Weg ist, keinen Kater zu bekommen? Ganz einfach gar keinen Alkohol trinken.“

Wenn Franziska, 22, das nächste mal feiern geht, will sie ausschließlich Wodka-O und dazu viel Wasser trinken – und ist schon gespannt auf den Tag danach.


Fünf Tipps gegen Kater:

1. Auf Sekt oder Glühwein lieber verzichten. Zucker- und kohlensäurehaltige Getränke treiben den Alkoholspiegel im Blut besonders schnell in die Höhe und verursachen deswegen eher einen Kater.

2. Mit einem fettigen Essen für eine gute Grundlage sorgen: Dadurch geht der Alkohol langsamer ins Blut und der Körper hat mehr Zeit, ihn wieder abzubauen.

3. Nach jedem alkoholischen Getränk ein Glas Wasser trinken.

4. Nicht versuchen, Alkohol mit Alkohol zu heilen – das Konterbier zögert den Kater nur hinaus.

5. Und, am einfachsten: in Maßen trinken!

Tagesblog - 28. Januar 2015

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17:43 Uhr:
Ich muss jetzt leider dringend los und kann euch den letzten Text für heute nicht mehr persönlich ankündigen. Nur so viel:
- Er ist von Jan.
- Es geht um Gin Tonic.
- Jan ist genervt. Sehr genervt.

Hier spricht Jan, kleine Planänderung nachdem Simon weg war: Wir servieren euch den Gin erst morgen. Heute gibt's eine feine Tour durch die Siegesstraße in Schwabing! 

In diesem Sinne: Gimme Gin, Babe!

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[plugin imagelink link="http://i.giphy.com/aqzwlK82dWf8k.gif" imagesrc="http://i.giphy.com/aqzwlK82dWf8k.gif"]

Danke euch für viele nette Kommentare. Hat mir Spaß gemacht mit euch. Bis morgen.

++++

17:08 Uhr:
Verdammt! In meiner Konferenz-Chronolgie in den Kommentaren vergaß ich, dass mich noch eine weitere erwartet. Die habe ich jetzt hinter mir - und damit wohl den Redaktionsrekord gebrochen (ich hoffe, dass er eine Weile bestehen bleibt; mein Interesse, ihn weiter in die Höhe zu schrauben, ist äußerst gering).

Mein Tagesprogramm liest sich dann also so:
1. Konferenz um 08:40 Uhr: SZ.de-Morgen-Konferenz
2. Konferenz um 10:00 Uhr: jetzt.de-Vormittags-Konferenz
3. Konferenz um 12:00 Uhr: langfristige Themenplanung im SZ-Digitalressort (da arbeite ich, wenn ich nicht bei jetzt.de bin)
4. Konferenz um 14:30 Uhr: SZ.de-Wochenkonferenz mit Updates zu einem sehr langfristigen Projekt, von dem in ca. einem Monat mehr zu hören sein wird.
5. Konferenz um 16:00 Uhr: jetzt.de-Printmagazin-Themen-Konferenz für das April-Heft

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++++

15:32 Uhr:
Mein persönliches Bild des Tages:

[plugin imagelink link="https://www.facebook.com/jboehmermann/photos/a.755733837792475.1073741825.110495738982958/922374914461699/" imagesrc="https://fbcdn-sphotos-d-a.akamaihd.net/hphotos-ak-xap1/v/t1.0-9/p720x720/10371945_922374914461699_6553458841451277835_n.jpg?oh=a072d47cbd7d6d7528d5957a0ff7f02a&oe=555B6520&__gda__=1433351038_611a765af5d79377978c27d63dc588fd"]

Man muss Jan Böhmermann ja nicht super finden (ich finde ihn super), aber diese Reaktion ist echt groß. Den Hintergrund habe ich Anfang der Woche in meinem Freizeitprojekt, dem Social Media Watchblog, chronolgisch dokumentiert.

Aus zeitökonomischen Gründen kopiere ich das mal hier rein.

1. Jan Böhmermann verkündet auf Twitter, dass er für einen Tweet mit dem berühmten Rostock-Lichtenhagen-Foto mit Hitlergruß eine Abmahnung über 1000 Euro erhalten habe. Der Fotojournalist Sascha Rheker findet das doof.

2. "Hobbyjurist" Jan Böhmermann stellt auf Facebook acht Fragen zum Urheberrecht und lässt wenig Zweifel, dass er die Rechtslage für reformbedürftig hält.

3. Dirk von Gehlen greift Böhmermanns Rant auf und wünscht sich eine konstruktive Debatte über die Neugestaltung des Urheberrechts.

4. Leonhard Dobusch kommentiert den Streit bei Netzpolitik und schlägt eine Lösung vor.

5. Sebastian Heiser von der Taz schaltet sich bei Twitter in die Diskussion ein, woraufhin Böhmernmann kontert: "Gegenvorschlag: Für jeden Tweet, der es honorarfrei in eine kommerzielle Publikation schafft, wird gemahnt. Ja?" Die Erfolgsaussichten sind allerdings gering, da Tweets wohl nicht urheberrechtlich geschützt sind.

Und jetzt reagiert Jan Böhmermann eben mit diesem Facebook-Post.
I like!

++++

14:00 Uhr:
Bim bam, 14 Uhr! Zeit für einen neuen Text. Und zwar für ein Interview mit der wunderbaren Julia Jentsch. Morgen kommt ihr neuer Film ins Kino, heute erklärt sie uns in der TV-Kolumne, was sie am liebsten im Fernsehen oder Kino sieht. Und gibt einen Filmtipp (einen ziemlich guten, finde ich übrigens).

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/591292/Was-schaust-du-so-Julia-Jentsch" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/si/simon-hurtz/homepage/cover/1033909.jpg"]

Ich muss jetzt leider in die nächste Konferenz (insgesamt vier Stück heute), deshalb müsst ihr euch eine Weile alleine unterhalten. Aber das könnt ihr ja ganz gut. Viel Spaß dabei und bis später.

++++

13:50 Uhr:
Woah, gerade sind 31 Rollen noch nicht entwickelter Filme aufgetaucht, die ein Soldat während des Zweiten Weltkriegs gemacht hatte. Auch nach 70 Jahren sind sie noch gut erhalten. Wichtiges Zeitdokument:

[plugin imagelink link="http://petapixel.com/2015/01/16/31-rolls-undeveloped-film-soldier-wwii-discovered-processed/" imagesrc="http://petapixel.com/assets/uploads/2015/01/Screen-Shot-2015-01-16-at-10.56.41-AM.jpg"]

++++

13:41 Uhr:
Mal was kurzes Bewegtes für zwischendurch. Der große Blizzard ist in den USA ja zum Glück ausgeblieben, sehr schöne Gifs lassen sich aber trotzdem basteln (direkter Embed funktioniert leider nicht, deshalb müsst ihr mit einem Foto-Link Vorlieb nehmen und das Gif auf der anderen Seite anschauen):

[plugin imagelink link="http://thecreatorsproject.vice.com/blog/one-gif-captures-20-inches-of-snow-fall" imagesrc="https://thecreatorsproject-images.vice.com/content-images/contentimage/no-slug/44032c8093a0130bd8306aacba398f10.jpg"]

++++

13:09 Uhr:
Nochmal zum 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung (das Thema lässt mich nicht los). Stichwort "Irgendwann ist auch mal gut, man muss doch vergessen dürfen."

Was das Kraftfuttermischwerk dazu sagt:

[plugin imagelink link="http://www.kraftfuttermischwerk.de/blogg/dieser-teil-unserer-geschichte-ist-in-seiner-abartigkeit-so-einzigartig-dass-er-gar-nicht-vergessen-werden-kann/" imagesrc="http://i.imgur.com/XmIfVkB.jpg"]

Und was Anja Reschke dazu sagt:





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11:52 Uhr:
Heute ist "Tag der langen Cliffhanger". Zumindest bei mir im Tagesblog. Um 10:57 Uhr kündige ich einen Text an, eine Stunde später geht er online. Bitte entschuldigt, ich musste noch etwas redigieren und kürzen.

Aber besser spät als nie, here you go:

Zwischen Studium und Straßenstrich
Tagsüber promoviert er, abends ist er Ansprechpartner für die Frauen auf dem Strich: Josef, 34, hat in Münster ein Streetwork-Projekt für Prostituierte gegründet.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/591291/Zwischen-Studium-und-Strassenstrich" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/ch/charlotte-haunhorst/text/regular/1033895.jpg"]

Und jetzt schnell ab zur Lunch-Konferenz (kombinierte Essensaufnahme und Themenplanung). Bis gleich.

++++

11:21 Uhr:
Harter thematischer Cut, sorry. Nach bunten Gifs, Disney-Prinzessinen und Opameyang/Omible jetzt was Ernstes. Auch wenn ich damit heute einen Tag zu spät dran bin, innerlich knabbere ich immer noch am Jahrestag der Auschwitz-Befreiung.

Gestern hatte ich tagsüber viel um die Ohren, sodass das Thema eher an mir vorbeigerauscht ist. Abends habe ich dann die Reden der Politiker im Radio gehört und die Bilder der Überlebenden bei der Gedenkfeier genommen. Das hat mich ne ganze Weile beschäftigt - und tut es noch immer.

Zwei Fotoserien, die mich sehr berührt haben:

[plugin imagelink link="http://www.buzzfeed.com/jonpremosch/beautiful-and-dramatic-portriats-of-holocaust-survivors#.iukY4YnOy" imagesrc="http://s3-ec.buzzfed.com/static/2015-01/21/14/enhanced/webdr05/enhanced-buzz-wide-21811-1421868315-8.jpg"]Buzzfeed: Beautiful portraits of Auschwitz survivors

[plugin imagelink link="http://popchassid.com/photos-holocaust-narrative/" imagesrc="http://popchassid.wpengine.netdna-cdn.com/wp-content/uploads/2013/04/MargaretBourke-camp-570x460.jpg"]PopChassid: 20 Photos, that change the Holocaust narrative

++++

10:57 Uhr:
Whaaaaat? Da geht man um 10 so in die Konferenz - neun Kommentare, null Herzen. Und kommt um 11 zurück - 14 Kommentare - VIER Herzen. Woah.

[plugin imagelink link="http://i.giphy.com/yUIktdHUIamcg.gif" imagesrc="http://i.giphy.com/yUIktdHUIamcg.gif"]

Danke euch, ich fühle mich gebauchpinselt. Auch wenn ich gar nicht weiß, womit ich das verdient habe. Vielleicht funktionieren Gifs ja doch besser als sorgfältig kuratierte und ausführlich kommentierte Leselisten. Letztere sind jedenfalls deutlich mehr Arbeit.

Jetzt muss ich mich erstmal darum kümmern, dass endlich mal neue Texte auf die Seite kommen. Soviel kann ich schon mal verraten: Es wird ein Interview. Es geht um Studenten. Und Prostituierte. Und es ist gut.

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09:57 Uhr:
Fußball fällt ebenso in meinen Kernkompetenzbereich wie Disney (s. zwei Einträge weiter unten). Also eher weniger. Trotzdem: Dieses Posting vom BVB mag ich irgendwie.

[plugin imagelink link="https://www.facebook.com/BVB/photos/a.196395950372393.49458.134904013188254/1070796712932308/" imagesrc="https://fbcdn-sphotos-f-a.akamaihd.net/hphotos-ak-xpf1/v/t1.0-9/s720x720/10941016_1070796712932308_3949854927238311566_n.jpg?oh=310d127ffea59b3054250968c70d89c5&oe=5524605B&__gda__=1433153008_72a2e2727438ddee9039d066bd4f5333"]

Und jetzt: Konferenzzzzzzzz!

++++


09:42 Uhr:
Weil alcofribas gerade meinte:

Hätte mein Vater 1984 Apple-Aktien gekauft, säße ich jetzt an einem Rechner aus purem Gold, so ungefähr habe ich die Meldungen verstanden. 
Und jetzt bin ich betrübt.

SPON hat dazu ne ganz nette Infografik gebastelt:

[plugin imagelink link="http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/apple-aktienwert-nach-rekordgewinn-a-1015232.html" imagesrc="http://cdn1.spiegel.de/images/image-804014-galleryV9-xevf.jpg"]

Aber ganz ehrlich: hätte, hätte Fahrradkette. Wenn mein Vater Bill Gates wäre, müsste ich jetzt auch nicht tagesbloggen. (Was nicht heißen soll, dass mir das keinen Spaß macht. Es gibt schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen. Deutlich schlimmere.)

++++

09:36 Uhr:
Mode, Lifestyle, Disney-Prinzessinnen. Kurzum: genau die Themen, für dich ich mich interessiere. Fast.

Trotzdem: Diese Bilder finde ich ziemlich lustig. Wie Disney-Prinzessinen mit echten Haaren aussehen würden. Sehr nette Idee.

[plugin imagelink link="http://www.tres-click.com/wie-disney-prinzessinnen-mit-realistischen-haaren-aussehen-wuerden/" imagesrc="http://www.tres-click.com/wp-content/uploads/2015/01/disney-princesses-realistic-hair-loryn-brantz-1.jpg"]Arielle, wie Disney sie sich vorstellt.

[plugin imagelink link="http://www.tres-click.com/wie-disney-prinzessinnen-mit-realistischen-haaren-aussehen-wuerden/" imagesrc="http://www.tres-click.com/wp-content/uploads/2015/01/disney-princesses-realistic-hair-loryn-brantz-24.jpg"]Arielle, wenn Wasser nass wäre.

++++

09:18 Uhr:
Was ich im nächsten Leben auf keinen Fall werden möchte: Schutzblech! Klingt zugegebenermaßen nicht wahnsinnig überraschend, aber die Menge an Schnee, Matsch, brauner Soße, Streusalz und Straßendreck, die mein armes Blech auf dem Weg hierher geschluckt hat, ist echt nicht mehr feierlich. Wi-der-lich.

Und sonst so? Apple. Ganz viel Apple. Auf der großen Konferenz wurde ewig diskutiert, ob und wie man die Rekord-Zahlen kommentieren muss. Ich sehe das ja eher so:

[plugin imagelink link="http://i.giphy.com/XuDlhFtiWXZEk.gif" imagesrc="http://i.giphy.com/XuDlhFtiWXZEk.gif"]

Aber wer fragt schon mich? Gelesen wird das Zeug jedenfalls wie blöd. Man muss nur iPhone oder iPad in die Überschrift schreiben, und schon sind Rekord-Klickzahlen garantiert. Wenn man Apple lobt, erhält man empörte Leserpost von Android-Nutzern, wenn man es wagt, Apple zu kritisieren, empfinden das die Anhänger der Apfel-Sekte als Blasphemie.

Habt ihr irgendeinen Bezug zu Apple? Oder ist euch das genauso egal wie mir?

++++

07:43 Uhr:
Wisst ihr was?

[...]

Sau blöder Cliffhanger, schon klar. Natürlich wisst ihr nicht, was. Aber deshalb sag ich's euch: Ich sollte öfter Tagesbloggen. Ist nämlich gut für meine Seelenhygiene.

Jetzt könnte ich dem einsekündigen Cliffhanger von gerade eben noch einen einstündigen Cliffhanger folgen lassen, indem ich erst in die Redaktion radle und euch aufkläre, sobald ich dort am Büro-Rechner sitze. Aber ich fürchte, ganz so spannend ist mein Gefühlsleben dann doch wieder nicht.

Vermutlich würdet ihr eher so dasitzen:

[plugin imagelink link="http://i.giphy.com/67TVUuNbJkpiM.gif" imagesrc="http://i.giphy.com/67TVUuNbJkpiM.gif"]

Als so:

[plugin imagelink link="http://i.giphy.com/ZBK3CnyR0F8fC.gif" imagesrc="http://i.giphy.com/ZBK3CnyR0F8fC.gif"]

Und deshalb sag ich's euch: Tagesbloggen macht mir zuverlässig gute Laune am Morgen, weil ich dann immer nochmal unsere Texte der vergangenen Tage lese - und das macht mir momentan echt Spaß. So ging's mir schon letzte Woche (gaaaaanz runterscrollen, bis 07:34 Uhr), so geht's mir diese Woche.

Welche Texte das diesmal genau waren, sag ich euch später. Jetzt muss ich los, sonst verpasse ich die erste Konferenz. Bis später.

Ach so, ich vergaß: guten Morgen!

„Ich war dort. Ich war so sehr dort“

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Im ehemaligen Lager Auschwitz-Birkenau ermordeten die Nazis in den Jahren 1940 bis 1945 etwa 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Juden. Sowjetische Soldaten befreiten das Lager am 27. Januar 1945. Zur zentralen Gedenkfeier kamen am Dienstag 300 hochbetagte Überlebende und viele Staatsgäste.



Überlebende tragen Kerzen über die Gleise von Auschwitz-Birkenau. Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZs gab es eine zentrale Gedenkfeier, an der auch viele Staatsgäste teilnahmen.

Die Gedenkfeier

Sie sitzen links und rechts von den Gleisen, und sie haben Kameras mitgebracht. Die Überlebenden von Auschwitz fotografieren das Tor von Birkenau, an dem vor mehr als 70 Jahren ihre Hölle begann. Über ihnen spannt sich ein riesiges Zeltdach, vor ihnen steht eine kleine Bühne. Die Erste, die sie betritt, ist Halina Birenbaum. 1929 wurde sie in Warschau geboren, ihre Kindheit fand in den Lagern von Majdanek, Auschwitz und Ravensbrück ein frühes Ende. Birenbaum sticht heraus unter den dunklen Anzügen der anwesenden Politiker. Weiß-rot-rosa gestreifter Pullover, die Haare braun gefärbt.

Sie lächelt kurz, dann beginnt sie zu sprechen: „Hier war ein bodenloser Ort der Hölle, dem ich nicht entkommen konnte. Ich erinnere mich genau. An diese widerliche Masse aus Menschen, die durchs Lager schlich, an die grauen Gesichter, die nichts hatten, das einen auch nur im Entferntesten an menschliche Züge erinnerte. Ich erinnere mich. Es war Weihnachten. Auf der einen Seite stand der Weihnachtsbaum, und auf der anderen Seite stieg der schwarze Rauch aus den Schornsteinen auf. Ich war dort. Ich war so sehr dort.“ Seit 1947 lebt Birenbaum in Israel. Die Rede, die sie hier heute auf Polnisch hält, ist keine Versöhnungsrede, es ist eine Anklage. Eine schnell gesprochene, laute Anklage. „Selbst wenn ich vergessen könnte, will ich nicht vergessen, was ich hier gesehen habe.“ Es wird das letzte Mal sein, dass man mit so vielen Überlebenden an Auschwitz erinnern könne, hieß es in den Vorbereitungen der Gedenkfeier. Einer Frau wie Halina Birenbaum geht es nicht nur um Erinnerung. Es geht ihr um die Gegenwart, die ihr seit ihrer Kindheit unerträglich geworden ist: „Ich rieche Auschwitz jede Nacht.“

Besuch im Lager

Am Sonntag vor der Gedenkfeier drängeln sich in Auschwitz die Kamerateams. Sie filmen den Stacheldrahtzaun. Sie zeichnen Kommentare vor den Baracken auf. Sie bitten eine Überlebende, durch das „Arbeit macht frei“-Tor zu gehen. Und im Obergeschoss von Block 5 steht ein gründlich ausgeleuchteter kleiner Mann und schweigt. Kurz hebt er die Schultern. Die Fernseh-Reporterin hat die Frage extra laut und extra deutlich gestellt. „Was fühlen Sie, jetzt wo Sie wieder nach Auschwitz kommen?“ Er steht vor ihr, gut eineinhalb Köpfe kleiner als sie, unter seiner Schiebermütze dichtes weißes Haar, seine Augen sind wässrig, nicht erst jetzt, sondern wahrscheinlich schon seit Jahren. Er antwortet nicht auf die Frage, sondern zeigt hinter sich: „Hier liegen die Koffer.“ Es sind die Koffer, die die Menschen in den Viehwaggons mit nach Auschwitz schleppten. Die ihnen an der Rampe in Birkenau abgenommen wurden und deren Inhalt von den Nazis sortiert wurde. Bürstenhaufen, Kleidungshaufen, Geschirrhaufen, Brillenhaufen, Schuhcremehaufen. Auch er kam vor mehr als 70 Jahren mit so einem schwarzen Pappkoffer an diesem Ort an.

Für seine Auschwitz-Dokumentation hat sich das französische Fernseh-Team das Arrangement „Überlebender vor Kofferhaufen“ ausgesucht. Aber der Überlebende spricht nicht. Er beginnt quer durch den Raum zu schlurfen. Die Reporterin versucht ihn mit einem leichten Stoß vor die Hüfte zu stoppen, er droht in den Kameramann hineinzulaufen, die Tonfrau und der Praktikant, der das Stativ trägt, müssen ausweichen. Er bleibt vor einer Vitrine mit Babykleidung stehen. Er sagt: „Das hier ist die Kleidung der Kinder. Sie haben sie umgebracht.“ Und die Reporterin wiederholt ihre Frage: „Was fühlen Sie?“ Ganz kurz lächelt er und schüttelt den Kopf. „Da drüben sind die Schuhe“, sagt er und zeigt auf das andere Ende des Raumes. Was soll er auch sagen? Was kann er sagen, das mehr erklären würde als diese angehäuften Lebensenden? Was könnte ein stärkeres Bild für die Morde von Auschwitz sein als die Massen von Nickelbrillen, Sommersandalen und Thermosflaschen, die hier im Museum aufbewahrt sind, und die all diejenigen sprechen lassen, die nicht mehr sprechen können. „Sie sind ein Überlebender“, versucht es die Reporterin ein letztes Mal, und er sagt: „Nein, ich bin ein Lebender.“

Die Touristen

1534000 Menschen haben das Museum des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz 2014 besucht. So viele wie in keinem Jahr zuvor. Drei Viertel der Besucher sind jung. Es sind Schüler, Studenten, Auszubildende. Nicht alle von ihnen sind freiwillig hier. Sie steigen aus den Reisebussen aus und sind noch mit dem beschäftigt, was junge Menschen in Reisebussen beschäftigt: Wer saß neben wem, wer hat mein Haargummi, und wo ist hier die Toilette? Auf ihren Winterjacken kleben bunte Abzeichen, die deutlich machen, zu welcher Reisegruppe sie gehören. Das ist nicht die klügste Entscheidung an einem Ort, zu dessen Ideologie es gehörte, Menschen durch bunte Abzeichen ihr Menschsein abzuerkennen. Piotr Cywiński, der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, nennt die Fahrt zum ehemaligen Vernichtungslager einen Übergangsritus: „Bevor Menschen ihr Erwachsenenleben beginnen, sollten sie tief in das Herz des Bösen gesehen haben, das Auschwitz war.“ Es dauert meist bis zur Rampe von Birkenau, bis das Kichern und das gegenseitige Fotografieren aufhört. Und bis die ersten weinen können. 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz umgebracht, steht in den Schulbüchern. Ein paar stillgelegte Bahngleise können ausreichen, um zu verstehen, was das bedeutet.

Die Vergessenen

Nur sehr wenige Auschwitz-Besucher lernen den ehemaligen deutschen Boxmeister Johann Trollmann kennen. In vielen der Baracken lenken Absperrseile den Besucherstrom, damit die Menschen beim Betreten der Räume einander nicht in die Quere kommen. Vor dem Foto von Johann Trollmann ist es still, der offizielle Rundgang durchs Museum lässt ihn aus. Trollmann hat sich in Angriffspose ablichten lassen, mit freiem Oberkörper, die bandagierten Händen schlagbereit auf Brusthöhe. 1933 erkämpfte sich Trollmann Gold im Halbschwergewicht. Am 9.Februar 1943 erschossen die Nationalsozialisten ihn im Konzentrationslager Neuengamme. Sein Meistertitel war ihm schon lange vorher aberkannt worden, denn Trollman war Sinto.

Am 8. Dezember ordnete Heinrich Himmler die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“ an. Diese „endgültige Lösung“ bedeutete für mehr als eine halbe Million Sinti und Roma aus fast ganz Europa den Tod. 23000 von ihnen wurden in Auschwitz-Birkenau umgebracht. Zu den Vertretern der Opfer, die in Auschwitz eine Kerze entzünden, gehört auch Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. „Es gibt in Deutschland keine Familie unter den Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren hat“, sagt Rose. Er erinnert daran, dass es 37 Jahre, bis 1982, dauerte, bis der Völkermord an den Sinti und Roma offiziell von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde. Weitere 30 Jahre dauerte es, bis man sich in Berlin darauf verständigen konnte, den als „Zigeuner“ Verfolgten ein Denkmal zu errichten. Im Oktober 2012 wurde im Berliner Tiergarten ein kleiner Brunnen eingeweiht, der an die lange verschwiegenen Verbrechen an den Sinti und Roma erinnert.

In Auschwitz selbst ist dem sogenannten Zigeunerlager ein eigenes Haus gewidmet. Neben dem Boxer Trollmann hängt ein Foto von Karl Heilig, das ihn in seiner Uniform als Soldat in Rommels Afrika-Korps zeigt. Am 2. August 1942 wurde er in Auschwitz getötet. Neben Heilig das Bild von Anton Reinhardt; auch er in Wehrmachtsuniform. Ihn begleiteten seine Frau und seine Kinder nach Auschwitz. Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 die verbliebenen Gefangenen befreite, hatten die Nazis das „Zigeunerlager“ bereits liquidiert. Nach dem Versuch im Mai 1944, einen bewaffneten Widerstand im Lager zu organisieren, starben am 2.August 1944 Karl Heilig und mehr als 2800 Sinti und Roma in den Gaskammern von Auschwitz.

Der sächsische Irrweg

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Stanislaw Tillich ist kein Mann großer Worte. Den Wahlkampf um das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten bestritt er 2009 mit dem schlichten Motto: „Der Sachse“. Nach den West-Regenten Kurt Biedenkopf und Georg Milbradt endlich einer von hier, so die Botschaft. Seitdem ist Tillich kaum durch kontroverse Redebeiträge aufgefallen. Jetzt spricht Tillich, und nicht nur die Kanzlerin wird sich wünschen, er hätte geschwiegen. „Der Islam gehört nicht zu Sachsen“, sagte Tillich in einem Interview mit der Zeitung Welt am Sonntag. Dieser Satz ist ihm nicht einfach so herausgerutscht. So ein Satz, wird er wissen, löst auf einer Pegida-Kundgebung Beifall aus und Unverständnis im Rest von Deutschland. Stanislaw Tillich ist Sorbe. Deren Anteil an der sächsischen Gesamtbevölkerung macht etwa 0,9 Prozent aus. Nüchtern betrachtet, hat da also der Angehörige einer Minderheit einer Weltreligion die Zugehörigkeit zu Deutschland abgesprochen. Was ist da los im Freistaat?



"Der Islam gehört nicht zu Sachsen", sagte der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich in einem Interview. Dass sich die Pegida-Bewegung in Sachsen ausbreitet, hat auch mit seinem Auftreten zu tun.

Tillich, 55, ist ein Mann, der Politik machen mag. Darüber reden mag er nicht. Als in Sachsen Schüler unvollständige Zeugnisse bekamen, weil wegen des Lehrermangels zu viel Unterricht ausgefallen war, dauerte es Wochen bis sich Tillich äußerte. Als klar war, dass Rechtsterroristen über Jahre unbehelligt in Sachsen leben konnten, sprach Tillich vom „Thüringer Trio“.

Auch in Bezug auf Pegida herrschte lange Sprachlosigkeit. Tillich weigerte sich zwar, als Redner auf deren „Montagsspaziergang“ aufzutreten. Man sah ihn aber auch auf keiner Gegenveranstaltung. Als die islamfeindlichen Proteste es schließlich in die Tagesschau geschafft hatten, lud der Ministerpräsident zu einem Bürgerforum, deren Teilnehmer ausgelost wurden. Am Ende saß da ein NPD-Kreischef aus dem Erzgebirge, der zuletzt dadurch aufgefallen war, dass er Fackelmärsche gegen das örtliche Asylbewerberheim initiierte. Muslime und Migranten sah man keine.

Die Zahl derer, die in Dresden allwöchentlich gegen eine vermeintliche Islamisierung auf die Straße gehen, ist längst zu groß, um ignoriert zu werden. Zu groß auch, um sie zu kritisieren? Am Montag hat sich Innenminister Markus Ulbig mit Pegida-Sprecherin Kathrin Oertel zusammengesetzt. Das Treffen, ließ das Innenministerium auf Twitter wissen, sei mit der Staatskanzlei „auf geeignet vertrauliche Weise“ abgestimmt gewesen. Am 7. Juni ist Oberbürgermeisterwahl in Dresden. Kandidat der CDU ist Markus Ulbig, jener Mann also, der ankündigte, eine Sondereinheit gegen straffällig gewordene Asylbewerber ins Leben rufen zu wollen. Bei 44 politisch motivierten Übergriffen auf Asylbewerberunterkünfte in Sachsen allein im Jahr 2014 ein eigenwilliger Schwerpunkt.

Ein gewisses Maß an Realitätsverweigerung hat Tradition in Sachsen. Kurt Biedenkopf ließ sich im Jahr 2000 gegenüber der Sächsischen Zeitung zur Behauptung hinreißen, die sächsische Bevölkerung sei immun gegen rechtsradikale Versuchungen – so als hätte es die Angriffe auf das Asylbewerberheim in Hoyerswerda nie gegeben. Mehr noch: So ein Satz offenbart ein politisches Selbstverständnis, in dem Debatte und Dissens nicht vorkommen. 2004 zog die NPD das erste Mal in den sächsischen Landtag ein – mit 9,2 Prozent.

Wirft man einen genauen Blick auf die sächsischen Verhältnisse, überrascht das wenig. Die CDU regiert Sachsen seit 25 Jahren. Eine Partei, deren Nachwuchs sich von fröhlichem Geschichtsrevisionismus beseelt „Junge Union Sachsen & Niederschlesien“ nennt. Eine Partei, deren Querköpfe sich 2011 zu einem sächsischen Ableger der „Aktion Linkstrend stoppen“ zusammenschlossen, hauptsächlich, um dagegen zu sein: gegen Abtreibung, gegen die Homoehe, gegen Multikulti.

Und dann ist da noch die Dresdner Staatsanwaltschaft, die nicht nur Menschen wie den Jenaer Pfarrer Lothar König wegen seiner Proteste gegen Nazi-Aufmärsche anklagte, sondern auch gegen Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, den Dresdner Grünen Johannes Lichdi, die Linken-Bundestagsabgeordneten Michael Leutert aus Chemnitz und Caren Lay aus Hoyerswerda vorging. Angesichts einer solchen Liste lässt sich schon die Frage stellen: Soll da Recht gesprochen oder der politische Gegner diskreditiert werden?

Man müsse die Menschen ernst nehmen, die bei Pegida mitlaufen – das hört man dieser Tage oft, zuletzt von SPD-Chef Sigmar Gabriel. Was aber ist mit denen, die vor Pegida weglaufen? Wie die Journalisten, die am vergangenen Mittwoch in Leipzig von Anhängern des örtlichen Ablegers der Bewegung angegriffen wurden? Oder Flüchtlinge und Migranten in Dresden, die montags das Haus nicht mehr verlassen, weil sie spüren, dass sie mit „Wir sind das Volk“ nicht gemeint sind?

Bis zur Abschaffung der Extremismusklausel Anfang 2014 mussten sich Initiativen gegen Rechtsextremismus in Deutschland per Unterschrift zum Grundgesetz bekennen. Sachsen war das einzige Land, das eine eigene Regelung auf den Weg brachte. Die sogenannte Sachsenklausel sah vor, dass alle Projektbeteiligten ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratische Grundordnung zu unterschreiben hatten, auch Referenten. Das hatte zur Folge, dass sogar Überlebende des Holocaust einer Gesinnungsprüfung unterzogen werden konnten. Es scheint, als haben sie in Sachsen etwas aus dem Blick verloren: Wer alternativen Lebensentwürfen mit Misstrauen begegnet, Akteure der Zivilgesellschaft gegen Wände laufen lässt, der kultiviert politisches Desinteresse oder fördert Radikalisierung. Der Demokratie dient er nicht.

Die Menschen, die Pegida folgen, mögen Sorgen haben. Doch statt diese zu zerstreuen, sieht Sachsens Ministerpräsident in seinem jüngsten Interview die Muslime in der Bringschuld: Deren Verbände könnten den Menschen Ängste nehmen, wenn sie deutlich machten, dass es sich bei Anschlägen um einen Missbrauch ihrer Religion handelt. Kaum drei Wochen ist es her, dass Tillich während einer Großveranstaltung zum Thema Toleranz die Bühne mit dem Sprecher der Islamischen Gemeinde in Dresden teilte. Khaldun Al Saadi verurteilte in seiner Rede die Anschläge von Paris aufs Schärfste. Wenn Reden Tillichs Schwäche ist, scheint selektives Zuhören seine Stärke zu sein.

Beim großen Toleranzkonzert am Montag sah Al Saadi sich genötigt, erneut vor die Dresdner zu treten. In fließendem Sächsisch sagte er: „Dor Islam gehört zu Sachsen genauso wie Bliemchenkaffee zur Eierschegge.“ Humor ist eine Variante mit den sächsischen Verhältnissen umzugehen.
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