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"Ich sehe mich nicht als Opfer"

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Irgendwie endeten viele Wortbeiträge an diesem Abend bei Shahaks Penis. „Berlin ist fantastisch. Würde ich auf sowas stehen, würde ich hier unbesorgt mit meinem beschnittenen Schniedel und einem Davidstern daran durch die Stadt laufen“, postete er am 5. Januar auf Facebook. Da muss man sich einige Witze gefallen lassen. „Mach mal!“ ruft einer aus dem Publikum. „Ohne den Davidstern könnte es natürlich auch ein muslimischer Schniedel sein“, gibt ein anderer zu bedenken. Shahak lacht darüber, setzt oft sogar noch einen drauf. Das ist seine Art, um mit den Dingen umzugehen, die ihm am Neujahrsmorgen in Berlin widerfahren sind. Der 26-jährige Israeli, der mit 14 nach Deutschland zog, wurde am Neujahrsmorgen in Berlin von etwa sieben Männern türkischer oder arabischer Herkunft im Berliner Bahnhof Friedrichstraße bespuckt und verprügelt. Ein klarer Fall eines antisemitischen Übergriffes, schrieben viele Medien. Shahak sagt allerdings: „Die wussten doch zunächst gar nicht, dass ich Jude bin, das sieht man mir jetzt nicht direkt an.“ Und darum geht es heute Abend in den Räumen der Neuköllner Bürgerstiftung auch hauptsächlich: um die Frage, ob Antisemitismus manchmal auch instrumentalisiert wird, um gegen andere zu hetzen – in diesem Fall gegen Muslime.



Shahak Shapira


Neben Shahak mit seinen blonden Strubbelhaaren und dem Kratzer überm Auge (kein Überbleibsel von der Neujahrsprügelei, wie er später sagt, das sei alles schon verheilt) sitzen Hannah Tzuberi, Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der FU, und Sultan Doughan, Kulturanthropologin an der Uni Berkeley, beide moderieren die Veranstaltung. Und Armin Langer, angehender Rabbiner und Mitbegründer der Salaam-Schalom-Initiative, die sich für den jüdisch-muslimischen Dialog einsetzt (unser Interview mit Armin findet ihr hier). Armins Gruppe hat heute Abend zu der Veranstaltung eingeladen, das Publikum ist bunt gemischt. Herren mit Seidenschals und Frauen mit Dutt und rotem Lippenstift sitzen neben Männern mit Antifa-Buttons an der Mütze und Frauen in schwarzen Kapuzenpullovern. Sie alle wollen wissen, was Shahak, der als Art-Director in Berlin arbeitet, genau passiert ist, viele haben darüber in den Medien gelesen. Armin bemerkt später, dass im Publikum etwa ein Drittel Muslime und ein Drittel Juden saßen, die gemeinsam diskutiert haben. Eine Konstellation, die sonst leider viel zu selten zusammenkommt. 

Shahak fragt die Gruppe, was ihr Problem mit Israel sei. Daran wird sich später alles aufhängen.


Als Shahak zu Beginn erzählen soll, was genau ihm in dieser Neujahrsnacht widerfahren ist, wirkt er ruhig, nestelt nur ab und zu an seiner Hosentasche. Von Wut keine Spur, dabei laufen die Täter noch immer frei herum. Shahak war in dieser Nacht mit Freunden in der gut gefüllten U-Bahn unterwegs, es sollte vom Halleschen Tor in Kreuzberg noch zu einer Bar im Prenzlauer Berg gehen. In der U6 beobachtete er dann, wie eine Gruppe von etwa sieben Männern „arabischer oder türkischer Herkunft“ zwischen 17 und 22 Jahren, Gesänge mit „Fuck Israel“ und „Fuck Juden“ anstimmte. Er spricht nicht von „Muslimen“, die Behauptung, dass es sich dabei, wie manchmal geschrieben wurde, um Neonazis gehandelt habe, weist er zurück: „Meines Wissens nach sind Neonazis Menschen, die Hitlers Ideologie gut fanden – da ist man als Muslim nicht so gut mit beraten, denke ich“, sagt Shahak und lacht wieder. Als zwei Männer in der Bahn die Gruppe bitten, ihre Gesänge einzustellen, werden diese aggressiv, fangen an sie zu bedrohen und bespucken. Shahak ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in den Streit involviert, trotzdem holt er sein Handy raus und filmt die Situation „Ich hatte das Gefühl, es eskaliert gleich und dann wollte ich, dass man diese Leute findet“, sagt er heute Abend. Die Gefilmten finden das nicht gut. Sie wollen, dass Shahak das Video löscht, als er sich weigert, wird er bespuckt. Am Bahnhof Friedrichstraße steigen alle aus, die Situation eskaliert. Shahak wird geschlagen, wehrt sich, irgendwann ziehen ihn seine Freunde in die U-Bahn, am Bahnsteig sieht er noch Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe auftauchen. Und irgendwo dazwischen, im Eifer des Gefechts, fragt Shahak die Gruppe, was eigentlich ihr Problem mit Israel und Juden sei, er komme von dort. Der Punkt, an dem sich alle Nachrichten in den darauffolgenden Tagen aufhängen werden.

Shahak hat von dem Vorfall eine leichte Gehirnerschütterung und blaue Flecke, am Folgetag erstattet er Anzeige. Die Polizei gibt eine Pressemeldung über einen antisemitischen Übergriff heraus. Medien greifen das Thema auf, für viele ist schnell klar, dass es sich bei den Tätern um Nazis oder Muslime handeln muss. Israelische Medien machen an dem Vorfall fest, dass es für Juden immer noch gefährlich in Europa sei, sie wieder nach Hause kommen sollten. Sogar die PEGIDA-Bewegung versucht den Vorfall für sich zu nutzen und teilt einen Artikel über Shahak auf Facebook mit der Botschaft: „Muslime fühlen sich durch PEGIDA diskriminiert und lassen es an Juden aus.“

PEGIDA versucht Shahaks Fall zu instrumentalisieren. Er schreibt ihnen, dass sie sich verpissen sollen.


Und auf all das hat Shahak keine Lust. „Ich habe den PEGIDA-Leuten dann darunter geschrieben, dass sie sich verpissen sollen. Das haben die direkt gelöscht“, erzählt Shahak und grinst wie einer, der sich über einen geglückten Streich freut. Er will sich nicht instrumentalisieren lassen und veröffentlicht auf Facebook den Post über seinen beschnittenen Schniedel und die Liebe zu Berlin. Eine Botschaft, die viele überrascht, die das Bild vom antisemitischen Berlin verstärken wollten. Die Reaktionen auf Facebook sind allerdings nahezu alle positiv – insbesondere die von Muslimen. „Ich sehe mich nicht als Opfer und ich will auch nicht, dass Leute denken, ich hätte als Jude nun Angst, in Neukölln rumzulaufen“ sagt Shahak heute Abend in Neukölln. Jemand im Publikum applaudiert, viele nicken zustimmend, auch die Muslime. Nur eine ältere Frau flüstert ärgerlich in sich hinein „Naja, wenn keiner miteinander redet, wird auch nichts besser.“

Dann meldet sich in ein junger Muslim zu Wort. Er fände es problematisch, dass ihm und anderen muslimischen Jugendlichen immer automatisch Antisemitismus vorgeworfen werden würde, wenn sie den Staat Israel kritisieren würden. Eine junge Frau erzählt von Jugendlichen, die Mitte 2014 in Kreuzberg gegen den Gaza-Krieg demonstriert haben – unwissentlich in der Nähe einer Synagoge. Ihnen sei sofort vorgeworfen worden, das jüdische Gotteshaus anzusteuern. Ein dritter ärgert sich darüber, dass auch auf der heutigen Veranstaltung, oft unbewusst, das Wort „südländisch“ als Synonym für muslimisch verwendet werde, dabei hänge das nicht zwingend zusammen. Shahak nickt, alle diskutieren. Irgendwann fragt ihn eine junge Frau aus dem Publikum: „Hast du jetzt wirklich keine Angst rauszugehen?“. Shahak antwortet: „Nein, man redet den Leuten nur gerade viel zu sehr ein, dass sie Angst vor einer sogenannten Islamisierung haben sollten. Dabei gibt es nicht mal fünf Prozent Muslime in Deutschland. Menschen, die mit einem blöden Schild rumlaufen, auf dem steht „Israelis sind Kindermörder“ oder die in einem vollen Zug „Fuck Israel“ singen – die sollten Angst haben.“ Auch wenn seine Täter noch nicht gefunden wurden - er ist sich sicher, dass das bald geschieht. Neben seinem Handy hat auch eine Überwachungskamera in der vollen Bahn alles aufgezeichnet. Und dann kommt der einzige Punkt an diesem Abend, an dem Shahak doch ein bisschen wütend wird. Die Kamera hat nämlich auch aufgezeichnet, was die anderen Menschen in der Bahn tun, als der Streit eskaliert: nichts.

Apple n'est pas Charlie

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Es war Freitagabend, die Mail ging an einen der mächtigsten Männer der Welt, und eigentlich hatten die Verfasser keine Chance. „Mon cher Tim Cook“, begannen die zwei jungen Programmierer aus Frankreich, „ohne viel Hoffnung schreiben wir Ihnen“.  Doch keine zehn Minuten später antwortete ein Mitarbeiter des Apple-Chefs: „Klasse Idee, Jungs, genauso machen wir es!“

Die beiden jungen Informatiker haben geschafft, woran viele große Firmen vor ihnen gescheitert sind: Ihre App wurde innerhalb einer Stunde in den iTunes-Store von Apple aufgenommen, normalerweise dauert dieser Vorgang rund zehn Tage. Sie hatten Tim Cook gebeten, eine Ausnahme zu machen, denn im Unterschied zu anderen Entwicklern wollen sie mit ihrer Arbeit kein Geld verdienen, und in einer Woche wäre es längst zu spät für ihre App gewesen: Sie heißt schlicht „Je suis Charlie“, ist kostenlos für iOS und Android erhältlich und dient genau einem Zweck:

Because „Je suis Charlie” has become the symbol of freedom of speech whatever your beliefs, your country and your opinions, download the „I am Charlie” app and simply state where you stand on today's world map.


We will show we stand united together across the world
„We are all CHARLIE“
[plugin imagelink link="https://itunes.apple.com/us/app/id957141390?mt=8" imagesrc="http://rack.2.mshcdn.com/media/ZgkyMDE1LzAxLzEyLzBhL2plc3VpZGNoYXJsLmNlYmQ4LmpwZwpwCXRodW1iCTEyMDB4OTYwMD4/8c768f6e/d87/je-suid-charlie-app.jpg"]Die "Je suis Charlie"-App auf dem iPhone


Eine schöne Geschichte - mit fadem Beigeschmack

Man kann geteilter Meinung sein, ob man sich kollektiv mit Charlie Hebdo solidarisieren muss, und man kann darüber streiten, ob der Satz „Je suis Charlie“ die gelungenste Form der Anteilnahme ist. Die Geschichte der französischen Entwickler ist trotzdem schön. 18 Stunden haben die beiden ununterbrochen programmiert, so sagen sie, nachdem sie die Antwort aus Palo Alto bekommen hatten, bis am Samstag endlich die erste Version der App fertig war. 89.000 Menschen weltweit sollen sich bis gestern auf der Je-suis-Charlie-Karte eingetragen und so ein Zeichen für Meinungsfreiheit gesetzt haben.

Soweit der schöne Teil der Geschichte. Der unschöne Teil beginnt, wo Apple ins Spiel kommt. Natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, dass die „Je suis Charlie“-App in Rekordzeit in den iTunes-Store aufgenommen wurde. Allerdings wundert einen das ziemlich, wenn man genauer betrachtet, wie es Apple sonst so mit der Freiheit der Rede und des Ausdrucks hält.

Während eine App, die den ermordeten Redaktionsmitgliedern von Charlie Hebdo kondoliert, statt zehn Tagen nur eine Stunde warten muss, hätte eine App von Charlie Hebdo selbst wohl jahrelang warten können, und wäre trotzdem nicht von Apple vertrieben worden. Diesen Vorwurf macht jedenfalls der amerikanische Cartoonist Mark Fiore gegenüber ReadWrite: „What makes my skin crawl is that most of the stuff Charlie Hebdo does, Apple wouldn't approve.“

Doppelmoral im Silicon Valley

Er selbst habe 2009 versucht, eine App mit seinen – im Vergleich zum bissigen, bisweilen bösartigen Spott von Charlie Hebdo – völlig harmlosen Zeichnungen im Apple Store anzubieten und sei auf Granit gestoßen: Seine App enthalte „obszöne, pornographische oder verleumderische Inhalte“. Erst, als Fiore ein Jahr später den Pulitzer Preis gewann und Apples Ablehnung öffentlich diskutiert wurde, lenkte Tim Cook ein und erlaubte den Verkauf.

Diese Doppelmoral steht stellvertretend für viele Unternehmen im Silicon Valley. Mark Zuckerberg gefällt sich selbst als Verfechter der Pressefreiheit und schreibt mit einer gehörigen Portion Pathos von Facebook als Ort der freien Meinungsäußerung – während seine Firma Instagram gleichzeitig jeden nackten Nippel zensiert, Postings syrischer Widerstandsgruppen löscht, russische Oppositionelle bevormundet, sich bereitwillig dem Regime in China andient und tibetische Freiheitskämpfer von Facebook verbannt und offensichtlich auf gute Beziehungen mit dem türkischen Premier Erdogan erpicht ist.







A photo posted by @campsucks on Jan 11, 2015 at 3:15pm PST




#Freethenipple: Lena Dunham protestiert gegen Instagrams Zensur - auf Instagram

Twitter, dessen französischen Account zwischenzeitlich ein #JeSuisCharlie-Banner zierte, ist nicht unbedingt als Gralshüter der Meinungsfreiheit bekannt. Und auch Google, das kurzfristig 300.000 Dollar spendete, um der aktuellen Ausgabe von Charlie Hebdo zu einer Millionen-Auflage zu verhelfen, musste sich in der Vergangenheit schon oft mit Zensur-Vorwürfen auseinandersetzen.

Von Mark Zuckerbergs selbstgefälligem Posting abgesehen ist gegen keine dieser Reaktionen etwas einzuwenden. Trotzdem: Dieser Tweet sollte nicht nur dreimal, sondern besser dreitausend Mal retweetet werden – denn die Frage ist wichtig.

Digital naiv

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Der Angriff begann lautlos. Die Täter gingen höchst professionell vor: Mit Spear-Phishing-Mails, also gezielt auf einzelne Personen zugeschnittene Post, an die Adresse von Mitarbeitern eines Stahlwerks verschafften sie sich Zugang zu wichtigen Rechnern. Der Rest war ein Kinderspiel. Über einen infizierten PC drangen die Täter immer tiefer ins Firmennetz ein, bis der Zugriff auf die Steuerung des ganzen Stahlwerks gelang. Folge des Cyberangriffs auf ein deutsches Unternehmen: Eine Firma außer Kontrolle und ein beschädigter Hochofen.



Immer mehr Firmen in Deutschland werden Opfer von Cyberangriffen, die daraus entstandenen Schäden betragen Milliarden. Mit einem neuen IT-Sicherheitsgesetz soll die Infrastruktur geschützt werden.

Es sind längst nicht mehr nur spektakuläre Angriffe wie der Cyberschlag gegen den Filmhersteller Sony oder der Hackerangriff auf Regierungswebseiten der vergangenen Woche, der deutsche Behörden beunruhigt. Sicherheitsexperten sind angesichts rasant steigender Zahlen von Angriffen selbst auf mittelständische Firmen alarmiert. Deutschland sei wegen seiner starken Stellung in Wirtschaft und Forschung „ein bevorzugtes Angriffsziel“ geworden, warnt Catrin Rieband, die ständige Vertreterin des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, am Mittwoch in Berlin. „Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht von neuen Cyberattacken hören.“ Deutsche Politik, Unternehmen und Wissenschaft rückten immer häufiger ins Visier ausländischer Dienste und Hacker.

Die Folgen gezielter Angriffe sind immens. Der geschätzte Schaden liege allein in Deutschland bei etwa 50 Milliarden Euro im Jahr, sagt Rieband. Egal ob Strategien, Forschungsergebnisse oder Innovationen, abgeschöpftes Know-how kann schnell ganze Branchen in Probleme stürzen. Und gerade einer Volkswirtschaft wie Deutschland, die als einzigen Rohstoff auf dem Weltmarkt Wissen anbieten kann, schweren Schaden zufügen.

Sicherheitsbehörden fordern deshalb eine schnelle Reaktion der Wirtschaft. Sie müsse in der Informationstechnik ihre Anstrengungen für die Cybersicherheit deutlich verstärken, sagt Michael Hange, der Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). „Trotz erheblicher Bedrohungen gibt es eine digitale Sorglosigkeit“, klagt Hange auf dem Berliner Forum zur Cybersicherheit. 50 000 Steuerungssysteme deutscher Unternehmen seien direkt ans Internet angeschlossen, aber nur unzureichend geschützt. So seien gerade mal sechs Prozent der deutschen E-Mails verschlüsselt.

Dabei rüsten die Angreifer, die laut Verfassungsschutz in schier unglaublichem Tempo auf. Schätzungen zufolge sind weltweit etwa eine Milliarde Schadprogramme im Umlauf. Täglich kommen laut BSI 300000 hinzu. In Deutschland seien dadurch inzwischen eine Million PCs Bestandteil sogenannter Bot-Netze, die von Kriminellen oder ausländischen Diensten für ihre Zwecke genutzt werden könnten – ohne, dass Besitzer das wüssten. Viele Attacken kämen aus Russland oder China.

So griff etwa die Hackergruppe Dragonfly mit dem Schadprogramm Havex aus Osteuropa industrielle Anlagen in Europa und den USA an und spionierte Unternehmen aus. Ein deutscher Gasnetzbetreiber verzeichnete „Anomalien im Datenstrom“. IT-Experten fürchten, dass Angreifer noch weiter gehen und die Wasserzufuhr oder Stromnetze lahmlegen könnten. Kritische Infrastruktur gehöre zu den möglichen Angriffszielen, heißt es beim Verfassungsschutz.

Wenigstens in den Zentralen großer Konzerne hat hinter den Kulissen ein Umdenken eingesetzt. Viele akute Vorsichtsmaßnahmen deutscher Firmen lesen sich bereits wie ein Spionage-Thriller: Dax-Konzerne lassen sich abhörsichere Konferenzräume bauen. Spitzenmanager reisen mit Koffern, die problemlos als James-Bond-Requisite durchgehen – um etwa Laptops abhörsicher zu verstauen. Oder sie telefonieren mit Krypto-Zubehör in Geheimcodes über ihre iPhones – für Außenstehende kaum zu bemerken. Am weitesten geht hierzulande der Luftfahrtkonzern Airbus mit gut 140 000 Mitarbeitern und 60 Milliarden Euro Jahresumsatz. Bis zu 70 Millionen Euro im Jahr steckt die Airbus-Gruppe – früher EADS – jedes Jahr in den Schutz vor Angriffen, sagt Guus Dekkers, IT-Chef des Konzerns. Ein Cyberzentrum mit riesigen Bildschirmen überwacht rund um die Uhr die IT der Firma, sperrt riskante Webseiten automatisch und löst Alarm aus, wenn Mitarbeiter von fremden Computern E-Mails abrufen. Das Ziel: sensible Informationen über Flugzeuge, Satelliten und Raketen zu schützen. Zu viele Merkwürdigkeiten – etwa bekannt gewordene Angebote – hat der Konzern schon erlebt. Doch Dekkers weiß auch: „Vielen Mitarbeitern gefällt das nicht. Sie fühlen sich gegängelt.“

Doch die Bundesregierung will dafür sorgen, dass bald in mehr Firmen solche Schutzwälle entstehen. Mit dem gerade vom Kabinett als Entwurf abgesegneten IT-Sicherheitsgesetz soll vor allem die kritische Infrastruktur in Deutschland besser geschützt werden – dazu zählen etwa die Energie-, Finanz-, Transportbranche oder das Gesundheitswesen. Einige Branchen seien schon gut aufgestellt, andere nicht, sagt Ole Schröder, Parlamentarischer Staatssekretär im für die IT-Sicherheit zuständigen Bundesinnenministerium. „Wir dürfen uns nicht viel Zeit lassen.“

Nur: Wie genau soll sich die deutsche Wirtschaft eigentlich besser schützen? Software kommt zu 90 Prozent aus den USA. Und die gelten seit der Snowden-Affäre eher als Teil des Problems – nicht der Lösung. Berlin hofft auf eigenes Know-how. Deutsche Firmen dürften nicht nur die verlängerte Werkbank globaler IT-Industrie sein und müssten selbst kreativ werden, sagt Schröder. Es müsse darum gehen, eigenes Know-how aufzubauen – und zu halten. Den möglichen Verkauf von Firmen mit benötigtem Wissen werde man „kritisch begleiten“, kündigt Schröder an.

In der Industrie schwant vielen, dass mit dem Vorstoß ein jahrelanger Kampf beginnt. Airbus-Manager Deckers ist sich längst sicher: „Das ist eine Reise, die kein Ende haben wird.“

Mein Held, mein teurer Held!

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Manch einer wird schon gehofft haben, selbst eines Tages im Geld baden zu können, wie es Onkel Dagobert jeden Tag tut. Vermutlich immer dann, wenn es wieder eine dieser Geschichten in die Schlagzeilen schafft. Eine Geschichte wie die vom Mann in Minnesota, der in der Wanddämmung seines für wenige Tausend Dollar gekauften Hauses ein Heft fand, das ihn reich machte. Dann stehen wieder wöchentlich Menschen mit solchen Hoffnungen im Geschäft von Peter Zemann. Seit 26 Jahren betreibt er die „Comic Company“ in der Münchner Fraunhoferstraße. Regelmäßig bringen ihm Menschen einzelne Alben oder ganze Kisten in das kleine Geschäft mit Regalen an allen Wänden und Drehständern voller Comics. Oder sie rufen einfach an: „Die wollen dann Wertanalysen aus der Ferne“, sagt er und lacht. „Dabei macht das kein Spezialhändler.“



"Geld wird gedruckt, alte Comics nicht mehr" - einer der Gründe, warum Comics zu einer immer beliebteren Geldanlage werden.

Alte Comics gelten seit einigen Jahren als Wertgegenstand – das ist Teil eines allgemeinen Booms hochwertiger Sammlerware. „Vor 20 Jahren hätte keiner geglaubt, dass solche Preissprünge im Comicmarkt möglich sind“, sagt Zemann. Heute erreichen einzelne Hefte bei Auktionen Spitzenpreise, zuletzt wechselte im August ein Comic mit dem ersten Auftritt von Superman für 3,2 Millionen Dollar den Besitzer.

Die Gründe für den Hype um alte Hefte sind vielfältig. „Geld wird gedruckt, alte Comics nicht mehr“, sagt Marco Heuberg. Er betreibt in Bremen den Laden Comicmafia und berät Auktionshäuser. „Frischfunde passieren nicht mehr“, sagt der Experte, „High-End-Ware kommt von unten nicht mehr nach.“ Prädikat „garantiert selten“: Comics werden zur guten Alternative zu anderen Investitionen, gerade in Zeiten niedriger Zinsen. „Es gibt viele Menschen, die einfach nicht wissen, wohin mit ihrem Geld“, sagt Heuberg. Der Prozess der Wertsteigerung verselbständigt sich dann schnell. Denn je mehr die Hefte wert sind, desto länger behalten die Besitzer sie – was dazu führt, dass einzelne Produkte überhaupt nicht mehr auf dem Markt landen. „Ich habe schon mehrfach gehört, dass etwa 80 Prozent der wirklich wertvollen Comics sogar in Bankenbesitz sind“, sagt Heuberg. Zudem werden Comics zunehmend als Kunstform entdeckt, professionelle Institutionen sammeln Originalzeichnungen und künstlerische Vorlagen und stellen sie aus – wie vor einiger Zeit in München, als in der Hypokunsthalle Disney-Vorbilder zu sehen waren.

Einen weiteren Beitrag leistet Hollywood: Verfilmungen von Batman- und Supermangeschichten machen die Figuren auch einem nicht Comic-affinen Publikum bekannt. „Tim und Struppi kannte in den USA vorher kein Mensch. Seit der Film im Kino war, hat sich der Preis für Ausgaben vervierfacht“, sagt Heuberg. Gleichzeitig ist der Markt internationaler geworden. Wo man früher beim lokalen Händler nachfragte, erfährt man Details heute nach kurzer Suche im Netz. Und ertragreiche Auktionen bekommen weltweit nicht mehr nur die Aufmerksamkeit begeisterter Privatsammler, sondern auch von Investoren und Institutionen. Mit der Bekanntheit steigt die Zahl derjenigen, die bereit sind, für ein altes Superman-Heft viel Geld hinzulegen – der Schauspieler Nicolas Cage hat in Comics investiert, auch Rap-Star Eminem hat mit einem Teil seines Vermögens bunte Hefte gekauft. „Hohe Preise schrecken mittlerweile die wenigsten ab“, sagt Marco Heuberg.

Dabei ist der Markt in Deutschland vergleichsweise ruhig. „Hier sind sogar manche Sachen für ihre Seltenheit noch eher billig“, findet Marco Heuberg. Extrembeispiele wie aus den USA sind noch die Ausnahme – auch, weil der Markt für Comics auf Deutsch kleiner ist. Doch selbst wer eine seltene Ausgabe daheim hat, kann kaum ohne Expertenhilfe schätzen, wie viel ein Heft bringen könnte – hochwertige Funde zu erkennen grenzt schon an eine Superheldenfähigkeit. Manche Details entdecken selbst Experten wie Marco Heuberg nur mit der Lupe.

Denn was ein guter Comic ist, hängt an vielen Faktoren – zu allererst natürlich am Zustand. „Wenn Kind und Kindeskinder das mit Nutellafingern durchgeblättert haben, kann das nichts mehr wert sein“, sagt Zemann. Comics müssen fachkundig gelagert sein: druckfrisch, dunkel und mit einem rückenverstärkenden Karton verpackt in säurefreiem Plastik, genannt „Kondome“. Manche Händler bieten sogar Papiere an, die, zwischen die Seiten gelegt, deren Zersetzungsprozess verlangsamen sollen. „Und bloß weil ein Heft neu ist, ist es nicht in einem super Zustand“, sagt Zemann. „Ein echt gutes Comic muss besser sein als neu.“ Heißt: Es muss auch ein besonders guter Druck gewesen sein; schon wenn bei der Druckmaschine die Schnittkanten abgewetzt waren, beeinflusst das die Qualität. Die Zustände werden nach Zahlen definiert: Null ist der ideale Zustand, eins ein sehr guter. Schon wenn ein Heft eine zwei bekommt, erzielt ein Verkäufer nur 40 Prozent des Preises eines 1er-Heftes.

Hinzu kommt: Die Ausgabe muss selten sein – und die Rarität steigt mit dem Alter. Comics werden nach Golden-, Silver- und Bronze-Zeitaltern eingeteilt. Natürlich sind Ausgaben aus der goldenen Ära, gedruckt von den Zwanziger- bis Vierzigerjahren, seltener als Bronze-Comics aus der Zeit ab den Siebzigern. Besonders gut gehen beliebte und bekannte Helden. „Die Geburtsstunde eines Helden ist immer etwas wert“, sagt Ladenbesitzer Zemann – auch das ist ein Grund, warum die „Action Comics No. 1“-Ausgabe mit Supermans ersten Heldentaten so viel einbrachte.

Anhand dieser Kriterien lässt sich zumindest theoretisch definieren, wann ein Comic wertvoll sein könnte. Dazu kommen aber immer wieder Ausnahmeerscheinungen. Marco Heuberg setzt derzeit auf Mosaik-Hefte. Die DDR-Comics hält er für die beliebteste Serie der Bundesrepublik, weil ein Großteil ehemaliger DDR-Bürger nur die kannte und liebte und es gleichzeitig nur wenige Ausgaben davon gibt – ein Sammler hat kürzlich für eine albanische Ausgabe aus den Siebzigerjahren 6500 Euro bezahlt. „Das ist für diese Zeit der absolute Irrsinn“, sagt Heuberg. „Aber ich kenne durchaus Menschen, die mir für eine Nummer eins 15000 Euro zahlen würden.“

Solche Kunden mit sehr speziellen Interessen und einer großen Bereitschaft, dafür Geld auszugeben, merkt sich Heuberg leicht. Für alle anderen führt er eine Liste. Kommt ein lang ersehntes Heft rein, ruft er den Liebhaber an. Auch darin sieht er einen Grund, warum Comics zwar ein Boom-Markt sind, aber keine Blase droht. Zwar gibt es einige Spekulanten und in den Neunzigerjahren gab es auch mal einen Preissturz, „aber dass Menschen das allein aus Geldgründen machen, ist nach wie vor die Ausnahme“, sagt Heumann. Vor allem Liebhaber sammeln Comics – die sind eher keine Spekulanten. „Sie kaufen vor allem, was ihnen gefällt“, sagt Zemann. Ein hoher Wert ist da eher ein willkommener Nebeneffekt.

Trotzdem verändern die Rekordpreise den Markt. Es gibt mehr Nachdrucke alter Ausgaben, die Branche wird ernster genommen. Comicsammelei sei früher etwas für arme Leute gewesen, sagt Zemann, deshalb gehe es in klassischen Arbeiterstädten auch mehr Comicläden. Je teurer einzelne Hefte, desto mehr Beachtung bekommt die ganze Branche. „Der Wert in der Gesellschaft misst sich oft am ökonomischen Wert“, sagt Dietrich Grünewald, der seit Jahren über Comics forscht. „Und der Normalbürger sieht Comics nun mit anderen Augen.“

Dass eben jene Normalbürger nun mit Comics reich werden, ist dennoch unwahrscheinlich. Wer sich trotzdem im Sammeln probieren möchte, dem raten die Experten, Hefte direkt im Laden beim Händler zu kaufen. Natürlich, weil es ihr Geschäft ist. Aber auch wegen der Details, die nur der Kenner sieht. Sowohl Zemann als auch Heuberg wurden schon in Betrugsfällen als Experten zu Rate gezogen – denn gerade auf Plattformen wie Ebay wird viel angeboten, was keinerlei Wert hat. „Dort werden nur in Ausnahmefällen hohe Preise erzielt“, sagt Heuberg. Der Traum vom Dachbodenfund wird deshalb meist genau das bleiben: ein Traum.

Frechheit siegt

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Es sind nun nicht acht, sondern sechzehn Seiten geworden und statt drei Millionen sollen nun fünf Millionen Exemplare der neuen Ausgabe von Charlie Hebdo gedruckt werden. Vor dem Anschlag lag die Auflage bei 60000 Stück. Nach der emotionalen und politischen ist also die Stunde der publizistischen Sensation gekommen, als wollten die zu Hunderttausenden in den Märschen vom Sonntag Vereinten ihre Solidarität beim Schlangestehen vor dem Kiosk noch einmal beweisen. In den meisten Pariser Zeitschriftenläden war Mittwoch früh kurz nach sieben schon kein Charlie-Hebdo-Heft mehr zu finden. Stammkunden durften sich auf die Warteliste für ein Nachdruckexemplar eintragen. Ähnlich lief es auch in der tiefsten Provinz, in Treignac im Limousin etwa, das Bekanntheit erlangte, weil die Attentäter, die Brüder Kouachi, dort im Internat waren. Der Inhaber des „Café de Paris“, der sonst mühsam wöchentlich drei Exemplare absetzte, hatte die bestellten 40 innerhalb kürzester Zeit verkauft. In Deutschland werden die Exemplare wohl erst am Samstag erhältlich sein, die besten Chancen haben Interessenten in den großen Presseläden an Bahnhöfen und Flughäfen.



Die neue Ausgabe von "Charlie Hebdo" war in Frankreich innerhalb weniger Stunden vergriffen. In Deutschland ist sie voraussichtlich erst ab Samstag erhältlich.

Das Provokations- und Spottunternehmen einer Satirezeitschrift, das sonst einen kleinen Kreis Gleichgesinnter mit Witzen versorgt, bekommt durch den Blutzoll von heute auf morgen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Auch darum überlegten die Redakteure und Zeichner lange, bis sie die Zeichnung vom weinenden Mohammed für die Seite eins bestimmt hatten. Nie hat im bald fünfzigjährigen Bestehen von Charlie Hebdo das Wort vom sich Totlachen eine so schrille Bedeutung angenommen wie bei diesem Heft.

„Eine atheistische Zeitung bewirkt mehr Wunder als alle Heiligen und Propheten zusammen“, beginnt darin Chefredakteur Biard seine Kolumne. Das Dilemma der Satiriker war, dass sie, obschon noch unter dem Schock des Dramas, keine Mahn- oder Gedenknummer, sondern eine neue Lachnummer machen wollten – das sei die beste Art, den toten Kollegen die Treue zu halten. Das Ergebnis: Die Mitarbeiter, die bisher nur Witz, Sex und groben Blödsinn im Kopf zu haben schienen, zeigen sich auf der Höhe ihrer Situation.

Das begann schon bei der Vorstellung der Titelseite noch vor dem Erscheinen in Paris. Schon wieder eine Mohammed-Karikatur, tut uns leid – schloss Luz bei der Vorstellung der Titelseite am Dienstag. Der oft grobschlächtige Humor hat sich hier zur vieldeutigen Anspielung verfeinert.

Auf der Schlussseite stellt Charlie Hebdo dann Zeichnungen vor, die bei der Schlussredaktionssitzung auf den Stapel der weggelegten Titelblattvorschläge kamen. In verzitterter Strichführung sind dort vom verletzten Zeichner Riss, der im Krankenhaus den Stift noch nicht richtig halten kann, ein Schwerarbeiter des Bleistifts mit heraushängender Zunge und darunter ein Terrorist mit Maschinengewehr zu sehen. „Zeichner bei Charlie Hebdo, das sind 25 Jahre Arbeit“, erklärt die Legende, Terroristen hingegen seien nur 25 Sekunden im Einsatz: lauter Wichser und Nichtsnutze.

Die spontane und weltweite Sympathiebekundung brachte die Charlie-Leute, so wohl sie ihnen tun mochte, auch in Verlegenheit. Ein Blatt von der Unverschämtheit wie das ihre konnte die Solidaritätserklärungen jener, die es jahraus, jahrein verspottet hatte, nicht einfach mit Dankbarkeit entgegennehmen, sondern musste mit Frechheit zurückschlagen, um glaubwürdig zu bleiben. Das ist im neuen Heft auch geschehen, jedoch ohne Geschmacklosigkeit. Auf einer Zeichnung sind Hollande, Sarkozy und eine Reihe anderer Politiker neben einer Ehrenwache mit gezücktem Schwert zu sehen, mit dem Kommentar: „Eine Schar Witzbolde verloren, zehn neue hinzugewonnen.“ In seiner Kolumne liefert Chefredakteur Gérard Biard gleichsam die Auslegung dazu. Die Freundschaftsbeweise, schreibt er, nähmen sie heute von allen Seiten entgegen, wohl wissend jedoch, dass man ihnen schon morgen wieder Provokation und Übertreibung vorwerfen würde.

Einen Wunsch für die Zukunft will die Charlie-Redaktion nach dem Drama dennoch äußern: dass aus „Je suis Charlie“ so viel wie „Je suis laïcité“ werde. Das ist verwegen. Denn gerade die Gegner solch einer vollkommenen Trennung von Staat und Kirche in allen Gesellschaftsbereichen waren bisher ihre besten Gegenspieler. Wie zur Bestätigung dieses Paradoxes wirkt eine Zeichnung vom getöteten Wolinski, die postum ins neue Heft aufgenommen wurde. Sie zeigt eine Prostituierte mit weit heruntergezogenem Höschen von hinten. „Weder Gott noch Herr“, ist auf ihre Haut tätowiert und daneben das Stichjahr 1905, das Jahr des Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat, mit einem Herzchen versehen. Dass auch dieses in Frankreich unverletzliche Prinzip eine Prostituierte ist, versteht die Charlie-Gemeinde als Kompliment: Das Strichmädchen ist eine der Lieblingsfiguren der Zeichner.

Die Mehrheit der Franzosen stimmt unter dem Eindruck des Attentats einstweilen noch mit dieser Ansicht überein und beweist es mit dem Sturm auf die Kioske. Der Kreis der Anhänger für solche Späße wird sich aber bald wieder auf das Maß der üblichen Auflagenhöhe verengen. Auch Biard scheint dies zu ahnen und lässt Papst Franziskus über seine Zeitschrift eine Botschaft zukommen: Sie nähmen auch das Glockengeläut von Notre-Dame gerne als Trost und Marketingmaßnahme an – aber nur, wenn ein Femen-Mädchen am Strick ziehe.

Tagesblog - 15. Januar 2015

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18:30 Uhr: So, ich gehe in den Feierabend. Damit euch ohne mich nicht langweilig wird hier noch der Link zum Mixtape von Caribou, als Dankeschön an seine Fans gedacht. Da sind nur 1000 Songs drin, damit kommt ihr hoffentlich einigermaßen über die Runden. Schönen Abend euch!

++++

18:20 Uhr:
Die Kommunikation innerhalb von Büros hat ja schon ganze Serien gefüllt. Die Nachricht, dass Facebook jetzt zukünftig auch noch als Firmen-Intranet agieren will, hat da direkt an unseren schlimmsten Befürchtungen gerührt. Deshab haben wir uns überlegt, wie die Tage innerhalb so eines Netzwerkes wohl aussehen:




++++

17:30 Uhr:
Vorhin habe ich ja die Oscar-Nominierungen angekündigt, aber gar nicht mehr gesagt, wie es ausging: Recht überraschenderweise ist Wes Andersons "Grand Budapest Hotel" einer der großen Favoriten mit neun Nominierungen. Damit hatten nicht viele gerechnet, da er vergangenes Jahr auf der Berlinale Premiere feierte und dementsprechend schon recht alt ist. Der Film "Birdman" wurde ebenfalls neun mal nominiert und in dem spielt Edward Norton mit, bei dem ich mich neulich noch fragte, ob der überhaupt noch in Filmen auftaucht. Aber scheinbar macht er's wenn dann richtig. Aus Deutschland hat Wim Wenders eine Chance mit seinem Film "Das Salz der Erde", auch die in Berlin lebende Regisseurin Lauria Poitras ist mit ihrer Snowden-Dokumentation "Citizen Four" nominiert. Alle Nominierungen findet ihr hier bei den Kollegen von sueddeutsche.de.

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16:20 Uhr:
Wir haben ein Ding der Woche! Und dieses Mal ein besonders funkelndes, es geht nämlich um: Glitzer! Der hängt nämlich noch jahrelang überall und daraus haben findige Menschen ein Geschäftsmodell konzipiert. Ich bin ja mal gespannt, ob das BKA zukünftig einige Briefe mit verdächtigem pulverartigem Inhalt kontrollieren muss...




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15:15 Uhr:
Ein bisschen Berlin-News sollte es im ersten Tagesblog aus Berlin natürlich auch noch geben:
  • Der Görlitzer Park soll jetzt neuerdings die ersten Null-Toleranz-Zone in Berlin werden. Heißt: Der Verkauf und Besitz von Drogen soll dort ab dem 1. April überhaupt nicht mehr toleriert werden. Interessante Wendung wenn man bedenkt, dass sie vor Kurzem dort noch Deutschlands ersten legalen Coffeeshop aufmachen wollten

  • Der Berliner Verkehrsverbund hat hier alles mit Plakaten wie diesem zugepflastert:

    Wie ja aber zu erwarten war, kamen unter dem Hashtag #weilwirdichlieben nicht die gewünschten Reaktionen. Eher sowas:




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14:15 Uhr: Bisher dachte ich immer, das Küchenhandtuch sei der Ort mit den meisten Bakterien in einer Wohnung. Heute, dank eines Experiments im englischen Surrey gelernt: Es ist das Smartphone-Display. Die Bilder dazu sind... schmackhaft?
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13:40 Uhr:
Mir haben schon ziemlich oft Ausländer erzählt, dass sie sich bei der Wohnungssuche in Deutschland wegen ihres ausländischen Namens häufig diskriminiert fühlen. Zukünftig werde ich diesen Leuten sagen, sie sollen sich mal beim Kollegen Jan Stremmel vorstellen - der betreibt nämlich positive Diskriminierung (von Ausländern), indem er nur solche in seiner WG aufnimmt. Warum er das tut und sich ständig dafür rechtfertigen muss, hat er heute für uns aufgeschrieben.




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12:40 Uhr:
Macklemore rappt jetzt auch in der Semsamstraße - zusammen mit Oscar, dem Grumpy-Mülltonnenbewohner sucht er nach noch mehr Abfall, in dem Oscar es sich gemütlich machen kann. Besonders schön sind die Kommentare unter dem Video, in Anlehnung an die Tweets zur Paul McCartney und Kanye West Kollaboration: "Never heard of this  Macklemore guy...but he bout to blow up thanks to Oscar. Oscar is a good guy for helping out this nobody's career."
https://www.youtube.com/watch?v=STH9ZpeFH2o

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12:00 Uhr:
Bin gerade ziemlich fassungslosüber dieses Storify über Reaktionen auf den Artikel in der Dresdner Morgenpost, dass der Asylbewerber Khalid I. ermordet wurde und nun auch andere Flüchtlinge in Angst leben. Einer schrieb zum Beispiel:

"Der Tot ist Bestandteil vom Leben...in Afrika sterben jeden Tag dutzende Kinder und Erwachsene, das interessiert auch keinen, aber wenn hier ein Asyli hops geht,ja dann is das Geschrei groß"


Wie kann man so grausam sein?

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11:00 Uhr:
Jetzt aber zur Nachrichtenlage:
  • Heute sagt im Edathy-Untersuchungsauschuss Ex-BKA-Chef Jörg Ziercke aus. Das wird insofern spannend, dass Ziercke angeblich Informationen aus den laufenden Ermittlungen gegen Edathy an einen SPD-Mann weitergegeben haben soll, der sie wiederum Edathy gesteckt hat. Sz.de twittert live aus dem Ausschuss

  • Die Schadensersatzforderung der Eissläuferin Claudia Pechstein wurde soeben vom OLG München angenommen: Pechstein hatte 4,4 Millionen Euro vom internationalen Eislaufverband (ISU) gefordert, weil dieser wegen zu hoher Blutwerte eine zweijährige Sperre über sie verhängt hatte.

  • Heute Nachmittag werden die Oscar-Nominierten 2015 bekanntgegeben, die Verleihung findet am 22. Februar 2015 in Los Angeles statt

  • Persönlich finde ich noch die aktuelle Situation in Nigeria wichtig, die ja nachrichtentechnisch immer wieder ein bisschen droht unterzugehen: Von der Terrororganisation Boko Haram wurden dort Anfang Januar hunderte Zivilisten umgebracht, 20.000 Menschen sind auf der Flucht. Amnesty wirft Boko Haram nun Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, in Februar wird in Nigeria gewählt

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10:45 Uhr
: Konferenz ist um, so sieht das für mich aus:


Könnte schon fast in ner Galerie hängen, hm?

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09:25 Uhr:
Damit ihr so ein bisschen eine Vorstellung bekommt, wie ich hier von Berlin aus arbeite: Manchmal sitze ich in einem Journalistenbüro in Neukölln, manchmal im Haupstadtbüro der SZ. Heute bin ich in letzterem und hier gibt es sogar einen Fernseher, auf dem läuft gerade das:




Stünde er in unserem Münchner Büro, liefe vermutlich das:
[plugin imagelink link="http://www.reactiongifs.com/r/bbb.gif" imagesrc="http://www.reactiongifs.com/r/bbb.gif"]

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09:15 Uhr:
Guten Morgen! Das ist mir jetzt wirklich peinlich - erster Tagesblog aus Berlin und dann direkt zu spät. Und ich wollte noch großkotzig schreiben, dass ich nach anderthalb Wochen Berlin diese Sache mit der U6, die nach Alt-Tegel und Alt-Mariendorf fährt, verstanden habe. Aber Pendelverkehr mit ständigem Zugbeschilderungswechsel waren wirklich erhöhte Anforderungen für mich, da müsst ihr nachsichtig sein. Aber gleich geht's hier los!
[plugin imagelink link="http://www.reactiongifs.com/r/tknbck.gif" imagesrc="http://www.reactiongifs.com/r/tknbck.gif"] Als der Zug heute morgen in die falsche Richtung fuhr, während ich drin stand

Von „beleidigend“ bis „extrem dumm“

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Vertreter der islamischen Welt haben sich mit klarer Kritik am Inhalt des nach dem Terroranschlag wieder erschienen Satiremagazins Charlie Hebdo zu Wort gemeldet und ihn als Provokation bezeichnet. Darunter auch Institutionen, die die Mordattacke verurteilt haben

Der Weltverband muslimischer Religionsgelehrter sagte, Zeichnungen zu veröffentlichen, in denen der Prophet beleidigt oder der Islam angegriffen werde, sei „weder sinnvoll noch logisch noch klug“. Besonderen Anstoß erregt das Titelbild von Charlie Hebdo mit der Karikatur des weinenden Propheten Mohammed, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ trägt; der Hintergrund ist grün, die Farbe des Islam. Die Attentäter würden weder den Islam noch die Muslime vertreten, so der Weltverband. Die Karikaturen richteten sich aber nicht gegen die Mörder, sondern „gegen den von anderthalb Milliarden Muslimen verehrten Propheten“. Der Verband, zu dessen Leitern der als Graue Eminenz der Muslimbrüder geltende Prediger Jussef al-Karadaui gehört, erklärt, dies schüre „Hass, Extremismus und Spannungen“.



Charlie-Hebdo Cartoonist Luz zeigt ein Exemplar der neuen Ausgabe des Satireblatts. Die Karrikatur des Propheten Mohammed stieß erneut auf viel Kritik.


Zurückhaltender reagierten muslimische Geistliche in Frankreich. Sie forderten ihre Gemeindemitglieder auf, ruhig zu bleiben und die Meinungsfreiheit zu achten. „Jeder verantwortungsbewusste Muslim kann das nur schwer hinnehmen. Aber wir sollten das nicht verbieten“, sagte Abdelbaki Attaf, Verantwortlicher der Moschee in Gennevilliers bei Paris.

Deutliche Ablehnung des Titelbilds kommt aus Ägypten. So nannte ein Mitglied der Al-Ashar-Universität in Kairo die Abbildung „eine echte Provokation für die Gefühle der Muslime“. Al-Ashar hat für die sunnitische Mehrheit großes Gewicht, sie bildet ihre höchste Autorität und hatte das Attentat verurteilt. Abbas Schoman sagte für die Universität, die Zeichnung werde „Hass schüren“ und behindere die Integration von Muslimen in westlichen Gesellschaften. Al-Ashar forderte Muslime auf, die Veröffentlichung zu „ignorieren“. Der Prophet sei „zu erhaben“, um durch diese „hasserfüllte Frivolität Schaden zu erleiden“. Ähnlich äußerte sich die nächstwichtige islamische Instanz in Ägypten, das Fatwa-Amt, das über islamische Rechtsprechung wacht: Die „ungerechtfertigte Provokation“ führe zu einer „neuen Zorneswelle“ und nütze dem kulturellen Dialog nicht. Sie achteten die Meinungsfreiheit, doch müsse man verstehen, „dass wir den Propheten Mohammed lieben“, so ein Vertreter des Amts, das die Mordtaten als unvereinbar mit dem Islam bezeichnet hatte.

Das Außenministerium in Iran nannte die Bilder „beleidigend“ und „provokativ“. Sie könnten „den Teufelskreis des Extremismus“ anheizen. Ministeriumssprecherin Marsieh Afkham erklärte, die Anschläge stünden „in komplettem Widerspruch zur islamischen Lehre“. Die neuen Mohammed-Karikaturen aber seien „Missbrauch der Meinungsfreiheit, wie heute im Westen üblich“. In der Türkei hatte sich bereits vergangene Woche der oberste islamische Geistliche, Mehmet Görmez, gegen die Verunglimpfung der islamischen Werte „im Namen der Meinungsfreiheit“ ausgesprochen, aber zugleich das Attentat auf Charlie Hebdo verurteilt. Am Mittwoch ordnete ein türkisches Gericht zudem die Sperre von Internetseiten an, die das Charlie- Hebdo-Titelbild zeigen. Die Entscheidung sei von einem Gericht in der südosttürkischen Stadt Diyarbakır getroffen worden, berichtete die Agentur Anadolu. Die regierungskritische türkische Zeitung Cumhuriyet erschien am Mittwoch mit einem vierseitigen Nachdruck des neuen Satirehefts.

Zu weit gegangen ist den französischen Behörden der umstrittene Komiker Dieudonné. Ihm wird nun wegen des Vorwurfs der Terrorverherrlichung in Frankreich der Prozess gemacht, wie am Mittwochabend aus Justizkreisen in Paris bekannt wurde. Der mehrmals wegen antisemitischer Äußerungen verurteilte Komiker hatte am Sonntag in einem Facebook-Eintrag den Solidaritätsspruch „Ich bin Charlie“ mit dem Namen des islamistischen Attentäters Amédy Coulibaly vermischt und geschrieben: „Ich fühle mich wie Charlie Coulibaly“. Am Montag wurden deswegen Ermittlungen gegen Dieudonné eingeleitet, am Mittwoch wurde der 48-Jährige vorläufig festgenommen. Vor einem Jahr waren Auftritte Dieudonnés wegen judenfeindlicher Äußerungen verboten worden.

Ein sibirischer Hiob

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Russlands Fernsehen ist gewöhnlich nicht zimperlich, wenn es nationale Erfolge zu feiern gilt. Besiegt die Jugendauswahl der Hockey-Nationalmannschaft im Halbfinale die Schweden, verdrängt die Meldung schon mal die Ukraine von Platz eins der Nachrichten. Als am Sonntag eine russische Produktion mit dem Golden Globe für den besten nicht englischsprachigen Film 2014 ausgezeichnet wurde, herrschte in den beiden größten staatlichen Sendern, Erster Kanal und Rossija 1, dagegen peinliche Stille.



Regisseur Andrej Swjaginzew (rechts) und sein Produzent Alexander Rodnyansky (links) mit dem Golden Globe, den sie für "Leviathan" bekommen haben. In Russland ist der Film stark umstritten.

Lediglich am Ende der Nachrichten wurden erst alle anderen Preisträger aufgezählt, bevor der Name des Regisseurs Andrej Swjaginzew fiel. Rossija 1 illustrierte das Ganze mit einem Bild des ebenfalls ausgezeichneten George Clooney. Dabei ist der Preis eigentlich eine Sensation: Der letzte russische Regisseur, der einen Golden Globe erhielt, war 1969 Sergej Bondartschuk für „Krieg und Frieden“.

Swjaginzews Film „Leviathan“ verpflanzt die Hiob-Geschichte ins Russland von heute: Ein einfacher Mann, Nikolaj, verliert alles, was er hat, und fragt verzweifelt, wo Gott bleibt. Es ist der Staat, der den russischen Hiob zermalmt: Ein korrupter Provinzbürgermeister lässt Nikolajs Grundstück enteignen und sein Haus abreißen. Zwischendurch sucht er geistlichen Rat beim Popen. Am Ende steht auf dem Platz eine neue Kirche. Bis dahin wird viel geflucht und sehr viel getrunken.

Der Film dürfte schon jetzt die am heftigsten umstrittene Produktion der letzten Jahre in Russland sein. Dabei kommt er erst im Februar in die Kinos. Im Internet ist aber seit einigen Wochen eine Raubkopie mit englischen Untertiteln zu haben. Das sei Schwarzmalerei und antirussisch, schimpfen die einen. Swjaginzew habe ihn für ein westliches Publikum produziert, das darin seine russophoben Klischees bestätigt finde. Hollywood zeichne ihn nur aus, weil das der gegenwärtigen russlandfeindlichen Stimmung entspreche.

Schon nach der Premiere in Cannes, wo Sjwaginzew im Mai für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, beklagte sich Kulturminister Wladimir Medinski über „Leviathan“. Medinski steckt allerdings in einer Zwickmühle, denn der Staat hat die Produktion finanziert. Und im Oktober hat das konservative russische Oscar-Komitee den Film – offenbar mangels anderer aussichtsreicher Produktionen – als Russlands Kandidaten ins Rennen um die Statue für den besten ausländischen Film geschickt. Inzwischen steht er auf der Shortlist.

Bevor er Minister wurde, hatte sich Medinski mit einer Buchreihe einen Namen gemacht, in der er nachzuweisen versuchte, dass alle „Mythen über Russland“ – vom Alkoholismus bis zur staatlichen Rückständigkeit – stets vom Ausland erfunden wurden. Kürzlich versprach er, künftig keine Filme über das „beschissene Russland“ mehr zu fördern.

Die Inspiration zu seiner Geschichte kam Swjaginzew indes durch eine reale Begebenheit in den USA. Russland liefert lediglich die Kulisse.


Befremdlich

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Pünktlich zum Gedenken – so könnte man es sagen. Vor 70 Jahren, im Januar 1945, wurde am Rande von Schwerte im Ruhrgebiet ein Außenlager des KZ Buchenwald geschlossen. Bis zu 700 Insassen mussten hier Lokomotiven der Reichsbahn ausbessern. Einige Gebäude wurden erhalten und unter Denkmalschutz gestellt. In manche zogen Firmen ein, in andere Künstlerateliers. In die ehemalige Baracke der Aufseher nun sollen in dieser Woche 21 Flüchtlinge einquartiert werden.

„Bedenklich und befremdlich“, findet das Birgit Naujocks, die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates Nordrhein-Westfalen. Sie habe ja Verständnis, dass angesichts der Flüchtlingszahlen nach Notlösungen gesucht werden müsse. In Köln quartiert die Stadt die Asylsuchenden in einem Baumarkt ein. In anderen Orten wurden Zeltstädte geplant. Denen die Flüchtlinge ja oft gerade entkommen sind. Ein ehemaliges KZ, das gehe aber zu weit, finden viele Flüchtlingsorganisationen. Schließlich könne man doch auch einfach Container aufstellen.



Gedenktafel für die Opfer eines Außenlagers des KZ Buchenwald in Schwerte (NRW). In der nahe gelegenen Baracke sollen nun 21 Flüchtlinge untergebracht werden.


Diese seien aber aufgrund der hohen Nachfrage derzeit nicht ohne Weiteres verfügbar, sagt eine Sprecherin der Stadt Schwerte. Dort sieht man sich nun ein wenig in die rechte Ecke gestellt, in die einer geschichtsvergessenen und unsensiblen Provinzstadt. Dabei halten viele Historiker die Aufarbeitung des Geschehenen im Schwerter Außenlager geradezu für vorbildlich. Eine Skulptur und eine Gedenktafel sind aufgestellt, am 8.Mai wird der Kapitulation gedacht und Überlebende zur Feier eingeladen. Die Stadt verweist zudem darauf, dass in den Baracken bereits ein Waldorfkindergarten untergebracht war – und vor zwanzig Jahren schon einmal Flüchtlinge. Damals hatte das niemanden interessiert, nun ist die Aufregung aber groß.

„Ich hoffe, dass das auf kommunaler Ebene schnell gestoppt wird. Wir können uns Schlagzeilen wie diese nicht leisten“, sagt der nordrhein-westfälische Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) am Mittwoch. Eine Unterbringung in einer früheren Unterkunft für SS-Aufseher im KZ-Außenlager „Schwerte-Ost“ habe mit einer Willkommenskultur wahrlich nichts gemeinsam, sagte er am Mittwoch vor dem Integrationsausschuss des Düsseldorfer Landtags. In Schwerte sehe man trotzdem keinen Grund, das Vorhaben abzubrechen, sagt eine Sprecherin der Verwaltung. Bei der Baracke handele es sich zudem nicht um die Original-Räumlichkeiten der SS-Wachmannschaften.

CDU, SPD und Grüne beklagen unisono eine gewisse Skandalisierung der Lage in Schwerte. Es sei schlichtweg kein anderer Raum vorhanden. „Wir nehmen jetzt und in Zukunft die Situation aus dem Blickwinkel der Flüchtlinge wahr“, hatte Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger nach den Misshandlungsskandalen vom vergangenen Jahr gesagt. Die Stadt Schwerte argumentiert, das ehemalige Lager sei weit besser als eine überfüllte Turnhalle und biete Privatsphäre.

Deutsche unerwünscht

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Ich stand in meiner Küche und knetete rohes Hackfleisch. Oskar, mein schwedischer Mitbewohner, zeigte mir, wie man Köttbullar macht. Er rührte in Töpfen und erklärte mir die Vorzüge von schwedischem Glühwein. Am Tisch saß Julie, unsere französische Mitbewohnerin, und trank ein Bier, das sie "Ohgustina" nennt. Zwischendurch reichte sie uns Scheibchen von irgendeiner sehr teuren Wurst, die man ihr zu Weihnachten aus Frankreich geschickt hatte.

Ich kaute auf der Wurst herum, rollte Hackfleisch zu einem Köttbullar, hörte Julies französische Musik und merkte mal wieder, warum meine WG die beste ist, die ich kenne: Es fühlt sich immer ein bisschen an, als wäre ich im Urlaub.

Seit ein paar Jahren wohne ich nur mit Ausländern zusammen, nicht aus Zufall, sondern aus Überzeugung. Gerade suchen wir einen neuen Mitbewohner. Wenn man auf Zimmerportalen guckt, findet man Jungs-WGs, die suchen nur nach Jungs, oder Juristinnen, die nur Nichtraucher wollen. Wir haben auch ein Kriterium: Er oder sie sollte kein Deutscher sein.



Am Frühstückstisch der einzige Deutsche sein zu wollen - ist das schon rassistisch?


Als ich das gestern ein paar Kollegen erzählte, fanden sie das "hirnrissig". Einer benutzte gar das Wort "rassistisch". Deshalb kommt hier jetzt ein Plädoyer. Keines gegen deutsche Mitbewohner, sondern eines für ausländische.

Wir laden nämlich schon auch Deutsche zur Besichtigung ein. Nur mögen wir die halt fast nie. Vor ein paar Tagen kam Michael aus Hannover, Masterstudent, 26. Noch bevor er das freie WG-Zimmer gesehen hatte, guckte er auf meine Füße und fragte mit gekräuselten Lippen: "Ihr, äh, lasst eure Straßenschuhe also in der Wohnung an?"

Das ist jetzt gemein und ich wünschte, es wäre anders, aber: Von den sieben Deutschen, die wir inzwischen zur Besichtigung eingeladen haben, fragten drei in den ersten Minuten nach Putzplan oder morgendlicher Duschreihenfolge. Zwei waren skeptisch, ob die Bio-Heizung, die der Vermieter in unserer Wohnung installiert hat, denn auch wirklich stark genug für den Altbau sei? Der Rest wollte wissen, ob hinter dem Bauzaun auf der anderen Straßenseite denn wirklich gar kein Baggerlärm entstünde? Auch nicht morgens?

Würde ein Deutscher in Rom nach dem Putzplan fragen?


Nennt mich unfair, nennt mich einen miesen Statistiker, aber diese Beispiele bestätigen genau das Urteil, das ich schon vor Jahren gefällt habe. Deutsche sind im Schnitt die pedantischeren, die unzufriedeneren, die unentspannteren Mitbewohner. Dabei glaube ich gar nicht an das Klischee vom Deutschen als Regelfreund und Langweiler, auf dem ja niemand so gerne herumbeißt wie wir Deutschen selbst. Ich glaube aber, es stimmt ex negativo: Wer im Ausland ist, für zwei Semester oder eine Doktorarbeit, wer die Sprache nicht kann und eine Wohnung sucht, ist ein bisschen euphorischer. Und deshalb angenehmer. Ich bin auch sicher, dass Michael aus Hannover nicht als erstes nach der Hausschuh-Policy fragt, wenn er ein Zimmer in Rom besichtigt. Und umgekehrt, wenn Oskar in seiner Heimat Stockholm eine Wohnung sucht, achtet er vermutlich auch mehr auf Heizkosten und Baustellen im Umkreis.

Und ich? Ich finde Menschen aus anderen Ländern einfach spannender. Weil ich die Welt außerhalb von Deutschland spannender finde als die Welt innerhalb von Deutschland. Ich weiß, dahinter verbirgt sich letztlich die Sehnsucht des Angestellten, der gerne mehr reisen würde, aber zu feige und luxuskorrumpiert ist, seinen Job zu kündigen. Für mich ist das Zusammenwohnen mit Ausländern eben ein gutes Substitut dafür. Na und?

Was jetzt kommt, klingt wie eine Phrase, aber es stimmt halt: Man lernt die eigene Stadt anders kennen, wenn man mit Menschen Zeit verbringt, die sie noch nicht kennen. Ich wohne sechs Jahre in München, habe aber im letzten halben Jahr dank meiner Mitbewohner und ihrer Freunde mehr neue Restaurants und Bars entdeckt als in den zwei Jahren davor. Ich wusste weder, dass München eine grandiose Stadt zum Schlittenfahren ist, noch, dass es in Bayern sowas wie "Ferienstraßen" gibt, über die man mit dem Mietwagen in Ecken von Deutschland kommt, die so aussehen, als hätte Walt Disney sie eins zu eins für die Kulissen von Cinderella abgepaust.

Ja, ja, ich weiß - jeder Satz hier ist ein Beleg meiner selbstverschuldeten Blindheit und Beschränktheit, natürlich könnte mir auch ein netter Nürnberger Seiten an meiner Stadt zeigen, die ich nicht kenne. Natürlich haben wir auch einem halben Dutzend strunzlangweiliger Engländer, Franzosen und Italiener nach der WG-Besichtigung abgesagt. Und es gibt selbstverständlich genug Deutsche, die keine Putzpläne brauchen, um sich in einer WG wohlzufühlen. Aber: Es dauert viermal länger, so einen zu finden, als einen interessanten ausländischen Mitbewohner. Denn, und vielleicht ist das der Kern meiner Argumentation, der meinen Kollegen so sauer aufstößt: Ich glaube, dass jemand, der seine gewohnte Umgebung verlässt, um woanders sein Glück zu versuchen, neugieriger ist und tendenziell interessantere Geschichten erzählen kann als jemand, der nur für den Masterstudiengang von Hannover nach München wechselt. Und neugierige Menschen mit interessanten Geschichten sind ja überhaupt der Grund, weshalb ich immer noch in einer WG wohne.

Ding der Woche: Glitzer

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Eigentlich mögen wir es, wenn was glitzert. Glitzer ist irgendwie süß – wir verspüren eine kindische Freude, wenn etwas funkelt und glänzt. Glitzer steht für Prinzessinsein, 70er-Jahre Disco-Outfits, Übermut. Das bisschen zu viel, das ab und zu mal sein muss.

Das Schlechte an Glitzerstaub: Das Zeug verteilt sich und klebt, besonders fies auf der Haut, aber auch auf Teppichen, in Sofaritzen, Tastaturen – einfach überall.

Genau diese Eigenschaft von Glitzer hat einen Australier diese Woche berühmt gemacht: Der 22-jährige Mathew Carpenter aus Sydney bietet auf http://www.shipyourenemiesglitter.com/ für 10 Australische Dollar mit Glitzer befüllte Briefumschläge an, die anonym an den Empfänger gesendet werden und ihm jede Menge Ärger bereiten sollen. In den FAQ erklärt er warum: Glitzer ist wie Herpes: "The craft herpes will be released & will go everywhere."
Und er illustriert auch gleich, wie man sich das Ergebnis vorstellen kann:
[plugin imagelink link="http://www.shipyourenemiesglitter.com/images/section-image-1.png" imagesrc="http://www.shipyourenemiesglitter.com/images/section-image-1.png"]

In einem Interview mit dem Guardian erzählte Carpenter, er sei auf die Idee gekommen, nachdem er selbst mit Glitzer gefüllte Weihnachts- und Geburtsttagspost bekommen habe: “I hated it, and wanted the rest of the world to feel my pain.”

Auf so eine Möglichkeit haben viele offenbar schon lange gewartet. Nach verschiedenen Medienberichten, unter anderem vom Slate-Magazin, dem Business Insider und der Washington Post, wurde der Online-Shop auch auf Facebook und Twitter begeistert geteilt.  „Das Beste, was je im Internet passiert ist“ und „Der Mann ist ein Genie“, lauteten die Kommentare.





Shipyourenemiesglitter.com war daraufhin überlastet, neue Bestellungen wurden nicht mehr angenommen. Der Kommentar auf der Seite: „You guys have a sick fascination with shipping people glitter. We've received all orders & working through them. There was a tonne so be patient.“ Auf der Seite producthunt.com hat Carpenter sogar darum gebeten, keine Bestellungen mehr abzugeben.




Aber warum sind die Menschen überhaupt so begeistert von diesem eigentlich simplen Konzept? Haben wir tatsächlich so viele Feinde, die wir leidenschaftlich hassen?

Die Idee, ungeliebten Menschen unangenehme Dinge zu schicken, ist tatsächlich nicht neu. Ende letzten Jahres eröffnete die Seite www.shitexpress.com, die den Versand von Tierexkrementen gegen die anonyme Bezahlung in virtueller Währung anbietet. Diese wirklich ekelhafte Hardcore-Version erlangte aber lange nicht so viel Beliebtheit wie die Glitzer-Variante.

Einer der Gründe, warum shipyourenemiesglitter.com einen solchen Hype auslöst, ist sicherlich der trockene Humor, mit dem Carpenter seine Idee auf der Webseite verkauft. Vor allem in den FAQ:




Ein anderer Grund liegt wahrscheinlich in unserer Faszination fürs Funkelnde. Glitzerstaub mag eine Riesensauerei veranstalten und unheimlich nerven. Letzten Endes ist so eine Aktion aber doch eher ein harmloser Streich, der nicht wirklich weh tut  – denn eigentlich mögen wir es ja, wenn’s glitzert.

Wer sich jetzt trotz der Überlastung noch auf diese Art bei seinen Feinden rächen will, kann das übrigens trotzdem tun. Es gibt nämlich schon mehrere Nachahmer der australischen  Seite, unter anderem auch einen deutschen: www.schickdeinenfeindenglitzer.com.

Alternativ kann man natürlich auch einfach selbst die Glitzerreste der übrig gebliebenen Weihnachtsdeko zusammenkratzen und verschicken.

Bis zum letzten Schutthaufen

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(Falls der Player das Video nicht abspielt, bitte hier klicken.) 

Das Atomic Café hat ja nicht einfach nur zugemacht. Die Betreiber mussten die gemieteten Flächen so zurückgeben, wie sie sie bekommen haben: leer. Um das Verschwinden zu dokumentieren, haben wir eine Kamera aufgehängt, die alle 15 Minuten ein Foto geschossen hat. Knapp 1300 Bilder insgesamt – von den letzten Feiernden bis zum finalen Schutthaufen. Und dazwischen: Die Stunden, in denen Arbeiter Detail um Detail abtragen. Die Wand aus Glaswürfeln, das DJ Pult, den Holzboden, die Klos. Die Bar. Die mit besonderer Vorsicht, weil sie noch im Stadtmuseum ausgestellt werden soll. 

Wer genau hinsieht, entdeckt auf den Fotos immer wieder spontane, allerletzte Kleinfeiern oder Menschen, die bewegt bis fassungslos auf die Baustelle starren. Kleine Malereien tauchen ebenso auf wie die Trockenbauer, die noch mal mit ihrer Band proben. 

In der Süddeutschen Zeitung vom 16. Januar haben wir eine Auswahl der Bilder abgedruckt - damit jeder, der will, das Atomic Café für sich wieder auferstehen lassen kann. Dafür die einzelnen Bilder  ausschneiden, in umgekehrter Reihenfolge zusammentackern und das Atomic per Daumenkino wieder aufbauen.


"Hat jemand ein iPhone-Ladekabel?"

Tagesblog am 16. Januar 2015

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16:55 Uhr: Ich verabschiede mich für heute. Pünktlich. Wegen Ausflug in die Berge. In den Schnee. Am liebsten eigentlich hier hin:





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16:16 Uhr:
Ist euch mal aufgefallen, dass Mädchen einander in den Kommentaren unter Fotos auf Facebook anhimmeln, als hätten sie nie etwas Schöneres gesehen als dieses eine Bild? Jungs machen das nicht. Und sie verstehen auch nicht, warum Mädchen es so häufig tun. Klarer Fall also für uns: Jungsfrage schreiben. Hier ist sie.


Stünde dieses Foto auf Facebook, hätten die Freundinnen dieses Mädchens bestimmt so was drunter geschrieben wie: "Wow, soo hübsch!" (Foto: time. / photocase.de)

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15:58:
Ich bin zwar nicht auf Jobsuche. Aber da gerate ich schon in Versuchung:




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14:40 Uhr:
Waah! Ich habe heute noch gar nichts zu den Oscar-Nominierungen geschrieben. Sind ja alle ganz aufgeregt deswegen seit gestern. Mir sind die Oscars wurscht, aber das hier finde sogar ich gut: eine Lego-Filmplakate-Sammlung.

Der Lego Movie hat es ja nicht unter die Oscar-Nominierten geschafft, was einige offenbar für einen mächtigen Skandal halten. Buzzfeed hat deshalb zu Photoshop gegriffen und Lego-Versionen der Plakate der Nominierungen für den besten Film gebastelt.

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14:28 Uhr:
Kurzer Hinweis an alle, die nicht bis auf Seite zwei der Kommentare geklickt haben. Da hagelt es Empfehlungen österreichischer Musik. Wär schade drum, wenn die keiner sieht.

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13:44 Uhr:
Wiederentdeckte Sachen, die zweite: Matthew McConaughey war nicht immer Oscar-Preisträger. Irgendwann hat auch er sich mal als unerfahrener Knirps bei einem Casting vorgestellt. 1993, um genau zu sein. Und von dieser Begebenheit ist jetzt ein Video aufgetaucht. In Sachen Lenkradhaltung auf jeden Fall Bestnote.
https://www.youtube.com/watch?v=RZTei7UMTPk

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13:28 Uhr:
Damn, lange Pause. Verzeihung. Es gab Papierkram zu erledigen und Carbonara-Nudeln zu essen. Dafür jetzt brandheißer Kram aus Rap-Country: Es ist ein altes, bislang unveröffentlichtes Video von Tupac aufgetaucht. Der Mitschnitt stammt von 1996, der Rapper unterhielt sich mit Jim Belushi auf dem Filmset von Gang Relatedüber die Erfahrungen, die er im Knast gemacht hat.

https://www.youtube.com/watch?v=Ch6KERIX_DA

Für die Ungeduldigen: Hier gibt es eine Art Zusammenfassung zu lesen.

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10:51 Uhr:
Wir haben schon seit etwa einem Jahr das Gefühl, dass die beste deutschsprachige Musik zurzeit aus Österreich kommt. Vor allem der Texte wegen. Dieses Video unterstützt diese These, finde ich:

https://www.youtube.com/watch?v=Zp4x7TRC1Kk#t=65

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9:56 Uhr:
Ich renne in die Konferenz und lasse zur Überbrückung Musik da. Soulphiction feat. Marcin Oz - Prison Song. Läuft bei mir seit Tagen in Dauerschleife. Selten einen so verschwurbelten und gleichzeitig so geil groovenden Beat gehört:

https://soundcloud.com/indarkglowingthing/prison-song-feat-marcin-oz

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9:30 Uhr:
Kurzer Nachrichten-Check:

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9:07 Uhr:
In München trauern gerade viele Nachtlebenmenschen über das Ende des Atomic Cafés.

Unser Fotograf juri-gottschall ist deshalb in den Baumarkt gefahren und hat eine ausgeklügelte Aufhängung samt Schutzkasten für seine Kamera gebaut, die auch einer Abrissparty standhält. Dann hat er sie so programmiert, dass sie vom letzten Konzert bis zum letzten Stück Schutt, das aus dem Atomic getragen wird, alle 15 Minuten ein Foto macht.

Hier ist das Zeitraffervideo davon zu sehen.
Wer da nicht mindestens einmal schwer schlucken muss, hat kein Herz.

In der Zeitung gibt es einige der Fotos einzeln – damit jeder, der will, das Atomic Café für sich wieder auferstehen lassen kann. Dafür die einzelnen Bilder  ausschneiden, in umgekehrter Reihenfolge zusammentackern und das Atomic per Daumenkino wieder aufbauen.





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8:25 Uhr:
Guten Morgen. Gerade sehr außer Puste hier angekommen. Bin mit dem Fahrrad da und habe versucht, simon-hurtz einzuholen, der mich an einer Ampel überholt hat. Vollkommen vergebens. Der Typ hat die Lungen eines Marathonläufers. Nach fünf Minuten dachte ich dann:
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Exportschlager Pegida

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Was in Dresden anfing, breitet sich nicht nur in Deutschland aus – Ableger von Pegida, deren Anhänger echte oder angebliche Sorgen vor dem Islam auf die Straße treibt, gibt es auch im Ausland. Zahlenmäßig liegen sie weit hinter dem deutschen Original, die Nähe zur Bundesrepublik scheint aber ein Faktor zu sein: In den deutschsprachigen Nachbarländern gibt es mehr Zulauf – allerdings wirkt der teilweise importiert.



Anhänger der Pegida-Bewegung bei einer Kundgebung in Dresden. Nicht nur innerhalb Deutschlands breitet sich die Angst vor dem Islam immer weiter aus. Inzwischen gab es auch in anderen europäischen Ländern Pegida-Demonstrationen.

Österreich

Man sei „sprachlos“ vor Dankbarkeit, heißt es bei Pegida Österreich unter der Schlagzeile: „Wir sind 10000“. So viele Interessenten nämlich hat der Ableger der Bewegung schon. Begeistert verweist man auf zustimmende Äußerungen von Prominenten wie der Sängerin Stefanie Werger. Sie befürchtet, die Pegida-Anhänger würden mit ihren berechtigten Sorgen in die rechte Ecke gestellt. Öffentliche Unterstützung ist aber die Ausnahme, Sympathie kommt von erwartbarer Seite: Die rechtspopulistische FPÖ nennt Pegida eine „seriöse Bürgerbewegung“. Parteichef Heinz-Christian Strache unterstützt sie, will aber auf einer am 2.Februar geplanten Demonstration nicht mitgehen. Auffällig ist: Pegida in Österreich ist vor allem Pegida aus Deutschland. Sympathisanten sind der österreichischen Facebook-Seite zufolge überwiegend Deutsche. Der Standard zählte nach – demnach sind nur 47 Prozent derjenigen, die den „Gefällt-mir“-Knopf anklicken, Einheimische.

Außenminister Sebastian Kurz, als Integrationsminister für die Muslime in Österreich zuständig, warnt vor der Vermischung von Islam und Islamismus. Letzterer bedrohe die Grundwerte, der Islam aber gehöre zu Österreich. Politik könne viel tun – sicherheits- und außenpolitisch, bei der Terror-Prävention. Pediga-Märsche brächten das Land nicht voran. (ck)

Schweiz


In der Schweiz hat Pegida laut seiner Facebook-Seite 4300 Anhänger, Tendenz steigend. Für den 16.Februar ist ein „Abendspaziergang“ geplant; wo, ist noch unklar. Doch beschäftigen sich Medien ausgiebig mit dem Ableger der deutschen Bewegung, auch die Zahl der Demonstranten in Dresden wird genau registriert.

Zufall ist das nicht: In ihrem Positionspapier bezieht Pegida sich dreimal auf die Schweiz. Das direktdemokratische Land ist eine Art Sehnsuchtsort der Bewegung – Bauverbot für Minarette, Beschränkung der Zuwanderung, härtere Asylgesetze. Vieles, was die Schweizer Stimmbürger beschlossen haben, könnte von den „Patriotischen Europäern“ stammen. Man würde annehmen, Pegida sei überflüssig in einem Land mit einer so starken rechtsnationalistischen Kraft wie der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Doch auch rechts von ihr wird Politik gemacht, diese Kräfte wittern Chancen mit Pegida Schweiz.

Ignaz Bearth, Spitzenkandidat der stramm rechten, kleinen Direktdemokratischen Partei Schweiz, ist Kopf des Pegida-Ablegers. Der 29-jährige Ostschweizer ist politisch unbedeutend, aber durchaus bekannt wegen seiner Präsenz in sozialen Medien. Bearth, der früher zur rechtsextremen Partei National Orientierter Schweizer gehörte, hat 33000 Facebook-Fans. Der Schönheitsfehler: Nur gut 30Prozent der Anhänger sind aus dem deutschsprachigen Raum. Gut 40 Prozent sind Inder.

Während Bearth nun verspottet wird, schießt er auf Facebook zurück: Er habe auch indische Fans „sehr gerne“, schreibt er. Und überhaupt: „Sind denn Inder weniger wert als die Menschen, welche hier leben?“ Dass Bearth, der Ungarns rechtsradikale Jobbik-Bewegung unterstützte und in ganz Europa rechtsextreme Kontakte pflegt, nun so viel Aufmerksamkeit bekommt, ist wohl der wahre Schachzug von Pegida Schweiz. Bearth dankte für die kostenlose Werbung. (thei)

Skandinavien

An der Kopenhagener Nationalgalerie soll kommenden Montag der erste dänische Pegida-Marsch starten. Die Regeln sind streng, erlaubt sind nur Schilder mit einem dieser Sprüche: „Nein zum fundamentalistischen Islam“, „Je suis Charlie“, „PEGIDAdk“ und „Nein zu Gewalt und Rassismus“. Auch Hunde sind nicht erlaubt beim „Abendspaziergang mit Fackeln“. „Manche könnten sich fürchten“, sagt Veranstalter Nicolai Sennels, ein Schulpsychologe, der früher der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei angehörte und als Islamkritiker bekannt ist. Die strengen Regeln sollten garantieren, dass Leute, „die noch nie bei Demonstrationen waren“, sich willkommen fühlten und nicht sorgten, in Verbindung mit Rassisten gebracht zu werden. Die Polizei habe versprochen, jeden von der Demonstration zu entfernen, der rassistische Parolen rufe. Sennels selbst will mit Schüssen aus einer Wasserpistole gegen rassistische Störer vorgehen. Pegidadk demonstriere gegen Terrorismus und „eine Art von Religion, die gewalttätige Elemente zu haben scheint“. Offene Islam-Kritik ist in Dänemark längst salonfähig, geschürt auch von der Dänischen Volkspartei, die in Umfragen zuletzt immer knapp 20 Prozent erreicht hat. Mit deutschen Pegida-Märschen habe Pegidadk nichts zu tun, so Sennels, man habe nur den Namen übernommen. Er erwartet am Montag 200 bis 300 Teilnehmer, dann soll wöchentlich demonstriert werden.

Norwegen hat den ersten Pegida-Marsch schon hinter sich, 190 Teilnehmer – und 500 Gegendemonstranten. Dennoch schrieb die antirassistische Internetseite Vepsen.no von einem „Besucherrekord für norwegische Rechtsextremisten nach dem Zweiten Weltkrieg“. (sibi)

Spanien


Die neue spanische Pegida-Gruppe hat Kundgebungen im Zentrum Madrids angekündigt. Beantragt wurde zwei Tage nach dem Pariser Anschlag die Erlaubnis, vor der Großen Moschee zu demonstrieren, doch die Behörden lehnten ab. „Der Islam hat keinen Platz in freien und demokratischen Gesellschaften“, twitterten die Gründer der Gruppe. Doch verwahren sie sich dagegen, mit Faschisten oder Nationalsozialisten in eine Reihe gestellt zu werden. Ihre Facebook-Seite zeigt das Piktogramm einer Person in spanischen Nationalfarben. Sie wirft ein Hakenkreuz, eine rote Fahne mit Sowjetstern, die schwarz-rote Flagge der Anarchisten sowie eine schwarze Fahne mit arabischen Zeichen, wie sie islamistische Terroristen zeigen, in den Abfall.

Für Spanien hat das Thema seit den Al-Qaida-Anschlägen auf Madrider Vorortzüge 2004, bei denen 191 Menschen umkamen, besondere Brisanz. Auch spielt im historischen Bewusstsein der Kampf gegen die Mauren in der Reconquista eine eminent wichtige Rolle. Die starke Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern nehmen deshalb nationalkonservative Kreise schon lange als Bedrohung wahr. (tu)


Stunde der Trauer

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Dass dem Deutschen Bundestag Pathos fremd ist, zeigt sich an diesem Morgen. Das Parlament ist zusammengekommen, um der Terroropfer von Paris zu gedenken. Der Plenarsaal ist voll wie selten. Auch die Kanzlerin und 14 ihrer 15 Minister sind gekommen. Auf der Tribüne sitzen die Botschafter Frankreichs und Israels. Es ist also alles gerichtet für einen staatstragenden Beginn. Doch was macht Bundestagspräsident Norbert Lammert? Er gratuliert nach der Sitzungseröffnung erst einmal drei Abgeordneten nachträglich zum Geburtstag. Dann lässt er auch noch ein neues Mitglied für den „Beirat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen“ wählen. Erst dann steht der Bundestagspräsident auf und beginnt mit seiner Rede zu den Untaten von Paris. In der französischen Nationalversammlung oder dem US-Kongress würden Sitzungen wie diese anders beginnen.



Bundeskanzlerin bei der Gedenkminute für die Opfer von Paris im Bundestag. In ihrer anschließenden Rede bezeichnete die Kanzlerin Terror im Namen des Islam als „Gotteslästerung, nichts anderes“.

Was dann folgt, gereicht dem Bundestag aber zur Ehre. Es wird eine Debatte voller Nachdenklichkeit. Und eine Stunde, in der selbst die am Redepult ansonsten unauffällige Kanzlerin das Auditorium aufmerken lässt – auch wenn sie sich einen peinlichen Versprecher leistet.

„Der Mordanschlag von Paris galt nicht allein einer bestimmten Zeitung und den Menschen, die sie machen, er galt der Freiheit der Meinung und der Presse“, sagt Lammert. Die Demokratie sei „die in Europa gewachsene Verfassung der Freiheit“. Aber diese Freiheit sei nur möglich, wenn Zweifel erlaubt sind: „Zweifel an dem, was wir kennen, was wir gelernt haben, was wir wissen und zu wissen glauben, was wir zu glauben gelernt haben.“ Dieser Zweifel sei „der Zwillingsbruder der Freiheit“. Ohne Zweifel an tradierten Positionen und Kritik an bestehenden Verhältnissen gebe es weder Fortschritt noch Freiheit, sagt der Bundestagspräsident. Deshalb habe die Freiheit „der jeweils eigenen Meinung, der Rede, der Kunst und nicht zuletzt der Presse eine herausragende, unaufgebbare Bedeutung“ für Demokratien. Und deshalb werde man sie weder von islamistischen Terroristen noch von sonst jemanden zur Disposition stellen lassen.

Wer wegen der Pariser Anschläge aber eine „Islamisierung des Abendlandes“ proklamiere, betreibe „Demagogie statt Aufklärung“, sagt Lammert. „Unser Gegner ist nicht der Islam, sondern der Fanatismus, nicht Religion, sondern Fundamentalismus.“ Der Bundestagspräsident warnt jedoch auch die Pegida-Gegner davor, es sich zu einfach zu machen. „Die gut gemeinte Erklärung“, man dürfe den Islam nicht mit dem Islamismus verwechseln, reiche nicht aus – und sei ebenso wenig wahr, wie die Behauptung, die Kreuzzüge, die Inquisition und die Hexenverbrennungen hätten nichts mit dem Christentum zu tun, sagt Lammert. Die Frage, wie die Tötung von Menschen im Namen Gottes überhaupt möglich sei, sei durch Tabuisierung nicht zu beantworten. Umso notwendiger sei die eindeutige Stellungnahme islamischer Verbände bei der Veranstaltung vor dem Brandenburger Tor gewesen.

15 Minuten dauern die „einleitenden Worte des Bundestagspräsidenten vor Eintritt in die Tagesordnung“, wie das pathosfreie Protokoll des Parlaments die Rede nennt. Dann fordert Lammert die Abgeordneten auf, sich im Gedenken an die Opfer von Paris zu erheben. Es wird ein beeindruckender Moment der Stille in dem ansonsten so lauten Plenarsaal.

Als sich die Stille wieder löst, tritt Angela Merkel ans Pult. „Wir sind erschüttert und fassungslos über den Tod von 17 unschuldigen Menschen“, sagt die Kanzlerin zu den Anschlägen von Paris. Die Freiheit der Presse sei „einer der größten Schätze unserer Gesellschaft“. Die Voraussetzung dafür sei Toleranz. Diese Tugend dürfe man aber nicht mit Standpunktlosigkeit verwechseln. Religionsfreiheit und Toleranz meinten nicht, dass im Zweifelsfall die Scharia über dem Grundgesetz stehe. Die Taten von Paris hätten mit Religion nichts zu tun, sagt Merkel. Die Anmaßung der Terroristen, im Namen des Islam zu handeln, sei „Gotteslästerung, nichts anderes“.

Merkel nimmt die Muslime in Deutschland gegen pauschale Schuldzuweisungen in Schutz und spricht erneut vom Islam, der zu Deutschland gehöre. Jede Ausgrenzung verbiete sich, sagt Merkel. Die allermeisten Muslime seien „rechtschaffene und verfassungstreue Bürger“. Aber dann nimmt auch Merkel die islamische Geistlichkeit in die Pflicht. Die Frage, warum so viele Mörder sich bei ihren Taten auf den Islam berufen, bedürfe einer Antwort, sagt Merkel. Die Menschen wollten wissen, an was das liege – das seien „berechtigte Fragen“. Sie halte deren Klärung durch die Geistlichkeit des Islam für „wichtig“ und „dringlich“. Dabei fordert die Kanzlerin auch klare Worte gegen den Antisemitismus. Schließlich gehe es bei den Pariser Anschlägen um „zwei der großen Übel unserer Zeit“, den islamistischen Terror und den Antisemitismus. Doch dann verspricht sich Merkel, sie scheint es noch nicht einmal zu merken. „Antisemitismus ist unsere staatliche und bürgerliche Pflicht“, sagt die Kanzlerin. Gemeint hat sie natürlich genau das Gegenteil.

Fromme Fluchten

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Am vergangenen Wochenende erlebte Frankreich zweierlei: die wohl größten Demonstrationen der Neuzeit und die Bestätigung, dass ein Riss durch die Gesellschaft geht: Die muslimische Bevölkerung blieb den Willenskundgebungen gegen den Terror meistens fern.



Am vergangenen Wochen zeigten die Menschen in Paris ihre Solidarität mit den Opfern der Anschläge. Trotz dieser Demonstration von Zusammenhalt geht in Wahrheit ein Riss durch Frankreichs Gesellschaft, meint unser Autor.

Das heißt nicht, dass sich keine Muslime unter den Demonstranten befanden. Die islamischen Würdenträger hatten zur Teilnahme aufgerufen. Und zahllose Personen aus muslimischen Familien waren von Anfang an bei den Trauerkundgebungen aktiv. Aber die meisten davon waren Muslime von der Art, wie ich Jude bin, in die Jahre gekommene Atheisten mit Linksdrall.

Ich wohne in Paris, aber mein Viertel im volkstümlichen Nordosten der Stadt hat so ziemlich alles zu bieten, darunter etliche „Cités“, ein Begriff, der sowohl die Sozialwohnbauten als auch ihre überwiegend franko-arabischen und franko-afrikanischen Mieter umfasst.

Am Sonntag also strömten die Familien der weißen Mittelschicht zu den Kundgebungen. Nur Leute aus den Sozialbauten waren kaum darunter. Dabei demonstrieren junge Franko-Araber und Franko-Afrikaner ebenso gern wie ihre übrigen Altersgenossen. Bei Schülerstreiks sind sie immer dabei. Aber ausgerechnet diesmal, wo wir sie besonders gern gesehen hätten, ließen sie uns hängen.

Dazu kamen unangenehme Meldungen: dass in einigen Cités Jugendliche Polizeistreifen mit dem Victory-Zeichen empfingen – auch in der Nähe des jüdischen Supermarkts, wo vier Kunden erschossen worden waren. Sie riefen den Beamten Drohungen zu wie etwa „Ihr kommt als Nächstes dran“. Eine Stufe milder erschien da die Haltung der Schüler, die die Schweigeminuten in ihren Klassen mit Pfiffen störten. Wahlweise behaupteten sie, hinter den Anschlägen stünde „ein von Israel gesteuertes Komplott“ oder, es habe gar keine Todesopfer im jüdischen Supermarkt gegeben, „sonst hätte man die Leichen im TV gesehen“. Einige Schüler lehnten die Schweigeminute mit der Begründung ab, Charlie Hebdo habe sich mit den Mohammed-Karikaturen eine solche „Bestrafung“ selber zuzuschreiben.

Nur wenige gingen so weit, und das ist ein Trost. Dass viele muslimische Jugendliche die Mohammed-Karikaturen nicht verwinden konnten, kann ich verstehen. Sie empfanden sie als eine weitere Kränkung ihrer Gemeinschaft – vor allem in Verbindung mit der allgemeinen Diskriminierung, etwa bei der Jobsuche. Und weil sie das Engagement von Charlie Hebdo gegen Diskriminierungen nicht wahrnehmen.

Es gab auch die Klage von muslimischen Jugendlichen, man würde mit zweierlei Maß messen, schließlich versuche die Staatsführung dem franko-kamerunischen Kabarettisten Dieudonné M’bala M’bala einen Riegel vorzuschieben. Am Mittwoch wurde er vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, später wieder freigelassen, aber es wurde ein Verfahren wegen „Verherrlichung des Terrorismus“ eingeleitet.

Der Vergleich hinkt freilich: Charlie Hebdo ist ein linkes Pazifistenblatt, das sich gegen jeden Rassismus erhob, während Dieudonné in seinen stets ausverkauften Auftritten den Holocaust leugnet und mit aggressiven Andeutungen eine potenziell tödliche Hetze gegen Juden betreibt. Am Tag des Pariser Marsches schrieb Dieudonné auf seiner Facebook-Seite, er verstehe sich als „Charlie-Coulibaly“ – der Name des Judenmörders im Supermarkt.

Seit dem Jahr 2000, unter dem Eindruck, besser gesagt dem Vorwand der zweiten palästinensischen Intifada sind Übergriffe gegen Juden stetig angewachsen. Was sich im übrigen Europa im letzten Sommer bei Protesten gegen den Krieg in Gaza äußerte, ist in Frankreich längst ein chronisches Phänomen, das mancherorts eine Vertreibung in Gang gebracht hat.

Frankreich ist jenes Land Europas mit den meisten Juden (geschätzte 500000) und den meisten Muslimen (fünf Millionen). Beide Gruppen stammen mehrheitlich aus den französischen Ex-Kolonien in Nordafrika und leben oft noch in den gleichen Vierteln. Das ging eine Zeitlang gut: Früher, als es noch wenige Halal-Restaurants gab, besuchten Muslime oft koschere Wirtshäuser, weil die jüdischen Nahrungsvorschriften denen des Islams ähneln. In vielen Fällen haben sich unter den älteren Einwanderern Freundschaften erhalten. Und wenn es früher zu Straßenschlachten zwischen tunesischen Juden und Muslimen kam, wie während des Sechstagekriegs 1967 im Pariser Migrantenviertel Belleville, dann standen sich zahlenmäßig vergleichbare Gruppen junger Männer gegenüber, die schließlich vom Pariser Oberrabbiner und dem tunesischen Botschafter gemeinsam beruhigt wurden.

Aber inzwischen sind die Juden in diesen Vierteln eine weit unterlegene Minderheit, ihr Einwandererstrom ist versiegt, während die Mehrheit der Muslime zusehends wächst. Die prekären Arbeitsverhältnisse und die Job-Krise haben das soziale Gefüge zerrüttet, die religiöse Radikalisierung hat einen Teil der muslimischen Jugend ergriffen. Die jüdischen Nachbarn mussten sich, wenn sie nicht wegzogen, auf Gelegenheitsübergriffe einstellen. Mal werden sie auf dem Weg zur Synagoge angespuckt, mal wird ein jüdischer Schulbus mit Steinen beworfen, mal prasseln auf einen jüdischen Kindergarten schwere Gegenstände aus umliegenden Hochbauten, sodass die Kinder nicht mehr im Hof spielen dürfen. Die Täter sind fast ausnahmslos junge Muslime.

Aber auch das nach außen hin prägende Erscheinungsbild der jüdischen Gemeinschaften hat sich gewandelt. Mit einer augenzwinkernden Mischung aus jüdischer Alltagsfrömmigkeit und mediterraner Lebensfreude hatten die ersten Generationen der Juden aus Tunesien beispielsweise Belleville zu einem pulsierenden attraktiven Viertel für junge Pariser gemacht. Die Begegnung mit diesem ungenierten Judentum war Balsam für die eher vorsichtigen europäisch-stämmigen jüdischen Familien, die den Holocaust überlebt hatten. Aber inzwischen, als Reaktion auf oder parallele Entwicklung zur Hyperkonfessionalisierung der Muslime, wurde ein beträchtlicher Teil der jüdischen Gemeinden von der ultrapietistischen Bewegung der Lubawitscher Chassiden erfasst.

Dass ausgerechnet eine Rigoristen-Bewegung, die auf eine aus der Ukraine stammende Rabbinerdynastie zurückgeht und seit dem Krieg aus New York ausstrahlt, bei jungen Juden aus nordafrikanischen Familien ungemein populär ist, mag paradox erscheinen. Es ist auch seltsam in Synagogen auf die Werke des deutschen Rabbiners Markus Lehmann zu stoßen, der sich im 19. Jahrhundert gegen das liberale Reformjudentum wandte und nach der Einführung der Orgel in der Mainzer Synagoge eine orthodoxe Separatgemeinde gründete. Aber auch europäisch-stämmige Rituale können einen exotischen Charme ausüben, und die jungen Juden, denen die tunesischen Traditionen ihrer Eltern fremd geworden sind, suchen - wie ihre muslimischen Altersgenossen - Halt in einer übergreifenden Gemeinschaft, die Gewissheiten und strenge Anweisungen bietet.

Das hat aber auch Auswirkungen im Kern der französischen Zivilgesellschaft. Bis Ende der 90er-Jahre überwog dort Sympathie mit der jüdischen Minderheit. Aktivisten mit jüdischen Wurzeln waren und sind zahlenmäßig stark vertreten. Nun aber ist diese Szene stärker denn je irritiert durch die israelische Siedlungspolitik und die konfessionellen Sonderwünsche des sichtbarsten Teils der französischen Juden. Während muslimische Eltern fordern, man möge in Schulkantinen kein Schweinefleisch mehr servieren (was häufig de facto bereits geschieht), verweigern jüdische Studenten Prüfungen an allen jüdischen Feiertagen. Oft kommt es zu Arrangements, aber viele Franzosen, und darunter auch die nicht-orthodoxe Mehrheit der Juden, fürchten eine Unterhöhlung der säkularen Republik.

Im selben Ausmaß, wie sich junge Juden hinter strengen Ritualen verschanzten, zogen jüdische Eltern ihre Kinder aus öffentlichen Schulen ab, wo sie Angriffen ausgesetzt waren. Auch jüdische Lehrer suchten Schutz in den rund 700 konfessionellen jüdischen Schulen Frankreichs. Aber dort sind sie besonders gefährdet. Spätestens seit dem Anschlag des jungen Franko-Algeriers Mohammed Merah auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012, bei dem drei Kinder und ein Lehrer aus nächster Nähe erschossen wurden, ist den Juden auch klar geworden, dass ihre Nahbereichs-Peiniger zu hochgerüsteten Attentätern werden können. Die Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die das Blutbad bei Charlie Hebdo verübten, absolvierten ihre islamistischen Lehrjahre in der Umgebung von Belleville, wo sie ursprünglich einen Angriff auf ein koscheres Restaurant geplant hatten, bevor ihr damaliger Dschihad-Rekrutierer sie überredete, stattdessen in den Irak kämpfen zu gehen.

Diese Bedrohung aus der Nachbarschaft hat nichts mit der französischen Mehrheitsbevölkerung zu tun und alles mit einer Jugendszene an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und Dschihadismus – und sie lässt die Juden ans Auswandern denken. Nach dem Massaker im koscheren Supermarkt kam das halbe Regierungsteam zur Trauerkundgebung. Premierminister Manuel Valls improvisierte eine Rede: „Der Antisemitismus ist unerträglich. Frankreich ohne Juden wäre nicht Frankreich. Ihr seid die Seele dieses Landes.“ Die Menge rief „Bravo“ und sang die Marseillaise. Dann sagte ein Familienvater: „Ich habe täglich Angst um meine Kinder.“ Valls antwortete: „Man darf keine Angst haben.“ Wer kann das schon?

Am Limit

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Wenn man sich die Menschheit als Astronauten im All vorstellt, dann ist die Atmosphäre der Erde der Raumanzug. Das Klimasystem sorgt für angenehme Temperaturen, die Ozonschicht stoppt als Sonnenschild wie ein Helmvisier schädliche Strahlung, die Biosphäre liefert permanent Sauerstoff, reinigt die Wasservorräte und füllt den Nährstoffspeicher. Kurz: Die Erde ist das Lebenserhaltungssystem der Menschheit. „Wir halten das für gegeben und messen ihm wenig Wert bei“, sagt Will Steffen von der australischen Nationaluniversität in Canberra. „Aber wir sind dabei, dieses lebenswichtige System zu destabilisieren.“



Das Satellitenfoto der NASA dokumentiert die Größe des Ozonlochs über der Arktis im Winter 1999/2000. Wissenschaftler haben neue Grenzwerte für die Stabilität unseres Klimasystems festgelegt. Die Ozonschicht ist ein Punkt davon.

Steffen bemüht sich mit etlichen anderen Wissenschaftlern seit Langem, die Bedingungen der Stabilität aufzuzeigen. Das Team hat Grenzwerte definiert, und mindestens vier davon habe die Menschheit bereits überschritten, zeigt eine Science-Studie des Australiers und seiner Kollegen (online). Sie stellen darin eine Art Ampel vor. Wenn sie Grün zeigt, wie beim globalen Wasserverbrauch, der Ozonschicht und knapp auch noch bei der Meeresversauerung, bewegt sich die Menschheit in einem sicheren Bereich. Das ist aber eben nur für drei der neun Aspekte gegeben. Bei Gelb beginnen die Zweifel: Die Stabilität endet dort, irgendwo hier sind große Veränderungen möglich, die sich noch nicht genau bestimmen lassen. Das ist beim Klimawandel der Fall und bei der Umwandlung von Wäldern zum Beispiel in Plantagen und Ackerland. Rot schließlich bedeutet, dass bereits großes Risiko besteht – das Artensterben und die Folgen der intensiven Stickstoff- und Phosphordüngung könnten drastische und unbeherrschbare Folgen haben. Für zwei weitere Aspekte fehlen noch die Daten, um eine sinnvolle globale Grenze festzulegen: Das gilt demnach sowohl für die Menge kleinster Partikel wie Ruß und Schwefeloxide in der Atmosphäre als auch für die Verbreitung von Plastik, Chemikalien und anderen künstlich erzeugten Stoffen in der Umwelt.

In einer weiteren Studie belegt Steffens Team, wie tief die Veränderungen auf dem Planeten bereits reichen. „Die ökonomische Aktivität der Menschheit prägt inzwischen direkt die Veränderungen im Erdsystem“, sagt Steffen. Seit etwa 1950 haben Stadtbevölkerung, Transportkilometer, Energie- und Wasserverbrauch stark zugenommen und parallel dazu die Schadstoffwerte in der Atmosphäre, die Versauerung des Meeres und der Verlust von intakten, artenreichen Landschaften. Betrachtet man den zeitlichen Verlauf, knicken viele dieser Kurven kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nach oben ab und steigen plötzlich steiler an (Anthropocene Review, online).

„In nur zwei Generationen ist die Menschheit zu einer geologischen Macht geworden, die auf den ganzen Planeten wirkt“, sagt Steffen. Die Natur gerate allmählich in einen neuen, in der Menschheitsgeschichte unbekannten Zustand, der sich als Wechsel in ein neues Erdzeitalter bemerkbar machen werde. Das seit 11700 Jahren andauernde Holozän mache dem Anthropozän Platz.

Viele Wissenschaftler geben den Start des neuen Zeitalters sogar auf den Tag genau an: den 16. Juli 1945, den Tag der ersten Explosion einer Atombombe. Diesen Termin schlägt jetzt auch eine Arbeitsgruppe vor, die die Frage nach dem neuen Erdzeitalter geologisch untersucht (Quarternary International, online). Danach sei bis 1988 im Mittel alle zehn Tage eine weitere Bombe gezündet worden, schreibt das Team um Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester. Jede Erdschicht, die danach entstehe, werde radioaktiven Fallout enthalten.

Die beiden Konzepte, das Anthropozän und die planetaren Grenzwerte, hängen eng zusammen. „Die Belege für die beschleunigten Veränderungen im Anthropozän sind sozusagen die Diagnose des grundsätzlichen Problems“, sagt Will Steffen, „und die planetaren Grenzwerte sind der Vorschlag einer Lösung.“ Allerdings ist den Forschern klar, dass es damit nicht getan ist. Wissenschaftler könnten der Menschheit nichts diktieren, sie müssen Regierungen und Konzernlenker überzeugen. Steffens Team will die Studien kommende Woche den Teilnehmern des Weltwirtschaftsforums in Davos vorstellen.

„Was für eine Gruppe von Intellektuellen akzeptable Grenzen sind, muss nicht auch für die Gesellschaft akzeptabel sein“, bestätigt Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Eine Veränderung als „gefährlich“ anzusehen, sei ein Werturteil, keine wissenschaftliche Tatsache. Aber es sei auf jeden Fall sinnvoll, wenn Forscher die Menschheit – auch ungefragt – darüber informierten, wo Veränderungen zu erwarten sein.

Und gerade die Idee, dass die Menschheit die eigenen Lebensbedingungen destabilisieren könnte, motiviert etliche Politiker, sich dem entgegenzustellen. „Die Studie zeigt einmal mehr, welch dramatische Krise wir mit unserer Wirtschaftsweise auslösen“, sagt Annalena Baerbock aus der Grünen-Fraktion im Bundestag. Solche Erkenntnisse sind zumindest in Deutschland auch keine Frage der Parteizugehörigkeit. „Wir Menschen sind nicht eine unbedeutende Art von Lebewesen, wir überformen diesen Planeten“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse, der die Idee vom Anthropozän politisch fördert. „Was wir tun, ist von existenzieller Bedeutung für den ganzen Planeten. Das heißt, wir müssen Fehler korrigieren oder am besten gleich vermeiden.“

„Erlebnisse machen glücklicher als Dinge“

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Elizabeth Dunn stößt schwungvoll die Tür zum Café auf, über ihren Schultern eine Sporttasche. „Entschuldigung, dass ich hier im Sportoutfit auftauche, ich konnte es nicht anders in meinen Terminkalender quetschen“, entschuldigt sie sich mit einem Lächeln. Die Psychologieprofessorin der kanadischen University of British Columbia in Vancouver gehört ganz gewiss nicht zu jenen Glücksforschern, die sich auf die Suche gemacht haben, weil sie selbst unglücklich sind. Glück und Geld sind ihre zentralen Forschungsgegenstände. „Ich mach das schon“, sagt sie an der Kasse, und im Handumdrehen sind die Tassen Kaffee per Handy bezahlt.

SZ: Frau Dunn, reden wir über Geld. Wer ist jetzt glücklicher von uns: Ich, weil ich einen Kaffee geschenkt bekommen habe, oder Sie, weil Sie ihn mir bezahlt haben?

Elizabeth Dunn (lacht): Oh, ich war wohl etwas schnell an der Kasse. Ja, tatsächlich wird man glücklicher, wenn man sein Geld für andere ausgibt. Das haben mehrere unserer Versuche bestätigt. Wir haben einer Versuchsgruppe eine Geldkarte gegeben, mit der sie sich Kaffee holen konnten, und einer zweiten Versuchsgruppe haben wir die Karten gegeben mit der konkreten Anweisung, Freunde damit einzuladen. Am Ende zeigte die Gruppe, die ihre Freunde eingeladen hat, deutlich höhere Glückswerte.



Geld macht in gewisser Weise glücklich - sagt Psychologieprofessorin Elizabeth Dunn.

Warum macht das Kaffee-Spendieren glücklich?

Es verstärkt die Freundschaft – und das macht die meisten Menschen glücklich.

Also macht doch nicht Geld glücklich, wie Sie in Ihrem Buch behaupten, sondern etwas Unkäufliches wie Freundschaft?

Das schließt sich nicht aus, sondern ergänzt sich. Wenn Ihnen Freundschaft wichtig ist, dann kann Geld dabei helfen, diesem Ziel näher zu kommen. Ich habe zum Beispiel in den vergangenen Tagen eine Freundin zum Essen eingeladen, die gerade viel zu Hause ist, weil sie ein Baby hat. Klar, wir hätten auch einfach spazieren gehen können, das kostet nichts, aber es hätte nicht so viel Spaß gemacht! Oder ein anderes Beispiel: Wenn Freunde weit weg wohnen, erlaubt es Geld, dass man sie trotzdem sieht. Man investiert es in Flugtickets. Klar kann man auch telefonieren, aber das ist auf der emotionalen Ebene nicht so wirkungsvoll wie der direkte Kontakt. Wenn Menschen sagen, dass man die wichtigsten Dinge im Leben nicht kaufen kann, ist das richtig. Aber Geld hilft ihnen, ihre Ziele zu erreichen.

Egal, welche Ziele?

Nicht ganz. Studien zeigen, dass uns solche Ziele glücklicher machen, die von innen heraus kommen, Wissenschaftler nennen das „intrinsisch motiviert“. Das ist etwa, wenn ich eine Karriere anstrebe, die ich inhaltlich für sinnvoll halte.

Sind Doktoren glücklicher als Investmentbanker?

Im Durchschnitt auf jeden Fall. Investmentbanker sind ganz unten auf der Skala, weil nur wenige von ihnen den Job wählen, weil sie ihn wirklich spannend finden. Die meisten machen das nur wegen des Geldes.

Na, aber wenn Geld glücklich macht ...

Man darf nicht unterschätzen, wie viel Zeit man in der Arbeit verbringt – gerade Investmentbanker arbeiten viel. Und deswegen verbringen sie ihre Zeit nicht mit dem, was sie wirklich glücklich macht – das lässt ihre Glückswerte so schlecht ausfallen.

Wie viel Geld geben Sie denn so Tag für Tag aus, um glücklich zu sein?

Oh, das ist eine schwierige Frage. Wahrscheinlich gar nicht so viel. Im Moment sogar besonders wenig, weil ich kurz vor der Abgabe einer wichtigen Arbeit stehe. Da sitze ich fast nur hinter dem Schreibtisch. Aber es geht auch nicht um eine bestimmte Summe. Unsere Studien haben gezeigt, dass es gar nicht darauf ankommt, wie viel Geld man ausgibt, sondern wie man es ausgibt.

Und wie macht man das?

Generell kann man sagen: Erlebnisse machen glücklicher als Dinge. Wenn man Erwachsene fragt, an was sie sich in ihrer Kindheit erinnern, so sind das fast immer tolle Erlebnisse, nicht Spielzeug. Es lohnt sich wohl also mehr, in Ausflüge statt in Dinge zu investieren. Ein anderer wichtiger Faktor ist Zeit. Die Menschen übersehen oft, welche Folgen ihre Investitionen auf ihre Zeit haben.

Wie meinen Sie das?

Eine meiner besten Investitionen war es, eine Putzfrau zu engagieren. Ich mag diese Arbeit überhaupt nicht und das hat früher immer meinen ganzen Samstag ruiniert. Seit ich die Putzfrau habe, haben meine Wochenenden eine ganz andere Qualität. So eine Investition macht viel glücklicher, als irgendein neues Kleid. Mein Tipp ist: Gehen Sie alle ihre Ausgaben durch und überprüfen Sie, welche Ihnen mehr Zeit für das geben, was Ihnen wirklich wichtig ist. Manchmal muss man auch ums Eck denken: Unser Hund etwa hat meine Zeitverwendung total verändert. Seit wir ihn gekauft haben, verbringen wir viel mehr Zeit draußen. Man lernt auf der Hundewiese Menschen kennen, das sind neue soziale Kontakte – all das macht glücklicher.

Was wäre denn eine zeitliche Fehlinvestition?


Sich ein Haus weit draußen zu kaufen. Denn zur Arbeit pendeln müssen macht allen Studien zufolge unglücklich. Dazu gibt es eine beeindruckende Zahl: Eine Stunde mit dem Auto zur Arbeit pendeln ist in etwa so schlecht für die Glücksstatistik wie gar keinen Job zu haben.

Was ist mit Investitionen, die meine Zeitverwendung nicht verändern? Zum Beispiel ein neues Auto? Manche würden sagen, dass sie das glücklich machen würde.

Ja, aber nicht für lange Zeit. Denn dann hat man sich an den neuen Luxus gewöhnt und bemerkt es gar nicht mehr. Das ist übrigens der nächste wichtige Punkt: Immer wenn man sich an etwas gewöhnt hat, ist es ein Zeichen, dass man seine Ausgaben überdenken sollte. Mein Tipp ist: Schauen Sie sich alle Ausgaben an und überlegen Sie, ob es Dinge gibt, auf die man eine Weile verzichten könnte.

Sie meinen, es macht glücklicher, wenn man Geld gerade nicht ausgibt? Widerspricht das nicht Ihrer These?

Oh nein, überhaupt nicht. Wenn man eine Weile auf etwas verzichtet, das reine Gewohnheit geworden ist, dann erlebt man es später wieder intensiver, wenn man es sich wieder erlaubt.

Eine Art Fastenkur?

So in der Art. Ich habe früher immer Mokka getrunken. Nein, eigentlich war ich schon süchtig danach. Eines Tages bin ich Auto gefahren und habe gleichzeitig einen Mokka runtergeschüttet. Ich habe gar nicht mehr bemerkt, dass ich ihn trinke. Das war der Punkt, an dem ich dachte: Ok, du solltest mal Stopp machen. Jetzt bestelle ich immer einen normalen Filterkaffee und nur ab und zu, am Wochenende oder bei besonderen Gelegenheiten erlaube ich mir einen teuren Mokka, den ich dann besonders genieße.

Gibt es eine Grenze, ab der mehr Geld nicht mehr glücklich macht?

Dazu gibt es gute Studien. In den USA liegt die erste Schwelle bei einem Jahreseinkommen von 75000 Dollar. Ab dann zeigt man keine zusätzlichen positiven Emotionen mehr, das heißt, man lächelt oder lacht dann an einem durchschnittlichen Tag nicht öfter als unterhalb der Schwelle. Was dann aber dennoch steigt – und zwar bei weit über 120000 Dollar pro Jahr – ist die Einschätzung der Lebenszufriedenheit. Man misst Glück wissenschaftlich in drei Komponenten: Positive Einflüsse, die Abwesenheit von negativen Einflüssen und die Einschätzung, wie glücklich und zufrieden die Person mit dem Leben als Ganzes ist. Einkommen wirkt auf diese drei Komponenten unterschiedlich. Geld wirkt am stärksten auf die negative Komponente, will heißen: Geld kann helfen, negative Einflüsse zu verhindern. Es ist weniger effektiv, wenn es um die positiven Einflüsse geht. Nur wenn man es richtig einsetzt, kann man es auch positiv wirken lassen.

Sie sagten, dass der Zeitfaktor zentral ist. Könnten Unternehmen ihre Mitarbeiter mit Zeit belohnen, statt Lohn zu zahlen?

Da gibt es viele Möglichkeiten, die Arbeitszufriedenheit enorm zu erhöhen. Sabbaticals sind ein gutes Beispiel. Am besten funktioniert das, wenn diese Programme Hand in Hand mit den Werten des Unternehmens gehen. Die Outdoor-Kleidungsmarke Patagonia etwa erlaubt ihren Mitarbeitern nach einer bestimmten Zeit, für zwei Monate an einem Umweltprojekt mitzumachen.

Wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter sonst noch glücklicher machen?

Manche Unternehmen erlauben Mitarbeitern, sich gegenseitig kleine Anerkennungsboni zu geben, sie schreiben dazu einfach nur ein paar Zeilen, warum es der andere Mitarbeiter verdient hat. Das ist für das Unternehmen nicht viel Geld, die Boni müssen nicht hoch sein, schon 100 Dollar sind sehr effektiv. Ein anderer Weg geht über Spenden. Häufig spenden Unternehmen einen bestimmten Betrag für einen guten Zweck. Wenn sie diese Summe auf die Mitarbeiter aufteilen und jeden Mitarbeiter bestimmen lassen, wofür sie spenden wollen, dann erhöht das definitiv die Arbeitszufriedenheit. Die Mitarbeiter sind dadurch aktiv mit einbezogen, sie haben das Gefühl, etwas Gutes tun zu können.

Macht Sie die berufliche Jagd nach Glück nicht manchmal verrückt, wenn Sie versuchen, alle Regeln anzuwenden?

Definitiv mache ich mir über manche Investitionen viel zu viel Gedanken, das stimmt. Aber andererseits haben mir die Regeln dabei geholfen, manche Ausgaben zu akzeptieren, weil sie meine Ziele voranbringen. Ich glaube, das ist wie bei einer Diät: Wenn man versucht abzunehmen, aber die falschen Ratgeber hat, funktioniert es nicht. Aber wenn man es richtig angeht, wenn man die richtige Strategie wählt, dann funktioniert es. Das stimmt auch für Glück: Es ist nichts daran falsch, Glück zu verfolgen, solange man die richtigen Strategien hat. Und genau daran arbeite ich ja.

Warum wurden Sie Glücksforscherin? Waren Sie total unglücklich?

Es gibt eindeutig zwei Lager. Es heißt ja bei allen Psychologen, dass sie das Fach wählen, weil sie ein Problem haben, oder weil sie besonders gut darin sind. Ich komme ganz sicher aus dem zweiten Lager. Mich hat das Studium bei Dan Gilbert an Harvard fasziniert, und deswegen bin ich dabei geblieben.

Und heute sind Sie glücklicher als vor 16 Jahren, als Sie mit der Glückswissenschaft begonnen haben?

Wissenschaftlich lässt sich das kaum beantworten. Da bräuchte ich ja eine Vergleichsgruppe zu mir, schließlich hat sich in meinem Leben viel verändert. Ich war, glaube ich, schon immer ein fröhlicher Mensch.

„Erstmals ist Frieden möglich“

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2014 sollte das Jahr des Friedens werden. Nach einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg, nach 250000 Toten und sechs Millionen Vertriebenen sei in Kolumbien die Zeit reif, für einen dauerhaften Waffenstillstand. So hatte es Staatspräsident Juan Manuel Santos, 63, einst angekündigt. Es kam anders. 2014 endete mit der Entführung eines hochrangigen Generals durch die linke Guerilla-Truppe Farc, mit anhaltenden Kämpfen sowie mit wachsender Skepsis seitens der kriegsmüden Bevölkerung. Unterm Strich war 2014 also auch nur eines von vielen verschenkten Jahren für Kolumbien.



Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos versprach bereits im letzten Jahr ein Ende des Bürgerkriegs. Nun scheint es tatsächlich Bewegung im Friedensprozess zu geben.

Doch der Präsident bleibt stur. Der im vergangenen Jahr mit knapper Mehrheit wiedergewählte Santos hat sein zentrales Wahlversprechen ins neue Jahr mitgenommen. Am Mittwochabend kündigte er in einer Fernsehansprache an: „2015 könnte eines der wichtigsten Jahre in der Geschichte unseres Landes werden.“

Santos ist nicht für Zurückhaltung bekannt. Aber in diesem Fall scheint es tatsächlich Bewegung im Friedensprozess zu geben. Seit dem Jahreswechsel mehren sich die Hinweise auf eine dauerhafte Aussöhnung zwischen der Regierung und den Farc-Rebellen. Santos selbst hat in diesen Tagen einen möglicherweise entscheidenden Kurswechsel unternommen. Er ist jetzt offenbar bereit, die Bekämpfung der Farc so lange auszusetzen, bis ein Friedensvertrag vorliegt. Die Regierung Santos und die Rebellen verhandeln seit November 2012 im kubanischen Havanna über die Einzelheiten eines solchen Abkommens. Santos sagte am Mittwochabend: „Ich habe den Unterhändlern Anweisungen gegeben, so schnell wie möglich eine Diskussion über einen definitiven bilateralen Waffenstillstand in Gang zu bringen.“ Nur einige Stunden später reagierten die Farc mit einem Antwortschreiben. Die Überschrift lautet: „Wir sind bereit!“

Die Rebellen hatten ihre Bereitschaft bereits am 20. Dezember untermauert, als sie ihrerseits einen einseitigen Waffenstillstand verkündeten. Santos dagegen hatte bislang stets betont, dass die Farc so lange militärisch bekämpft werde, bis in Havanna eine endgültige Übereinkunft erzielt werde. Offenbar auf Druck des Militärs hatte er stets auf dem Standpunkt beharrt, die Rebellen würden eine Kampfpause nur zur Wiederbewaffnung nutzen. Seine Devise lautete: „Verhandeln, als gäbe es keinen Krieg und die Offensive aufrechterhalten, als gäbe es keinen Friedensprozess.“

Nun hat Santos erstmals vor laufenden Kameras eingeräumt, dass diese Strategie widersprüchlich ist. So sieht das auch die fünfköpfige Delegation der Farc in Havanna. In ihrer jüngsten Depesche teilt sie mit: „Der gesunde Menschenverstand besagt, dass es nicht zusammenpasst, wenn man vom Frieden redet und gleichzeitig die Fortsetzung des Kriegs anordnet.“ Sollten die Streitkräfte ihre Angriffe nicht sofort aussetzen, sei der Waffenstillstand vom 20. Dezember akut gefährdet. Dass der Präsident nun offenbar bereit ist, eine der zentralen Forderungen der Guerilla-Kämpfer zu erfüllen, wird von Beobachtern als der erste ernsthafte Versuch seit Langem gewertet, um den seit 1964 andauernden Konflikt endlich beizulegen.

Auch Santos glaubt: „Erstmals seit 50Jahren ist der Frieden wirklich möglich.“ Bis es so weit ist, dürften in Havanna allerdings noch zähe Gespräche anstehen. Von den sechs Verhandlungspunkten sind bislang nur drei zur Zufriedenheit beider Seiten erledigt. Vor allem die Frage, wie die unzähligen Opfer und ihre Angehörigen der vergangenen fünf Jahrzehnte entschädigt werden sollen, ist ungeklärt.

Doch Santos ist offenbar fest entschlossen, als Versöhner in die Historie einzugehen. Er muss dabei aber auch darauf achten, dass sich die rechtskonservativen Teile der Bevölkerung nicht gegen ihn auflehnen. Die werden vor allem von seinem Vorgänger Álvaro Uribe vertreten, der rastlos gegen jede Form einer Amnestie für die Rebellen wettert. Der immer noch mächtige Uribe kommentierte die jüngste Friedensinitiative des Präsidenten so: „Santos fördert den Terrorismus.“
Die Fehde zwischen den einstigen Weggefährten und heutigen Erzfeinden Santos und Uribe dreht sich nicht zuletzt um die Frage, ob Krieg oder Frieden in Kolumbien populärer ist. Doch inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass die Stimmung tatsächlich zugunsten des Friedens kippen könnte.
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