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Ich und islamophob?!

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Jetzt habe ich es schwarz auf weiß: Ich bin islamophob. Auf dem Bildschirm vor mir steht eindeutig, dass ich Abneigungen gegenüber Muslimen habe und anderen Menschen gegenüber positiver eingestellt bin:





Ich habe einen IAT-Test im Internet gemacht. IAT steht für „Implicit Association Test“. Damit misst man unterbewusste Vorurteile. Vorurteile, von denen wir eventuell gar nicht wissen, dass wir sie haben. Und sogar Vorurteile, die wir entschieden von uns weisen – wie ich die Ressentiments gegenüber Muslimen. Das ist ja das Erschreckende: Ich halte die Angst der „patriotischen Europäer“ vor der angeblichen "Islamisierung" für Schwachsinn und die Instrumentalisierung der Terroranschläge in Paris für Fremdenhass und Populismus grauenhaft. Wieso dann dieses Ergebnis?

Der Test ist simpel. Auf dem Bildschirm vor mir blinken auf schwarzem Hintergrund Namen und Begriffe auf. Namen wie Hakim oder Yousef, Ernesto oder Matthias. Positiv behaftete Begriffe wie „Liebe“, „Frieden“, „Schönheit“, negative Begriffe wie „schrecklich“ oder „Tod“. Ich soll die Begriffe mit den Pfeiltasten meiner Tastatur Kategorien zuordnen, zum Beispiel die negativen Begriffe und die europäischen Namen nach links, die positiven und die arabischen Namen nach rechts. Das Ganze wiederholt sich in unterschiedlichen Kombinationen – und bei der zweiten ahne ich schon, dass das Testergebnis mich nicht erfreuen wird.

Denn sobald ich die negativen Begriffe und die arabisch-muslimischen Namen auf dieselbe Seite sortieren soll, reagiere ich schneller. Die Kategorisierung geht mir plötzlich leichter und intuitiver von der Hand: Salim, nach links. Ernesto, nach rechts. Bosheit, links, hässlich, links. Freude, rechts, John rechts.





Die Entscheidungen fallen in Sekundenbruchteilen, ich soll ja möglichst schnell handeln und habe gar keine Zeit zum Nachdenken. Das heißt: In meinem Gehirn sind die Kategorien „schlecht“ und „muslimisch“ schon so miteinander verknüpft, dass ich sie automatisch leichter miteinander in einen Zusammenhang bringen kann. Egal, ob mir das gefällt oder nicht. Und egal, ob ich mich für offen und tolerant halte oder nicht.

Solche unterbewussten Vorurteile werden in der Psychologie schon länger untersucht. Evolutionstheoretisch ergeben sie sogar Sinn: Unser Gehirn ist ständig damit beschäftigt, die vielen Reize, die wir wahrnehmen, in Kategorien zu pressen, damit wir im Ernstfall instinktiv die richtige Entscheidung treffen. Es ist ja nicht unpraktisch, dass wir automatisch die Flucht ergreifen, wenn uns ein brüllender Löwe begegnet. Dieser Reaktion liegt die Annahme zugrunde, dass alle Löwen uns fressen wollen, und die dürfte der Menschheit insgesamt eher genützt als geschadet haben.

Zum Problem wird es nur, wenn das Gehirn auch bei Menschen nach diesem Muster reagiert und automatisch „Vorsicht!“ schreit. Etwa, wenn wir am Flughafen einen arabisch aussehenden Mann mit langem Bart sehen. Oder wenn ein Polizist in den USA auf einen verdächtigen Jugendlichen mit schwarzer Hautfarbe trifft.

Unser Gehirn signalisiert "Gefahr!" - in der Evolution ist das praktisch, im Alltag ein Problem



In einer dem IAT ähnlichen Versuchsanordnung namens „Weapons Identification Task“ müssen Polizisten sehr schnell entscheiden, ob sie auf die abgebildete Person schießen würden oder nicht. Die Person hält eine Waffe in der Hand oder einen anderen Gegenstand wie eine Coladose oder einen Schraubenschlüssel – und ist schwarz oder weiß. Das Ergebnis: Die Polizisten brauchten länger, einen unbewaffneten Schwarzen als solchen zu identifizieren als im Fall eines unbewaffneten Weißen. Den Schießen-Knopf drückten sie hingegen schneller, wenn der bewaffnete Mann schwarz war als im Fall eines Weißen.

Unser Gehirn merkt sich also auch Falsches. Die Gleichung „arabisch aussehender Mann = Gefahr“ stimmt nicht, aber wir bekommen sie so oft genug zu hören und zu sehen, dass sich diese Fehlinformation einnistet, selbst wenn wir sie als falsch identifizieren und gar nicht an sie glauben. Ich weiß, dass man wegen der Terroristen, die in Paris ein Blutbad angerichtet haben, Muslime auf keinen Fall unter Generalverdacht stellen darf. Meinem Gehirn ist das aber egal. Vermutlich werde ich deshalb früher oder später wieder eine Reaktion zeigen, für die ich mich schon eine Sekunde später schäme: ein kurzes Erschrecken vor einem Mann mit Bart und ein arabischen Gewand zum Beispiel.

Am Ende meines Tests sehe ich, dass ich da bei weitem nicht der Einzige bin. Mir wird angezeigt, wie andere reagiert haben: Die Hälfte der Teilnehmer hatte eine leichte bis starke automatische Abneigung gegenüber Muslimen, ein Viertel zeigte keine Präferenz und ein weiteres Viertel bevorzugte Muslime.





Kritiker des IAT sagen, man dürfe seine Ergebnisse nicht überbewerten. Klar: Wer Schwarze häufiger mit negativen Begriffen assoziiert, wird sie nicht zwangsläufig auch im Alltag benachteiligen. Auch mein Testergebnis macht mich nicht zu einem Rassisten, und ich werde auch weiterhin keine arabisch aussehenden Mitbürger verprügeln. Trotzdem macht mich das Ergebnis nachdenklich: Denn meinen falschen Reaktionen liegen ja Einflüsse zu Grunde – Dinge, die ich lese, sehe, höre und denke. Irgendwo muss mein Gehirn ja gelernt haben, welche Assoziationen es mit Muslimen verbinden soll.

Genau das ist aber auch eine gute Nachricht ist: Denn es bedeutet, dass wir unser Gehirn umerziehen können. Wir können die Einflüsse steuern, indem wir Stereotypen bewusst etwas entgegensetzen. Forscher wiesen ihre Probanden an, jedes Mal bewusst das Wort „safe“ zu denken, wenn sie eine Person mit schwarzer Hautfarbe sahen. Als sie danach im „Weapons Identifications Task“ schnell auf Leute mit oder ohne Waffe reagieren mussten (und man also schießen sollte), waren sie in ihren Entscheidungen 10 Prozent öfter korrekt als eine Vergleichsgruppe. Es ist fast absurd, wie leicht sich unser Gehirn da austricksen lässt

Was lernen wir daraus? Vielleicht, dass es nicht nur wichtig ist, jeder Form von Hetze gegen den Islam als Religion entgegenzutreten. Sondern auch, dass wir alle Vorurteile haben, an denen wir arbeiten können. Auch wenn wir sie bislang gar nicht kannten.

Contenance im dritten Bein, bitte!

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Das dritte Bein
Juhu, wir haben berechtigten Anlass, den Satz "Endlich sagt es mal jemand!" zu schreiben. Also, endlich sagt es mal jemand: Die schwedische Musikerin Zara Larsson hat sich ein Kondom als Kniestrumpf angezogen, ein Foto davon gemacht und mit dem Kommentar: "To all the guys who say "my dick is too big for condoms" TAKE A SEAT" auf Instagram hochgeladen. Bedanken möchten wir uns auch bei Elite Daily, die Larssons Aktion mit den Worten: "Condoms might not be the most comfortable things in the world, but unless you literally have a third leg, you really don’t have a leg to stand on" kommentierte.





Doppelt hält besser

Es war einmal, äh, zweimal ... ein Penis. Na gut, lassen wir die schlechten Witzchen beiseite und stellen den Mann der Stunde vor: Mr. DoubleDickDude! Der Mann hat zwei Penisse da, wo andere nur einen haben. Klingt nach Bullshit oder einem gar schrecklichem Schicksal, ist aber nach Aussagen des Besitzers weder das eine, noch das andere. Seine beiden "Wiener", so der Mann, seien nicht nur voll funktionstüchtig, sondern auch ganz ordentlich anzusehen.

In der Wissenschaft bezeichnet man dieses Wunder der Natur übrigens als„Diphallie“. Nur einer unter 5,5 Millionen Menschen ist damit gesegnet. Man munkelt übrigens, der Herr DoubleDickDude sei ein äußerst fescher Bursche. Bilder von seinem Gesicht lädt er, selbstverfreilich, nicht hoch, denn: „Wenn Superman gegenüber der Welt zugegeben hätte, dass er Clark Kent ist, wäre er niemals alleine gelassen worden. Wenn ich an die Öffentlichkeit gehen würde und vor die Kamera, wäre ich von diesem Moment an der Typ mit zwei Penissen und nicht mehr ich." Auf Reddit meldete sich unser gut beschwanzter Supermann übrigens schon vor Jahren erstmals zu Wort, sein Beitrag avancierte zu einem solchem Erfolg, dass er sich dazu entschloss, ein Buch zu schreiben - das nun erschien.


Die Geilheit der Welt
Bei uns im Sexressort gilt die Regel: Es ist nie zu spät für einen kleinen Jahresrückblick. Das Porno-Portal Pornhub (muss bei dem Begriff eigentlich noch jemand immer an Hubschrauber mit nackten Leuten drin denken?) hat seine Suchbegriff-Statistiken des Jahres 2014 veröffentlicht.

Und, was sagt die Lust der Menschen im 21. Jahrhundert? Zum Beispiel, dass die Menschen für immer süchtig nach der Jugend bleiben und so alles, was mit „Teen“ zu tun hat, weltweit am meisten gesucht und geklickt wird. Oder auch, dass Frauen halt doch schöne anzusehen sind als Männer, denn gleich nach dem Stichwort „Teen“ kommt: „Lesbian“. Und zuletzt, dass die Liebe siegt, oder so ähnlich. Das meistkommentierte Wort des Jahres lautet nämlich: „Love“.

[plugin imagelink link="http://www.pornhub.com/insights/wp-content/uploads/2014/12/pornhub-2014-top-searches-world.jpg" imagesrc="http://www.pornhub.com/insights/wp-content/uploads/2014/12/pornhub-2014-top-searches-world.jpg"]

(Achso, und kann mal jemand erklären, warum das Suchwort „cartoon“ noch über „threesome, „anal“, „gangbang“ oder „asian“ kommt?)

Arschie
Bist du auch einer von diesen passionierten Selfie-Postern? Ja? Na dann müssen wir uns ja nichts mehr vormachen, du weißt es, wir wissen es, "Belfie" weiß es: In Wahrheit würdest du am liebsten gleich deinen hübschen Arsch posten. Kannste nur nicht, weil anatomisch umständlich. Bis jetzt! Bis Belfie! Schade, dass Weihnachten schon vorbei ist, wär doch endlich mal ein guter Geschenkauftrag für Oma gewesen, die immer nur jammert: Kinder, lasst euch doch mal wieder was Richtiges einfallen, nicht immer nur Geld!





LASAGNA
Keine Sorge, wir werden nicht so tun, als wäre nicht schon alles über Sexting gesagt worden. Aber dieses Video ist schon sehr lustig und könnte ruhig ein kleiner Spielfilm werden. Wir würden dafür ins Kino gehen.

https://www.youtube.com/watch?v=3iStKQYFkQU

Der Hochzeits-Irrtum
So, nach so viel verdorbenem Content zum Ausklingen etwas Harmloses, das jedem gefällt: Kinder, die in Videos absurden Quatsch reden! Beziehungsweise, pardon, für dieses Mädchen ist es schließlich purer Ernst, was sie da behauptet. Nicht ihre Mutter, sondern sie höchstselbst ist mit ihrem Vater verheiratet. Damit das schon mal klar ist.

https://www.youtube.com/watch?v=k_c24iXDsPU

Aufstieg im Chaos

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Shanghai – Rund um den Jahreswechsel hängen die Wolken in Indonesiens Hauptstadt Jakarta tief. Die nahezu täglichen Gewitterstürme im Dezember und Januar kühlen nicht nur die Lufttemperatur etwas ab, sie verlangsamen auch vorübergehend das Tempo des Alltags in der Megacity, die ansonsten pulsiert wie kaum eine andere Metropole der Region. Jakarta ist das Zentrum der größten Volkswirtschaft Südostasiens, die in den vergangenen fünf Jahren um durchschnittlich sechs Prozent wuchs. Hier schlägt das Herz des wirtschaftlichen Aufstiegs des Landes.

Immer mehr Menschen nehmen Kurs in Richtung Wohlstand und verursachen in Jakarta vor allem eins: Stau. Die Hauptverkehrsadern kommen regelmäßig zum Stillstand. Zwischen dem Kreisverkehr am Hotel Indonesia und dem Merdeka Platz mit dem Palastgebäude und dem Nationalmuseum drängen sich so viele Fahrzeuge, dass Fußgänger häufig schneller am Ziel sind. Neben einer wachsenden Anzahl an Autos bahnen sich neun Millionen Motorräder den Weg durch die Stadt. Zwei Hauptrouten sind jetzt sogar für Zweiräder gesperrt, um einen Teil der Pendler zur Nutzung öffentlicher Transportmittel zu bewegen.



Jakarta Im November 2014. Die Wirtschaft wächst, manche Experten sehen sogar potential für zweistellige Wachstumsraten.


Der Verkehr kollabiert auch, weil der Sprit so billig ist. Die Regierung subventioniert den Verbrauch. Ein Liter kostet seit dem 1. Januar nur noch 7600 Rupiah, umgerechnet gut 50 Cent. Das sind mehr als zehn Prozent weniger als zuvor, obwohl die Subventionen gekürzt wurden. Die Regierung will ihre Ausgaben verringern. Der sinkende Ölpreis auf dem Weltmarkt verschafft ihr jetzt die Möglichkeit, die staatliche Unterstützung zu kürzen und dennoch die Last für die Verbraucher zu senken. Das hilft besonders den Geringverdienern. Die Inflation kletterte im Dezember auf ein Sechsjahreshoch von fast neun Prozent.

Doch der Ölpreis drückt wie anderswo auch auf den Wert der eigenen Währung. Die Pessimisten fürchten eine Delle in der Weltwirtschaft, die Indonesien als beliebten Produktionsstandort der globalen Wertschöpfung stark treffen würde. Der gleichzeitige Höhenflug des Dollar und die Hoffnung von Investoren auf eine Zinserhöhung der Fed sorgen für einen schmerzhafte Kapitalabfluss, unter dem die Rupiah leidet. Der Kurs der Währung fiel kurz vor Weihnachten auf den tiefsten Stand seit August 1998. Damals traf die Asienkrise die Schwellenländer der Region mit brutaler Wucht.

Für Panik gibt es mehr als 16 Jahre später jedoch kaum einen Grund. Die Inflation entwickelt sich bei aller Sorge vergleichsweise gemütlich wie zu Zeiten der Krise, als sie auf 78 Prozent hochschnellte. Der Leitzins liegt heute bei 7,75 Prozent, geradezu schwindelerregend tief im Vergleich zu den 60 Prozent von damals. Die Folge der enorm hohen Kapitalfinanzierung waren 1998 etliche faule Kredite. Auch die Auslandsschulden und die Staatsschulden sind heute markant geringer. Und immer noch wächst die indonesische Wirtschaft. Im vergangenen Jahr zwar nur noch um 5,1 Prozent, doch Analysten sind optimistisch, dass die Konjunktur 2015 wieder schneller zulegt. Im Jahr der Asienkrise dagegen schrumpfte die Wirtschaft um 13 Prozent.

Manche Ökonomen sehen in Indonesien sogar das Potenzial für zweistellige Wachstumsraten. Das Buch „The Economic Choices Facing the Next President“ von Gustav Papanek und anderen Wirtschaftsforschern zeichnet den Pfad vor. Im Sog eines kontinuierlichen Reformprozesses, der den fairen Wettbewerb fördern muss, könnten sich in den nächsten Jahren etliche Unternehmen für eine Verlagerung ihrer Produktionsanlagen aus China nach Südostasien entscheiden. Schon sieben Prozent des chinesischen Anteils an der weltweiten arbeitsintensiven Industrie würden 21 Millionen Arbeitsplätze in Indonesien schaffen. Das wäre genug, um die wachsende Anzahl der Arbeiter auch in Zukunft zu versorgen.

Geschichte einer Radikalisierung

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Der Name der mutmaßlichen Täter lautet Kouachi. Saïd Kouachi und Chérif Kouachi; Söhne algerischer Einwanderer. Der ältere der Brüder wird am 7. September 1980 geboren, der Jüngere am 29. November 1982. Beide auf dem rechten Seine-Ufer im 10. Pariser Arrondissement, dem Arrondissement de l’Entrepôt. Geboren in derselben Stadt, in der sie gut 30 Jahre später zwölf Menschen töten werden.



Saïd Kouachi und Chérif Kouachi, die am vergangenen Mittwoch die Satirezeitschrift Charlie Hebdo überfallen und zwölf Menschen getötet haben sollen.

Saïd und Chérif Kouachi verlieren früh ihre Eltern. Einen Teil ihrer Kindheit verbringen sie im westfranzösischen Rennes in einem Heim, bis sie in eine Pflegefamilie kommen. Der neue Vater ist Franzose, zum Islam übergetreten. Sie wachsen auf in einem Einwanderer-Viertel, wie so viele ohne große Hoffnung, einen guten Platz im Leben zu finden. 2008 steht der jüngere Bruder mit drei anderen vor Gericht. Bei dem Prozess geht es um den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel, Terrorakte zu verüben. Auch Saïd Kouachi, der ältere, war festgenommen worden, kommt jedoch gleich wieder frei. Seinem Bruder drohen aber bis zu zehn Jahre Haft als Mitglied eines islamistischen Rings: der „ Buttes-Chaumont“, benannt nach dem Park in dem sich seine Mitglieder trafen.

Der Anwalt Vincent Ollivier, der Saïd Kouachi vertritt, sagte nach dem Prozess der Presse: „Das sind einfach junge Männer von 22 Jahren, die sich ein Ticket nach Syrien gekauft haben, inklusive Rückflug.“ Heute, direkt nach dem Attentat, sagt Ollivier: „Ich frage mich, ob wir nicht einfach Zeitbomben geschaffen haben, indem wir damals alle eingesperrt haben.“ Die Probleme, sagt Ollivier, begannen mit Farid Benyettou, den viele als „Guru“ bezeichnen, und der sich selbst zum „Emir“ ernannte.

Die vier jungen Männer vor Gericht, die sich von der Schule, von der Straße und vom Sportplatz her kennen und gelegentlich Jobs als Pizzaboten haben, sind wie viele andere Altersgenossen unter den Einfluss eines radikalen Islamisten geraten, unter den Einfluss von Farid Benyettou, auch er in Paris geboren, als Kind algerischer Eltern.

2003 lernen die Kouachis Benyettou in der Moschee Adda’wa im Viertel Stalingrad kennen, nicht weit vom Schnellstraßenring Périphérique, der die Stadt umschließt. Benyettou ist damals schon dabei, zu so etwas wie einer kleinen Berühmtheit zu werden. Seit seinem 16. Lebensjahr wohnt er mit dem polizeibekannten Salafisten Youssef Zemmouri zusammen, seinem Schwager. Von Ende 2000 an trägt Benyettou das arabische Kopftuch, die Kufiya. Dazu eine überdimensionierte Brille und lange, helle Locken. Der Polizei fällt er erstmals während Demonstrationen gegen das Kopftuchverbot auf. Er organisiert dort öffentliche Gebete. Ein Ermittler beschreibt, wie Benyettou sich einer Gruppe arabisch-traditionell gekleideter Jugendlicher gegenübersetzt und sie zum Gebet anleitet, „mit einer unglaublichen Inbrunst.“

Diese unglaubliche Inbrunst kann man den Brüdern Kouachi damals noch nicht attestieren. Noch während seines Prozesses 2008 bezeichnet sich Saïd Kouachi als „Gelegenheitsmuslim“. Er kifft und hat eine Freundin.

Benyettou ist es, der Kouachi mit Lektüre und Videos versorgt, die sein Phlegma in Aggression verwandeln. Der selbsternannte Emir schart junge Männer um sich, unterrichtet sie in dem, was er unter Islam versteht. Dazu gehört der Hass auf die USA, und auch dies: Dass für den Glauben mit der Waffe gekämpft werden muss. Das Netzwerk des „Buttes-Chaumont“ radikalisiert zwischen 2003 und 2006 Muslime, um sie als Krieger zu rekrutieren für den irakischen Arm der al-Qaida. Dutzende ließen sich dafür gewinnen, mindestens drei starben im Einsatz. Einer von ihnen als Selbstmordattentäter.

Es dauerte kein Jahr, sagen die vier Angeklagten vor Gericht, bis auch sie bereit waren, in den Krieg zu ziehen. Zur Ausbildung gehört nicht nur die weltanschauliche Unterweisung, sondern auch Fitnesstraining im Viertel, Laufen im Stadion und im Park von Buttes-Chaumont, bei jedem Wetter. Einer aus der Zelle gibt ihnen den ersten Unterricht im Gebrauch von Kalaschnikows. Auf dem Bahnsteig einer Metro-Station, zwischendurch, beim Warten auf den nächsten Zug.

Den Familien der jungen Männer fällt auf, dass sie nicht mehr rauchen und dealen. Dass sie in ihren Zimmern durch islamistische Websites surfen, bemerken sie nicht. Nach und nach brechen junge Männer aus der Gruppe über Syrien an die Front im Irak auf. In Syrien werden sie von Salafisten geschult. Ihren Angehörigen sagen sie, sie wollten ihr Koran- und Arabisch-Wissen vertiefen. Wer kneifen will, wird als Feigling niedergemacht.

Für Chérif Kouachi soll es im Januar 2005 in den Kampf gehen, doch die französischen Polizisten haben die Spur aufgenommen. Ehe er das Flugzeug nach Damaskus besteigen kann, wird er verhaftet. Als er in Sportklamotten und Basketballschuhen vor Gericht steht, sagt er, wie auch die anderen: Ihn hätten die Fernsehbilder von den amerikanischen Foltermethoden im Gefängnis von Abu Ghraib motiviert. Es sei ihm um Rache gegangen, schreibt die französische Libération. Er bekommt nicht zehn, sondern drei Jahre Haft, 18 Monate davon auf Bewährung.

Der Verteidiger von Chérif Kouachi lässt damals mitteilen, sein Mandant sei dankbar für die Haft, ihm Falle ein Stein vom Herzen. Und Thamer Bouchnak, der mit Kouachi zusammen hatte ausreisen sollen, sagt, er habe nur „ein Abenteuer mit seinem Freund Chérif“ erleben wollen. Thamer Bouchnaks Verteidiger beschreibt seinen Mandanten als einen Mann, der eigentlich Fußballspieler werden wollte und sich bei früheren Besuchen in Syrien sehr verloren gefühlt habe, da er schließlich kein Arabisch spreche. Chérif Kouachi, sagt die Verteidigung, sei damals ein „ahnungsloses Kind“ gewesen, „das nicht wusste, was es mit seinem Leben anfangen sollte, und das von einem Tag auf den anderen Leute traf, die ihm das Gefühl gaben, wichtig zu sein“.

Die Spur der Männer verliert sich nach 2008. Kouachi arbeitet an der Fischtheke in einem Supermarkt und macht Krafttraining. Erst im Jahr 2010 taucht sein Name erneut im Zusammenhang mit islamistischen Bestrebungen auf.

Die französische Anti-Terrorpolizei verdächtigte ihn, mit früheren Komplizen aus dem Umfeld von „Buttes-Chaumont“ einen Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis befreien zu wollen. Dabei handelte es sich um Ait Ali Belkacem, ein ehemaliges Mitglied der algerischen Gruppierung GIA, der wegen des Anschlags auf einen Pariser Regionalzug im Oktober 1995 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wieder wird gegen Chérif Kouachi ermittelt, von Mai bis Oktober 2010 sitzt er erneut im Gefängnis. Doch die Beweise reichen nicht für eine Anklage, die Ermittlungen werden 2013 endgültig eingestellt.

Sein älterer Bruder Saïd Kouachi, 34, spielt in diesen Ermittlungen nur eine kleine Rolle. Er taucht am 12. März 2010 in einer polizeilichen Überwachungsaktion auf. Aber wegen fehlender Hinweise kommen die Ermittler nicht weiter. Zeugen, die ihn nun nach den Morden in Paris auf Fahndungsfotos wiedererkannt haben, sagen, dass er zuletzt in Reims lebte und arbeitslos war. Er habe im Schatten seines Bruders gestanden.

Inzwischen gilt als sicher, dass die Brüder den Kontakt zu „Buttes-Chaumont“ nicht abreißen ließen. Eine Gruppe mit der auch einer der meistgesuchten Dschihadisten der Welt Kontakt hatte: Salim Benghalem. Sein Name taucht am 24. September auf einer Schwarzen Liste der USA auf. Der Franzose Salim Benghalem ist 34 Jahre alt, soll sich seit 2012 in Syrien aufhalten und ist laut amerikanischer Quellen Mitglied des Islamischen Staates und verantwortlich für zahlreiche Hinrichtungen.

Und eine weitere Figur gehörte nach Informationen des Magazins Le Point wohl auch zum Umgang von Chérif Kouachi: Djamel Beghal, der als Terrorist 2005 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde wegen eines geplanten Anschlags auf die Pariser US-Botschaft. Eine zweite Verurteilung datiert von 2013 – wieder wegen eines versuchten Terroraktes. Die Verbindungen reichen möglicherweise sogar noch weiter: Zum Netzwerk von Buttes-Chaumont gehörte auch der tunesischstämmige Franzose Boubaker al-Hakim, darauf wies nun der französische Islam-Experte Jean-Pierre Filiu hin. Al Hakim kämpfe jetzt für den IS in Syrien. Für Filiu ist es deshalb nicht anders vorstellbar, als dass der IS den Anschlag auf Charlie Hebdo in Auftrag gegeben hat.

Ob Chérif Kouachi und möglicherweise auch sein Bruder nach dem Prozess „Buttes-Chaumont“ als Dschihadisten die Praxis des Tötens und Überwindens aller Skrupel in Syrien gelernt haben, ist bisher Spekulation. Dass aber Chérif wie die Dschihadisten zu denken gelernt hatte, dafür hat er nun den Beweis geliefert.

Tagesblog - 9. Januar 2014

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15:04 Uhr Auch schon Angst vorm Wochenende wegen Freizeitstress, ihr "säftelnden Selbstoptimierer" (Originalzitat aus dem nun anzukündigenden Text) da draussen? Keine Sorge, ihr seid nicht allein, Jakob fühlt mit euch. Hier erzählt er, knallhart und grundehrlich, von dem Luxusproblem seines Lebens. So geht ihm doch bitte mit guten Tipps zuhülf!




Total verwackelt im Kopf vor lauter Freizeitärger: Jakob Biazza.

14:33 Uhr
Hier schreibt ein Teenagerüber seine Sicht auf soziale Netzwerke und das Leben mit dem Netz. Ein ziemlich superkluger-allesfirmer 19-jähriger ist das, der sich ziemlich gut auskennt. Oder bin ich einfach nur schon wahnsinnig alt und desinteressiert am Internet? Jedenfalls macht es Spaß zu lesen.

13:35 Uhr
Tucholsky kann man nicht genug zitieren, beziehungsweise lesen, deshalb hier einige seiner Worte über Satire. Danke @JosephineKilgannon.

12:09 Uhr
Boah, hab ich grad was Superes gefunden! Eine 45-minütige Doku über die Erstellung von grauenvollen, angsteinjagenden, dramatisches Geräuschen in Filmen. Zum Beispiel Godzillas Gebrüll und sowas. Da lernt man ein paar ordentliche Hausmittelchen zum Mitbewohner ärgern, ich sags euch. Einfach mal den roten Luftballon mit ins Schlafzimmer nehmen und schön ausgiebig mit den Finger drüber knartschen - das pimpt den sanften Schlummer garantiert zum Alptraum.

Hier bitte:

http://vimeo.com/114853672

12:08 Uhr
Und wer es doch nicht mehr hören kann, versucht es vielleicht mal mit dem hier:

http://www.youtube.com/watch?v=kS4ffX2Xk1U

12:03 Uhr
Höchstcharmanter Tipp aus der Grafikredaktion: Dieses Lied kann man vierzigtausend Mal hören, ohne dass es einen aufregt (und das, obwohl es Hobo-Mukke ist und so Sachen wie "rengdigigdenrigidigidigdeng" darin gesungen werden!!) und noch dazu ist das Video so schön lapidar und bescheiden.

http://www.youtube.com/watch?v=mCbUZ7hOGVw

11:25 Uhr
Alle Country-Hits des Jahres 2013, schreibt der Musikkritiker Grady Smith Ende 2013, sind eigentlich ein und derselbe Song. Verfall des Genres? Vielleicht ja auch eine genreübergreifende Entwicklung wegen Krise der Kulturindustrie? Sieht fast so aus, denn 2014 scheint sich nichts dran geändert zu haben. Jetzt hätt ich gern unsere Country-Expertin Christina Waechter zu Hand.

So long hier ein Video:

http://www.youtube.com/watch?v=FY8SwIvxj8o#t=52

11:18 Uhr
Wieder Interessantes zur Satire:

https://www.youtube.com/watch?v=K7X9gNQKTO4

10:01 Uhr:
Ich weiß, ihr wollt jetzt langsam mal ein buntes Bildchen, aber hier fängt jetzt die Konferenz an und ich hab keine Zeit für bunte Bildchen, ich muss noch vorher das hier verlinken: Jetzt haben die Verrückten auch noch Geisel genommen!

09:03 Uhr
Guten Morgen, Freunde und herzlich Willkommen zu einer neuen Folge "Tagesblog". Dass bereits der gesamte gestrige Tag im Zeichen der Satire stand, heißt noch lange nicht, dass es der heutige nicht auch wieder tun muss.

Ich hab ja schon vor einigen Wochen beschlossen, mir im Jahr 2015 endlich ein Titanic Abo zu gönnen, um die Welt besser zu ertragen (wobei ich ja zum Beispiel unsere To-Do-Liste für Wowi um Längen lustiger fand, als die Merkel-To-Do-Liste von Titanic, und ich daher stark hoffe, von dem Blatt nicht noch weitere Male enttäuscht zu werden) - aber jetzt denke ich auch, dass jede seriöse Tageszeitung am besten einmal die Woche ein eigenes Satiremagazin beilegen sollte. Save the Witz! Dazu sollte man auch das hier dringend lesen, aber das hat ja Jan gestern schon gepostet. Noch mehr Argumente und Gedanken dazu, wieso die Gegner des Witzes nicht durchkommen werden, gibt es heute morgen in diesem Kommentar von SZ-Chefredakteur Kurt Kister zu lesen.

Lockruf des Schreckens

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Wenn François, der Held und Ich-Erzähler in Michel Houellebecqs jüngstem Roman, durch Paris geht, trifft er überall auf Muslime, auf islamische Einrichtungen und auf islamische Lebensweisen. In seinen Lehrveranstaltungen sitzen verschleierte Frauen, er trinkt seinen Tee in der großen Moschee, isst in marokkanischen Restaurants, und selbst wenn er sich eine Prostituierte bestellt, kommt diese vorzugsweise aus einem arabischen Land. So dicht sind in diesem Buch die Referenzen an Ausdrucksformen des Islam und seiner Glaubensangehörigen gestreut, dass sie sich schnell zu einem Bild formen: Es ist nicht das Bild einer multikulturellen Gesellschaft, sondern ein Bild des Islam auf französischen Straßen. Es spiegelt nicht Vielfalt, sondern allenfalls eine Zweiheit, wenn nicht gar eine Einheit. Es ist das Bild, das zum Titel des Buches passt: „Soumission“, also „Unterwerfung“.



In Michel Houellebecqs neuem Roman "Unterwerfung" ist Frankreich im Jahr 2022 eine islamische Republik. Nach dem Attentat auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" werden dem Autor nun Vorwürfe gemacht.

In Frankreich begann die Debatte über dieses Buch in der vergangenen Woche. Da gab es das Buch noch nicht zu kaufen, und nicht viele Neugierige werden sich die Mühe gemacht haben, nach der Raubkopie zu suchen, die bereits im Internet zirkulierte. Es brauchte nicht viel, um das öffentliche Gerede in Gang zu setzen: dass sich Michel Houellebecq, der bekannteste Autor des Landes, wieder einmal eine Provokation in der Kopf gesetzt hatte, war gewiss. Und dass dieser Roman davon handelt, dass und wie sich Frankreich in eine islamische Republik verwandelt, war bald auch bekannt. Und es scheint, im Nachhinein, als habe sich sogar eine Hoffnung mit dieser Provokation verbunden: dass die dadurch ausgelöste Diskussion zumindest helfen könnte, den gegenwärtig größten innenpolitischen Konflikt in Frankreich zu überwinden.

Mehr als das musste auch der Karikaturist der Zeitschrift Charlie Hebdo nicht wissen, als er für das Titelbild der jüngsten Ausgabe einen schnapsnasigen Michel Houellebecq zeichnete, der bekannt gab, dass er im Jahr 2015 seine Zähne verlieren und im Jahr 2022 den Ramadan feiern werde: Die radikale Individualisierung Michel Houellebecqs war eine Reaktion auf den repräsentativen Charakter der durch ihn ausgelösten Debatte.

Als Ayatollah Chomeini vor 26 Jahren, im Februar 1989, über Radio Teheran die Fatwa gegen Salman Rushdie verhängte, sprach nicht nur ein Priester. Die Fatwa ist ein Urteil, ihr geht ein Rechtsverfahren voraus, muslimische Geistliche werden die „Satanischen Verse“ gelesen haben, zumindest in Teilen, und der Ayatollah verkündete seinen Spruch als Vertreter eines Staates. Es mag, unerhörter Weise, auch an der Staatlichkeit dieses Urteils liegen, dass Salman Rushdie lebt.

Karikaturen aber werden nicht gelesen. Man erfasst sie mit einem flüchtigen Blick, dieser Blick liefert unmittelbar „Identität“, und weil es auch viele Muslime gibt, die wie das westliche Publikum glauben, es gehöre zum Islam notwendig ein strenges Bilderverbot, das Personal des Heiligen betreffend, reicht immer wieder allein die Nachricht aus, es gebe eine Mohammed-Karikatur, um Mord und Totschlag in die Welt zu bringen. Zudem ist eine Karikatur, anders als ein Buch, schnell kopiert, verschickt und über das Netz in unendlicher Menge zu verbreiten. Und sie ist sehr viel eindeutiger, als es ein Roman je werden kann.

Aber das ist nicht der einzige Unterschied zu den Verhältnissen von 1989: An die Stelle eines offiziellen Islam, so radikal auch immer, ist ein persönlicher, nicht mehr schriftgebundener Islam getreten, der in jeder Herausforderung eine Ehrverletzung erkennt. Und weil die Ehre, wie ein großer deutscher Philosoph formulierte, das „Verletzliche schlechthin“ ist, unterliegt die Entscheidung, was als Frage der Ehre gewertet wird und was nicht, allein der Willkür des potenziell Verletzten. So verwandelt sich, was im Fall der Fatwa ein Urteil war, das nicht vollstreckt wurde, in eine Vollstreckung, die sich selbst das Urteil ist. Diese Vollstreckung aber ist an keine Form, an kein Verfahren gebunden, es kann sie überall und jederzeit geben. Denn sie ist Terrorismus, und auch diesen gibt es nicht, bevor er zuschlägt.

Soweit in Erfahrung zu bringen ist, lebt Michel Houellebecq noch nicht im Untergrund. Wahrscheinlich hält er sich noch immer in seiner Wohnung auf, einem Appartement im 13. Arrondissement, aus dessen großen Fenstern man einen weiten Blick über die Stadt hat. Schon in der vergangenen Woche soll er aber, angesichts der immer höher schlagenden Wellen der Debatte, kaum noch ansprechbar gewesen sein. Und tatsächlich, vom Inhalt seines Buches ist jetzt kaum noch die Rede: davon, dass er in „Unterwerfung“ eine zukünftige neue französische Identität erfunden hat, ein Franzosentum, das alle Ideale der Aufklärung und der Nation fahren lässt, weil ihm so viel an Harmonie und Ordnung gelegen ist, dass es sich der Einhelligkeit wegen einer fremden Identität unterwirft – die dann doch wieder die eigene ist. Aber das ist dann schon so kompliziert, dass es kaum einer mehr genau wissen will.

Der Islam hat eine eigene Geschichte in den Romanen Michel Houellebecqs. Zu Beginn des Romans „Plattform“ (2001) fliegt der Held zu einem Urlaubziel in einem stark sexualisierten Fernen Osten und weiß, dass er bald Afghanistan überqueren wird: „Die Taliban dürften jetzt sowieso schon schlafen und sich in ihrem Dreck suhlen“, denkt er sich. Am Ende wird das Idyll von einer Bombe zerstört: „Der Islam hatte mein Leben zerstört, und der Islam war sicherlich etwas, was ich hassen konnte. In den folgenden Tagen bemühte ich mich, die Muslime zu hassen.“ Im Gefolge dieses Romans kam es zu einer Äußerung Michel Houellebecqs, wonach alle Religionen dumm seien, der Islam aber die dümmste sei. Das trug ihm ein Gerichtsverfahren wegen Aufwiegelung zum Rassenhass ein, in dem er freigesprochen wurde, des Rechtes auf Kritik der Religion wegen. Damals, so scheint es, von heute aus betrachtet, waren die Verhältnisse noch einfach.

Die Unentschiedenheit des neuen Romans hingegen – also die offene Frage, ob sich der Autor ein islamisches Frankreich wünscht oder es grauenhaft findet – trug vermutlich dazu bei, dass die Debatte um diesen Roman so schnell heftig wurde. Und es hilft dem Autor dabei nun wenig, wenn er, nach dem Anschlag, immer wieder erklärt, das Buch „Unterwerfung“ möge zwar vielleicht eine realistische, wenn auch zeitlich arg verkürze Utopie sein, im Kern handele es sich jedoch um einen Roman. Und es gebe zwar Bücher, von denen die Geschichte verändert werde, das „Kommunistische Manifest“ zum Beispiel. Aber das gelte eben nicht für Romane. Vermutlich weiß der Schriftsteller selbst, dass er so viel Naivität nur vorspielt. Denn selbstverständlich können Romane, ja auch Gedichte, die reale Welt verändern, und auch Schriftsteller können es, selbst wenn sie gar nicht mit Romanen in die Öffentlichkeit treten.

Ob und in welchem Maße es ihnen geschieht, hängt allerdings keineswegs nur von ihnen ab, sondern von den politischen und sozialen Kräften, die sie tragen, befördern oder von denen sie ergriffen werden. An diesem Punkt ist der Schriftsteller nicht frei, und das Beste, was ihm widerfahren kann, ist es, genau das zu wollen, was mit ihm und seinem Werk gemacht wird.

Denn so, wie der Erzähler zu Beginn von „Unterwerfung“ durch Paris geht, um tausendundeinen Beleg für eine fortgeschrittene Islamisierung der Stadt zu finden, so widerfährt nun Michel Houellebecq etwas Ähnliches: Sein Schriftstellerkollege Emmanuel Carrère behauptet jetzt, sein Roman sei eine Vorwegnahme des terroristischen Überfalls, und vielen erscheint er nun zumindest als eine Art Indiz für die Ankunft des Schreckens, manchen gar als Lockruf für diesen Schrecken, der dann aber tatsächlich über eine satirische Zeitschrift herfiel und nicht über den Roman oder seinen Autor.

Dagegen ist der Autor so machtlos wie gegen alle anderen Konsequenzen, die seine Leser aus seinen Büchern ziehen. Und er darf aus dieser Machtlosigkeit nicht die Konsequenz ziehen, den Roman seinen Folgen zu opfern.

Obelix trägt Trauer

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Kommen Karikaturisten in den Himmel? Menschen, die ihre Arbeit mit Ironie und Sarkasmus verrichten und für religiöse Visionen nicht unbedingt anfällig sind? Was die vier französischen Zeichner Charb, Wolinski, Cabu und Tignous angeht, die zu den Stars der Satirezeitschrift Charlie Hebdo gehörten und bei dem Überfall auf die Redaktion erschossen wurden, ist die Meinung der Kollegen eindeutig. In einigen der spontanen Zeichnungen landen die vier tatsächlich über den Wolken und flattern dem Allmächtigen vor die Augen (siehe rechts oben): viel zu früh, kommentiert dieser und lässt sich in seiner Lektüre kaum stören: Charlie Hebdo.



Der Cartoonist Muhindo Kashauri a.k.a. Kash aus Kongo würdigt die ermordeten Zeichner von Charlie Hebdo


Das große Vorbild für die Reaktion auf ein Ereignis, das eine ganze Nation – und die Welt – erschütterte, ist wohl immer noch die Titelseite des amerikanischen Magazins New Yorker vom 25.September 2001, gestaltet von Art Spiegelman – in tiefem Schwarz, auf dem sich schwach die Türme des World Trade Center abzeichnen. Der Phantomschmerz der Erinnerung.

Die vielen Reaktionen der Kollegen in aller Welt auf den Tod der Charlie-Hebdo-Zeichner können und wollen so subtil nicht sein. Sie sind spontan, intuitiv, Dokumente der Trauer, der Fassungslosigkeit, der Verunsicherung – in einer Zeichnung gibt es eine Erinnerung an den Schock von 9/11. Es ist, als würde die internationale Bruderschaft der kritischen Zeichner – die des Westens, unterstützt von einigen aus östlichen Ländern – sich ihrer Solidarität versichern. Bewegend die Erinnerung an den Namensgeber der Zeitschrift, den guten alten Charlie Brown, der in einer der raren Szenen echter Trauer gezeigt wird. Und von bewegender Gradlinigkeit der alte Albert Uderzo, der seine Superhelden Asterix und Obelix still den Kopf senken lässt –und der kleine Idefix schaut traurig und ratlos.

Die Zeichnungen signalisieren Trotz, Widerstandswillen, vielleicht Wut. Immer wieder wird die Unbesiegbarkeit der Feder beschworen, Stifte figurieren auf jeder zweiten Zeichnung. Manchmal spürt man etwas wie ein Innehalten – als wären sich die Zeichner durch den Überfall der eigenen Exponiertheit bewusst geworden – in einer Welt, in der die Globalisierung die Konfrontation verschiedener Perspektiven und Ansichten radikal verschärft.

Manchmal erledigen die Zeichner, unter Schock, aber echte Profis, auch nur ihre Arbeit: die aktuelle Situation in prägnanten, auf einen Blick einsichtigen Bildern festzuhalten. Es sind schmerzlich schöne Momente der Erkenntnis. Die Attentäter schießen auf die Redaktion des Charlie Hebdo, das Blut rinnt, aber was sie eigentlich beschädigen mit ihren Kugeln und Querschlägern, ist die Moschee dahinter, der Islam, die eigene Religion.

Und der große australische Karikaturist David Pope zeigt einen maskierten Attentäter, in dessen Augen sich die Ratlosigkeit eines ertappten Kindes zu spiegeln scheint: He drew first, versucht er sich herauszureden. Er hat zuerst gezogen, wie man es aus den Duellen im Wilden Westen kennt. Aber auch: Er hat zuerst gezeichnet.

So wird es auch in Zukunft bleiben, die Zeichner werden immer die Ersten sein, die ziehen.

Juristen mit eigenen Regeln

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Was die Palästinenser-Regierung sich wünscht vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC), das hat sie bereits deutlich gemacht: Die Juristen in Den Haag sollen, sobald am 1. April der Beitritt der Palästinenser zum Gerichtshof in Kraft tritt, israelische Verbrechen anprangern. Was Israels Regierung erwartet, ist ebenso klar. Ihre Armee, die „moralischste der Welt“, wie Außenminister Avigdor Lieberman nicht müde wird zu betonen, soll allenfalls als Zeugin der Anklage in Den Haag auftreten. Gegen Kriegsverbrechen der palästinensischen Hamas.



Wahrscheinlich wird der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag schon bald eine Vorermittlung zu den Kriegsverbrechen im Konflikt zwischen Israel und Palästina eröffnen. Konkrete Ergebnisse werden aber nicht vor 2016 erwartet.

Was die politischen Akteure wirklich zu erwarten haben, hängt indes von einer kleinen Gruppe von Juristen am ICC ab, die, verglichen mit ihren Kollegen in nationalen Justizsystemen, einen großen Ermessensspielraum haben. Die Ankläger am ICC zeigen seit zwölf Jahren, wie sie Prioritäten setzen und eigene Regeln entwickeln. Und wenn nun Politiker im Nahen Osten Hoffnungen in sie setzen, dann lohnt auch ein Blick in Hauptstädte, wo man bereits Erfahrungen mit den Anklägern macht: Moskau, Kiew oder London.

Wenige kennen die ICC-Ankläger so gut wie Alex Whiting: Der Amerikaner war von 2010 bis 2013 selbst einer von ihnen, erst als Koordinator aller Ermittlungen, dann als Koordinator aller Anklagen, heute lehrt er in Harvard. An den israelisch-palästinensischen Konflikt, so vermutet er, werde man sich „höchstwahrscheinlich nur sehr vorsichtig und langsam“ herantasten.

Schon bald nach dem 1. April, so schätzt Whiting, wird der Gerichtshof eine Vorermittlung eröffnen, was möglicherweise Aufsehen erregen, aber erst einmal nur bedeuten werde, dass die Juristen überlegen, wo sie anfangen. Damit verbunden sein wird, wie immer, eine Aufforderung an die Konfliktparteien: Zieht eure Kriegsverbrecher selbst zur Verantwortung. Nur wenn die Staaten nicht willens oder fähig sind, „ernsthaft“ zu ermitteln, ist der ICC zuständig. Diese Drohung an Israelis und Palästinenser kann monate- oder jahrelang in der Schwebe bleiben. Der in London lehrende Politologe Mark Kersten, ebenfalls ein Kenner des ICC, sagt: „Jede Wette, dass 2015 noch nichts weiter passieren wird.“

Russlands Regierung lebt bereits seit 2008 mit einem solchen Vorermittlungsverfahren wegen des Georgienkriegs – ohne dass es bislang zu echten Ermittlungen, vor allem zu Zeugenbefragungen, gekommen wäre. Der Bürgerkrieg in Kolumbien ist sogar schon seit Juni 2004 Gegenstand einer ICC-Vorermittlung. Auch gegen Großbritannien laufen seit Mai 2014 Vorermittlungen wegen Foltervorwürfen im Irak. Meist besteht keine Eile. Im Falle Russlands haben die ICC-Ankläger erst im Dezember erklärt, dass weder Russland noch Georgien sich in sechs Jahren ernsthaft um Aufklärung bemüht hätten. Trotzdem unternahmen sie noch nichts.

In diesen Tagen, da sich der ICC dem Nahen Osten zuwendet, ist vielfach spekuliert worden, dass nun die lang ersehnte Chance für den ICC komme, endlich außerhalb Afrikas aktiv zu werden. Der Strafgerichtshof wird oft dafür kritisiert, dass er echte Ermittlungen und Anklagen bisher nur dort betreibt. Dem widerspricht jedoch Alex Whiting: „Die Staatsanwälte denken nicht so, und wenn doch, dann hätten sie längst Ermittlungen an anderen Orten starten können, etwa Georgien, Afghanistan oder der Ukraine.“ Auch in den beiden letztgenannten Staaten laufen seit Monaten Vorermittlungen.

Israels Regierung bemüht sich bereits, interne Ermittlungen in der Armee in Gang zu bringen, um den ICC auf Abstand halten zu können. Es laufen 13 Ermittlungsverfahren gegen Soldaten wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit dem jüngsten Gaza-Krieg, sie stehen unter Leitung des Armee-Generalstaatsanwalts Danny Efroni. Ob die Haager Ankläger sich davon beeindrucken lassen, ist offen.
Eine Frage, welche sie aber in jedem Fall diskutieren werden, ruft der im US-Bundesstaat Ohio lehrende Völkerstrafrechtler Michael P. Scharf in Erinnerung. Es geht darum, ob die Taten, um die es in Gaza geht, überhaupt schwer genug wiegen für Den Haag. Der ICC kann nur wenige Prozesse weltweit führen, bislang hat er sich deshalb auf Bürgerkriegsszenarien mit „Hunderttausenden oder zumindest Zehntausenden Toten“ beschränkt, so Scharf. Stets haben die ICC-Richter auch verlangt, dass es sich um Verbrechen handeln muss, die systematisch, „als Bestandteil eines gezielten Plans verübt wurden“. Wie die Haager Juristen insofern den Gaza-Krieg einschätzen, wird man womöglich erst 2016 erfahren.

Nach der 59 kommt die 59

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Die Erde geht mal wieder nach, darum muss die gesamte Menschheit ihre Uhren justieren. Die Sternwarte Paris hat vor wenigen Tagen im Auftrag des Internationalen Erdrotationsdiensts verkündet, dass in der Nacht auf den 1.Juli 2015 eine Schaltsekunde eingeschoben wird. Die Anzeige 01:59:59 Uhr deutscher Sommerzeit wird es darum zweimal geben. Und weil womöglich einige Internetdienste über diese Hürde stolpern, wie zuletzt bei einer Schaltsekunde im Jahr 2012, beginnt erneut die Diskussion, ob diese chronologischen Korrekturen überhaupt nötig seien. Im kommenden November soll das eine Konferenz der Internationalen Fernmeldeunion in Genf entscheiden. Schon jetzt formieren sich diplomatische Lager.



Eine Sonnenuhr am Giebel eines Wohnhauses im März 2013 in Magdeburg. Wird die Menschheit ihr Leben in Zukunft nicht mehr nach dem Lauf der Sonne ausrichten?


Die Debatte ist eine Folge moderner Technologie. Erst seit wenigen Jahrzehnten sind Atomuhren so genau, dass eine Abweichung der Erdrotation überhaupt auffällt. Die präzisen Zeitmesser zeigen, dass die Erde sich etwas zu langsam dreht, um auf Dauer mit der 24-Stunden-Einteilung des Tages mitzuhalten. „Wenn Sie sich einen großen Zeiger vorstellen, der aus der Erde ragt, und ein Ziffernblatt im Himmel, fällt die Abweichung tatsächlich auf“, sagt Wolfgang Dick vom Zentralbüro des Erdrotationsdiensts in Frankfurt am Main. Seine Kollegen in Paris verfolgten die Abweichung und ordneten eine Schaltsekunde an, bevor die Differenz eine Sekunde erreicht. Die im kommenden Juli wird die 26. sein, seit derlei Korrekturen im Jahr 1972 – damals gleich mit einem Zehn-Sekunden-Sprung – eingeführt wurden.

Seinerzeit gab es kein Internet, dessen Server auf die genaue Uhrzeit angewiesen sind. Bei der Schaltsekunde 2012 jedoch verschluckten sich die Computer von Diensten wie Reddit, Linkedin, Yelp und Mozilla und lagen zum Teil stundenlang lahm. Die größten Folgen hatte ein Ausfall bei der Firma Amadeus, die Reisedaten verarbeitet. In Australien mussten die Fluglinien Qantas und Virgin Airlines Passagiere per Hand einchecken, stundenlange Verspätungen waren die Folge. All diese Fehler wurden später auf falsch programmierte Routinen im Betriebssystem Linux zurückgeführt. „Fast immer, wenn es eine Schaltsekunde gibt, finden wir irgendwas“, sagte der Linux-Vordenker Linus Torvalds damals der Zeitschrift Wired. „Das ist wirklich ärgerlich.“

Der Internetkonzern Google hingegen hatte damals schon eine kreative Lösung gefunden: Die zusätzliche Sekunde wurde in kleinen Portionen auf die letzte Stunde vor der Umstellung verteilt, so dass die Server keinen Fehler wahrnahmen. Die zusätzliche Zeit „zu verschmieren“, prahlten die Programmierer, sei „eine der coolsten Prozeduren“, mit dem Problem umzugehen. Das sehen nicht alle so. Im Jahr 2013 kritisierte Judah Levine von der amerikanischen Normungsbehörde, die einen 75000-mal pro Sekunde abgerufenen Zeitsignalservice betreibt, in der Übergangsphase stimmten die Längen der Sekunden nicht mehr. Und wenn nicht alle Computer das gleiche Verfahren anwendeten, gebe es gefährlich abweichende Uhrzeiten.

Die Amerikaner plädieren darum dafür, die Schaltsekunden wieder abzuschaffen. Die Russen wiederum möchten sie beibehalten, nachdem sie anfängliche Probleme in ihrem Satelliten-Navigationsdienst Glonass offenbar gelöst haben. Auch die Briten halten an der Korrektur fest, weil sie die Bedeutung des Observatoriums in Greenwich zementiert. Von dessen Meridian aus werden alle Zeitzonen und Uhrzeiten berechnet. Die Deutschen wiederum stimmen ihre Position gerade unter den beteiligten Behörden ab. „Wir wollen keine technischen Probleme durch Schaltsekunden erzeugen“, sagt Fiete Wulff, Sprecher der Bundesnetzagentur in Bonn, die das Land bei der Internationalen Fernmeldeunion vertritt. „Im Moment erwarten wir aber auch keine technischen Probleme.“

„Das ist ein emotional hoch aufgeladenes Thema“, sagt Wolfgang Dick. „Die Frage ist doch, ob die Menschheit nach Jahrtausenden damit aufhört, nach der Sonnenzeit zu leben.“

Wie Kater wegen Abstinenz

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Und wenn dann noch die Sonne scheint, wird es besonders schlimm. Sonne bedeutet Druck. Wenn die Sonne scheint, muss man noch dringender rausgehen, als sonst. Das steigert die Freizeitmöglichkeiten exponentiell. Und die vielen Möglichkeiten sind es ja, die alles kompliziert machen. Immer. Überall. Bei der Auswahl von Eissorten, Lebensentwürfen und Tinderpartnern halte ich das sogar noch für legitim. Beim Entspannen nicht. Da peinigt es mich. Weil es Stress erzeugt und zwar aus der Sorge heraus, den falschen Weg zu gehen und dann eben nicht richtig zu entspannen. Das ist bescheuert, das weiß ich. Stress wegen Entspannung, das erscheint mir so angemessen wie Kater wegen Abstinenz.




Entspannter Typ, Abbildung ähnlich
 
Kann sein, dass ich damit soeben die neue Wörterbuchdefinition für „First-World-Problem“ geliefert habe. Aber das ist mir egal! Ich leide!

Und weil man ja selten einfach so im luftleeren Raum herumleidet, sondern in aller Regel unter Prämissen, kommt hier meine Prämisse: Ich habe in meinem Leben noch nie richtig ernsthaft etwas arbeiten müssen, das ich derart gehasst habe, dass ich mich davon hätte erholen müssen. Ich liebe alles, was ich tue, genug, um mich dafür erholen zu wollen. Am liebsten sogar damit. Und ziemlich genau da beginnt das Problem. Bei der Frage, wie man sich am besten für etwas entspannt. Wie man sich effizient entspannt, also so, dass man dabei auch noch etwas tut, das einen auf die ein oder andere Weise weiterbringt. Ich halte das für eine furchtbar schwere Frage. Und für eine etwas eklige auch. Wer so ewas fragt, trägt schließlich das Leistungsprinzip genau dorthin, wo es am allerwenigstens verloren hat. Der optimiert sich bis in den hintersten Winkel selbst und Selbstoptimierung ist wie Masturbation aufs eigeen Spiegelbild. Ich weiß das. Ich hasse das. Aber ich komme dem nicht aus.

Leider neige ich dazu auch zu einer milden Form von Entscheidungsschwäche. Und wer wissen will, wie das ist, ein Mensch mit vielen Interessen und Entscheidungsschwäche zu sein, der etwas freie Zeit zur Verfügung hat, der kann mal einen Hund in die Metzgerei sperren. Ungefähr so. An schlechten freien Tagen, die gute freie Tage werden sollen, kann ich so lange mit der Frage verbringen, wie ich mich gerade locker machen sollte (drinnen/draußen, Sport/Couch, Musik hören/machen, aktiv/passiv, Buch/Zeitung, Serie/Film, allein/sozial, kann man möglicherweise doch joggen und lesen?) bis ich schon wieder irgendwen zum Abendessen treffen muss.
 
Aber auch meine besseren Tage verdienen diesen Namen kaum. Habe ich mich tatsächlich mal zum Beispiel für einen Tag auf der Couch entscheiden, horte ich Dinge, die ich dort bestimmt im Laufe des Tages gebrauchen kann. Ich baue eine Festung, deren Außenmauern aus aufgetürmten Büchern, Zeitungen, Magazinen, Gitarren (ja, mehrere), iPads, Handy, DVDs, diversen Heiß- und Kaltgetränken und Snacks in salzig und süß zusammengemörtelt sind. Und dann (ab Sekunde 53!):
 
http://youtu.be/5iTTNRE-njM?t=51s
 
Weil: Woher soll man denn auch wissen, was jetzt gerade das Allerbeste ist, das einen entspannt UND weiterbringt? Die Wissenschaft gibt Eingeweihten da tendenziell ambivalente Antworten. Für Laien werden die dann auch noch in Phrasen übersetzt. Wir wissen ja, dass Sport funktioniert. Und Lesen. Menschen treffen auch. Hilft mir nicht weiter. Ich weiß trotzdem noch nicht, was jetzt in diesem Moment genau das Richtige für mich ist. Mein Problem ist vermutlich, dass ich zu viel von meiner Freizeit erwarte. Ich optimiere, was nicht optimiert, sondern genossen gehört. Selbstoptimierer sind säftelnde Streber. Aber dass ich das weiß, hilft nicht. Im Gegenteil.
 
Also habe ich viel Hoffnung in eine Studie aus dem Journal of Communication gesetzt. Forscher um Leonard Reinecke, Juniorprofessor für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, haben darin herausgefunden, dass auch Mediennutzung (Fernsehen, Videospiele etc.) ganz wunderbar entspannt. Nur leider können wir den Effekt oft nicht richtig empfinden, beziehungsweise genießen, weil wir uns ein schlechtes Gewissen darüber einreden, den ganzen Tag geglotzt oder im Internet rumgeklickt zu haben. „Wer erschöpft ist, wird anfälliger für Versuchungen“, sagt Reinecke. Wenn wir also abends fernsehen oder am Wochenende „Californication“ binge-watchen, haben wir nicht das Gefühl, uns etwas Gutes zu tun, sondern einem Guilty Pleasure erlegen zu sein. Was uns entspannen könnte, fühlt sich plötzlich an wie Scheitern.
 
Das Ganze, so Reinecke, sei vor allem ein normatives Problem: „Unterhaltung hat keine Lobby.“ Sie sei nicht so positiv konnotiert wie Lesen, Yoga oder Theaterbesuch. Niemand wirbt damit, wie gelassen und tiefenentpannt uns das Glotzen oder Surfen im Internet macht. Funktionieren würde es aber theoretisch genauso.
 
Weil ich gestern an diesem Text nicht weitergekommen bin, wollte ich dem hemmungslosen Glotzen also eine Chance geben: Fünf Folgen „Sons of Anarchy“. Staffel sechs: check! Sie endet schrecklich, ich ging gerecht-müde, weil durchaus entspannt ins Bett - aber natürlich auch mit dem nagenden Gedanken, nicht am neuen Houellebecq weitergelesen zu haben, über den ja jetzt alle reden müssen. Ich bleibe also dankbar für weitere Ideen.

Der Reinzeichner

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Nehmen wir mal dieses Foto: Typ sitzt auf Klippe, seine Beine baumeln in den Abgrund, er blickt auf die Wahnsinns-Landschaft zu seinen Füßen. Ein schönes Motiv, tolles Panorama, keine Frage. Aber doch auch ein bisschen langweilig. Instagram-Massenware, so ähnlich schon oft geknipst, gepostet, geliket. Es sagt, was die meisten Bilder in sozialen Netzwerken sagen: Leute, checkt’s aus, ich hab ein Superleben grade.

Lucas Levitan hat dem Bild eine neue Ebene gegeben. Er hat hinter den Menschen auf der Klippe einen Riesen gezeichnet, der sich der besseren Konzentration halber die Zunge in den Mundwinkel geklemmt hat und den Klippensitzer gleich in den Abgrund schnipsen wird. Jetzt erzählt das Bild plötzlich eine neue Geschichte.

Lucas tut das regelmäßig. Der brasilianische Künstler, der gerade in London als Kreativdirektor in der Werbung arbeitet, stiehlt in seiner Freizeit Bilder von Instagram, verändert sie mit seinen Zeichnungen und postet sie dann auf seinem Instagram-Account. „Photo Invasions“ nennt er das Projekt, das er im April 2014 begonnen hat. „Invasions“ deshalb, weil er weder um Erlaubnis fragt, noch Fotos benutzt, die ihre Urheber ihm von sich aus empfehlen. „Ich sage bewusst immer, dass ich die Fotos stehle, und nicht etwa, dass ich sie auswähle“, erklärt Lucas. „Das passt besser zum Prozess meiner Arbeit.“









Lucas will mit seinen Bildern nicht nur den Betrachter überraschen, sondern auch die Fotografen selbst. „Wenn du ein Foto geschossen hast, denkst du, das war’s, es ist fertig. Ich gebe den Bildern eine neue Ebene.“

Oft ist diese Ebene eine ziemlich ironische. Er setzt damit Spitzen, die die Selbstdarstellungssucht auf Plattformen wie Instagram mit Witz entlarven.









Seit er die Serie begonnen hat, hat Lucas Levitan einen anderen Blick auf Fotografie, sagt er. „Ich betrachte jetzt automatisch nicht nur die Geschichte, die das Bild wirklich erzählt, sondern suche sofort nach einer weiteren, die es noch erzählen könnte.“

Nachdem man eine Weile lang durch seine Bilder gescrollt hat, merkt man, dass dieser Effekt ansteckend ist. Und wenn man durch die eigenen Bilder auf dem Smartphone oder auf Instagram wischt, fragt man sich, was Lucas da wohl hineinzeichnen würde.






Jungs, was sagt eure Unterwäsche aus?

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Liebe Jungs,


in den vergangenen Tagen haben wir ziemlich viel Herrenunterwäsche gesehen: Bilder von Justin Bieber überschwemmten das Internet, auf denen er durchtrainiert und tätowiert für Calvin-Klein in Boxershorts posiert. Das allgemeine Fazit der Medien dazu lautete: „Nun ist der Junge also endlich erwachsen geworden.“






Genau diesen Zusammenhang – CK-Boxershorts und Erwachsensein – verstehen wir nicht ganz. Sind Form und Farbe eurer Unterwäsche etwa Ausdruck eurer geistigen Reife? Um diese Frage selbst beantworten zu können, fehlt uns inzwischen nämlich die Empirie. Früher, als ihr Jungs eure Hosen noch tief getragen habt, wussten wir sehr genau darüber Bescheid, welche Art der Unterbekleidung ihr tragt. Heute erfahren wir das nur, wenn ihr euch mal ausgiebig streckt, bückt oder hinsetzt. Und auch dann nicht immer.

Wir vermuten, dass es unter euch inzwischen verschiedene Unterhosen-Typen gibt. Dass da nicht mehr die einheitliche karierte Boxershorts von H&M regiert. Mittlerweile gibt es die Jungs, die Boxershorts mit einem breiten Bund tragen, auf dem in großen Buchstaben die jeweilige Marke geschrieben ist. Andere bevorzugen die weiten Modelle aus blau-rot-kariertem, leichten Stoff. Dann gibt es noch die, die nur einfarbige, enge Boxershorts haben – meistens in schwarz, weiß, grau, manchmal aber auch weinrot oder blau.

An manchen Tagen scheinen euch aber eure Standard-Unterhosen auszugehen und ihr greift zu völlig ausgefallenen Exemplaren: Neongrün-gelb kariert, in Lederhosen-Optik, mit kleine Bärchen, Weihnachtsmännern, Katzen oder Rennautos drauf. Diese besonderen Highlights eures Kleiderschranks kriegen wir allerdings sehr selten und eher im privaten Rahmen zu sehen.

Jetzt mal aufklären bitte: Was geht in eurer Unterhosenschublade? Gehört die bei euch zum Outfit dazu? War das nur früher mal so? Ist es Absicht, wenn da was rausguckt? Wenn ja, wie weit ist ok? Und was hat es mit diesen Ausrutscher-Unterhosen mit Weihnachtsmann-Aufdruck auf sich?  

Auf der kommenden Seite liest du die Jungsantwort von Jakob Biazza.


 


[seitenumbruch]

Fubu! Es sollte mit Fubu losgehen. Der Klamottenmarke. Meinetwegen auch Helly Hansen. Irgendein groß auf dicke Jacken aufgestickter Schriftzug jedenfalls, den Jungs mit Oberlippenflaum stolz präsentiert haben, während sie wissen wollten: „Ey, ist deine Mutter schwul, oder was?!“ Das gibt eine Idee von dem Kosmos, in dem wir uns bewegen, wenn Typen große Buchstaben auf breiten Unterhosenbünden präsentieren.





Denn es gibt eine These zu Mode im Allgemeinen, die man meiner Meinung nach recht uneingeschränkt unterschreiben sollte: Man kann mit seinem Stil nicht nichts sagen. Das gilt für Schuhe, für Hosen, für Jacken, für T-Shirts. Und das gilt auch für Unterhosen.

Der Kollege Haberl hat im SZ-Magazin vor ein paar Jahren einen – wie ich finde – sehr stilsicheren Text darüber geschrieben, wie er die für sich perfekte Unterhose entdeckt hat. Aus dem klaue ich bedenkenlos, wenn ich sage: Die Unterhose eines Mannes verrät viel über die Persönlichkeit ihres Trägers. Noch mehr zeigt sie aber, wie er gerne wäre.

Daran lässt sich durchaus auch in Teilen das (geistige) Alter ablesen. Denn es gibt tatsächlich eine relativ festgeschrieben Chronologie beim männlichen Unterbeinkleid, die mit kleineren Abweichungen eher geradlinig von mütterlichen Nikolausgeschenken über erste eigene Experimente mit enger Markencouture (leider liefert CK den Sixpack nicht mit, weshalb wir das nach dem Trial-and-error-Prinzip schnell wieder lassen) bis hin zu entspannter Unauffälligkeit führt. Für rausschauende Shorts gilt grob folgende Formel: 25 – h = geistiges Alter (h = Länge der Shorts über dem Hosenbund in Zentimetern).

Die meisten von uns haben nämlich irgendwann gemerkt, dass Unterwäsche dann am besten ist, wenn sie nicht weiter auffällt. Das gilt für die Zeiten, in denen wir eine echte Hose drüber tragen. Und es gilt wohl sogar noch etwas mehr für die privaten Momente, in denen wir das nicht mehr tun. Insofern hast du schon Recht: Die Unterhose ist bei uns deutlicher Teil des Outfits – allerdings nur dergestalt, dass sie sich möglichst unsichtbar einfügt.

Was die anderen mit ihren auffälligen Unterhosen sagen wollen, lässt sich freilich nicht wie mit einem Wörterbuch übersetzen. Aber es ist sicher kein Zufall, dass einem neben Justin Bieber spontan nur Fußballer einfallen, die ernsthaft CK-Hugo-Armani-Unterwäsche ausstellen. Bei den wenigen Gelegenheiten, die ich in Gemeinschaftsumkleiden verbracht habe, war ich nicht überrascht davon, dass der Typ mit dem Tanga auch ein Tribal-Tattoo hatte. Und bei Neon und Leder-Optik (?!) mag ich nicht drüber nachdenken. Und ihr doch auch nicht.

Wir haben verstanden KW 02

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Man sollte jeden Zentimeter eines Transporters fotografieren, bevor man den Mietvertrag unterschreibt.

Wenn man in Berlin einen Stuhl vor die Tür stellt, ist er am nächsten Morgen weg. Wenn er allerdings kaputt war, taucht er am übernächsten Morgen wieder auf - vollgesprayt.





An einen Feiertag am Dienstag könnte man sich gewöhnen.

Wir wissen jetzt endlich, wie man Michel Houellebecq schreibt.

Allerdings nur in der Theorie. Den Namen auf Anhieb selbst richtig aufs Blatt zu bekommen, ist vollkommen unmöglich.

Wir wissen jetzt endlich, wie man Michel Houellebecq ausspricht: [wɛlˈbɛk]

Was wir nicht wissen: Was sorgt dafür, dass er bei jedem öffentlichen Auftritt immer noch schlimmer aussieht?

Seit dieser Woche können Stifte auch Symbole sein

Es gibt kaum etwas Lustigeres als den Gesichtsausdruck eines Mannes, der gerade realisiert, dass er mal von Nicole Kidman angemacht wurde, ohne es zu merken.

https://www.youtube.com/watch?v=qtsNbxgPngA

Wäre Böhmermanns (gephotoshopter) Arsch nicht auf dem Zeitmagazin, würde keine Sau das hunderste Porträt von ihm interessieren.

Es ist unmöglich, Gardinenstangen auf Anhieb gerade zu montieren.

Noch unmöglicher ist es allerdings, den Schraubenzieher, mit dem man sie montiert hat, danach wiederzufinden.

Es gibt Männer mit zwei Penissen.

Man kann ein Kondom über ein Bein ziehen.

Wir alle haben Vorurteile. Manchmal wissen wir es bloß nicht. 

Der Anschlag in Paris macht einem ein ganz neues Gefühl. Ein schlimmes. Vermutlich ist es größere Angst. Weil man nicht weiß, was jetzt noch alles kommt.

Als eher leiser Mensch ist das Demonstrieren gar nicht so einfach. Weil man sich komisch vorkommt, wenn man auf einmal schreien soll. Mögliche Lösung: Sich eine Trillerpfeife kaufen.

Apropos pfeifen: Bei Sturm pfeift es im SZ-Turm zum Gruseln laut.

So, Advent, Weihnachten, Silvester und viel Schnee sind vorbei. Damit auch die Highlights des Winters. Ab jetzt kann es nur noch schlechter werden, bis der Frühling kommt.

Die New York Times erfindet Länder, die es gar nicht gibt. Und dann gibt es sie plötzlich doch.

Selfie und Selbstbild

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Es ist nichts Neues, dass Menschen Bilder von sich schießen und sie ins Netz stellen. Allerspätestens seit der Oscar-Verleihung 2014 wissen sogar Gelegenheitsbesucher des Internets, was ein Selfie ist. Ebenfalls nicht neu ist die Vermutung, dass Leute, die dauernd Selfies posten, einen Hang zur Selbstdarstellung haben.

Neu ist allerdings, dass dieses Verhalten ein Anzeichen für ernstzunehmende psychische Störungen sein kann. Das hat soeben eine wissenschaftliche Studie ergeben. Eine Forschergruppe der Ohio State University mit 800 männlichen Teilnehmern brachte folgendes zutage:


  1. Männer, die mehr Selfies posten als andere, neigen eher zu Narzissmus als der Durchschnitt. Klingt zunächst wenig verwunderlich – bis man liest, dass die Selfie-Männer nicht nur eine größere Portion Selbstverliebtheit mitbringen, sondern sich im Schnitt auch näher an der Psychopathie bewegen als der Rest. Die ist eine Art Extremversion von Narzissmus und zeigt sich in einem Mangel an Empathie und Mitgefühl für andere Menschen.

  2. Überraschend viele Männer posteten ihre Selfies erst, nachdem sie sie eingehend verschönert hatten. Die Leiterin der Studie, die Psychologin Jesse Fox, war überrascht, dass Männer deutlich stärker von einem Phänomen betroffen sind, das „Selbst-Objektifizierung genannt wird. Bisher habe man diese Eigenschaft „allgemein eher Frauen zugeschrieben als Männern“. Der Begriff bedeutet, dass man den eigenen Körper nicht mehr aus seiner eigenen Perspektive, sondern aus der eines Beobachters betrachtet und wertschätzt.

  3. Die Forscherin Fox meint, dass bei Frauen und Männern der Druck wächst, online gut auszusehen. Insbesondere unsichere Menschen sind abhängig von der positiven Bewertung durch andere und nutzen die Möglichkeit, durch Selfies wieder und wieder ihre Außenwirkung zu testen. Sie spricht von einem „sich selbst verstärkenden Zirkel der Selbst-Objektifizierung“. Heißt: je mehr Selfies, desto mehr Feedback, desto mehr Selfies usw.

  4. Die Studie umfasst bisher nur männliche Teilnehmer, Fox ist allerdings an einer Nachuntersuchung mit Frauen zugange. Sie erwartet hier ähnliche Befunde wie bei den Männern, also höhere Narzissmus- und Psychopathie-Werte bei den Selfie-Begeisterten und eine hohe Selbst-Objektifizierung. Es wäre im Gegenzug aber auch vorstellbar, dass sich Selfie-Frauen von den Männern in ihrer Persönlichkeitsstruktur unterscheiden, nämlich eher unsicher sind und darauf hoffen, mithilfe von positivem Feedback auf ihre (gelungenen?) Selbstportraits einen schwachen Selbstwert aufzubessern.

Was bleibt aus all dem zu schlussfolgern? Vielleicht nur, dass die Selfie-Kultur im Grunde eine völlig paradoxe ist. Mittlerweile müsste doch auch die zigtrillionste Bloggerin einmal erkannt haben, dass ihr unermüdliches Selfie-Posten bei den meisten ihrer Follower als genau das wahrgenommen wird, was es ist: Verzweifelte Komplimentfischerei. Dass im Alltag vieler Leute mehr Zeit dafür draufzugehen scheint, ihr Leben in sozialen Netzwerken zu inszenieren, als es tatsächlich zu leben, ist immerhin fast schon 'common sense'. Und dennoch nimmt das selbstverliebte Verhalten kein Ende, zu schön ist offenbar die Illusion, einfach etwas ganz Besonderes zu sein. Das es absolut wert ist, Tag für Tag wieder ein makelloses "Woke up like this" Foto von sich ins Internet zu laden. Auf dass es Likes regnen möge. Egal, von wem.


Die Wochenvorschau: So wird die KW 3

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Wichtigster Tag der Woche?
Für mich der Samstag. Ein Tag, vor dem es mich ehrlich gesagt mit Vorfreude graust, denn – Familie Fries hat einen Termin fürs Fotoshooting. Familienfotos sind soweit eine super Sache, wenn sich nur nicht 2/5 der erwachsenen Beteiligten (meine Mutter und ich) für maximal unfotogen halten würden. Ein Zustand, der in professionellen Fotostudios – das zeigen diverse Pass- und Bewerbungsbilder – in der Regel seinen Höhepunkt erreicht.
Es wird allerdings Zeit für ein neues Foto, da dieses Exemplar nun schon seit 20 Jahren im Wohnzimmer meiner Eltern hängt:



Entwicklungen, die auf dem neuen Bild zu sehen sein werden:


  • Meine Familie ist um eine Schwägerin und zwei Zwillingsneffen angewachsen.

  • Die Größenverhältnisse haben sich minimal geändert.

  • Meine Mutter hat sich von ihrer Dauerwelle verabschiedet.

  • Und ich habe – so der aktuelle Stand – ein vollständiges Gebiss.


Wie das Ergebnis nun am Ende auch aussehen wird, ein spaßiger Samstag wird das auf jeden Fall. 

Kulturelles Highlight:

Kultur gibt es ja immer mehr als man in einer Woche konsumieren kann, aber für Folgendes sollte man sich vielleicht einmal Zeit nehmen: Bis zum 23. Januar läuft gerade eine Ausstellung im Foyer des Gasteig in München mit dem Titel „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“. Dazu gibt es am Montag eine Diskussion mit Experten, die sich damit beschäftigt, warum die Mitte der Gesellschaft so anfällig für rechtspopulistische Einstellungen ist. Im Hinblick auf Pegida eine sehr aktuelle Frage.


Im Münchner Stadtmuseum gibt es auch eine Ausstellung, die sich unter dem Titel „Luxus der Einfachheit“ mit neuen und alternativen Lebensentwürfen von Menschen auseinandersetzt und ziemlich sehenswert klingt.


Wem nach ein bisschen kuscheliger Kultur ist, könnte im Tierpark Hellabrunn, aber auch Bilder von Eisbären gucken gehen.


Ansonsten werde ich versuchen am Donnerstag zum Song Slam in die Milla zu gehen und das Musik-Bingo am „Lässigen Mittwoch“ in der 089 Bar klingt auch gut – werde ich aber wahrscheinlich nicht besuchen weil 089 Bar.

Politisch interessiert mich ...
... wahrscheinlich auch in der kommenden Woche noch der Anschlag auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ und alles was danach kam. Da braucht es schon mehr als ein paar Tage, um das zu verarbeiten und einzuordnen und alle wichtigen, klugen und fragwürdigen Artikel zu lesen, die dazu geschrieben wurden.

Soundtrack:

Ich werde mir wohl einmal das neue Panda Bear Album anhören, das seit Freitag draußen ist.

Panda Bear – Panda Bear Meets The Grim Reaper

Außerdem wird es in der KW 3 neue Platten von Belle & Sebastian, Ty Segall, The Decemberists - und von Marilyn Manson geben.

Zu meinem persönlichen Soundtrack der Woche gehört auch „If Love Is Just A Word“ von Bleib Modern, der Band eines Freundes, das ich inklusive Video in meinem Facebook-Feed gefunden habe. 


http://www.youtube.com/watch?v=Ll7c24Ib_yo#t=142

Kinogang?

Die Kinoneustarts interessieren mich dieses Mal nicht so brennend. Der Dokumentarfilm über den Anführer der Stuttgarter Hells Angels könnte aber ganz gut sein.

http://www.youtube.com/watch?v=YR3wD9rdgM4

Ich möchte im Laufe der Woche auf jeden Fall noch „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, basierend auf dem Leben von Stephen Hawking, und „#Zeitgeist“ sehen.

Und falls ihr plant, euch den (warum auch immer) gefeierten Film „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ anzuschauen, empfehle ich dies nur unter Alkohol- oder Drogeneinfluss.


Geht gut diese Woche:
Alles mitnehmen, was der Winterschlussverkauf noch hergibt. Wenn schon kein Winterspaziergangswetter ist – auf dem Weg von einem Laden zum anderen bekommt man auch frische Luft. Oder die frische Luft am Montag auf der Demo gegen Pegida holen. Auch äußerst sinnvoll.

Geht diese Woche gar nicht mehr:
Die Plätzchen, die immer noch in der Keksdose abhängen. Und Pegida – die gingen noch nie.

Tagesblog - 12. Januar 2015

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16:26 Uhr: Was mich gerade beschäftigt: In den vergangenen Tagen sind in Nigeria hunderte, vielleicht sogar tausende Menschen ums Leben gekommen. Ermordert von Terroristen. Die ganze westliche Welt spricht von Charlie Hebdo, für die Opfer in Afrika interessiert sich kaum jemand.

Natürlich kann man Leid und Trauer niemals gegeneinander aufrechnen; jeder Terroranschlag, jeder Tote ist eine Katastrophe. Trotzdem frage ich mich: Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit unserer Alteinahme? Ist es gerechtfertigt, dass zwölf Tote tagelang zum beinahe einzigen Nachrichtenthema werden, während hunderte Tote - ebenfalls von fanatischen Terroristen umgebracht - kaum wahrgenommen werden?

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15:37 Uhr:
Mal was zum Schmunzeln (bzw zum Kopfschütteln) zwischendurch: Jetzt steckt auch noch Google mit der linksversifften Lügenpresse unter einer Decke. Skandal!

[plugin imagelink link="http://www.schleckysilberstein.com/2015/01/youtube-vs-pegida-macht-endlich-die-augen-auf/" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/B7J2NHeCIAE3LVr.jpg"]

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15:32 Uhr:
Wenn mich the-wrong-girl schon so nett fragt:

kannst du unseren club featuren bitte? YourTaskToday ist zurück mit einer neuen Runde und einer freshen task. es ist der beste club hier, kannste alle fragen. simon don't hurtz me, don't hurtz me, bitte bitte pretty please.

...dann kann ich ja gar nicht anders als euch freundlich aber nachdrücklich zu bitten, diesem Link zu folgen und euch an "YourTaskToday 78: Be a berühmtes Foto!" zu beteiligen. Sehr schöne Idee, so mag ich den Kosmos.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/590992/YourTaskToday-78-Be-a-beruehmtes-Foto" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/th/the-wrong-girl/text/regular/1033092.jpg"]

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15:08 Uhr:
Trauer! Weil: letzte Folge. Aber auch: Freude! Weil: so ein schöner Abschiedstext!
Die wunderbare "Woher der Hass?"-Kolumne von Nadja und Lars wird eingestellt. Nie wieder Nadjas lakonische Alltagsbetrachtungen über selbgerechte Laubbläserverächter lesen, nie wieder Lars beim Sinnieren über vorweihnachtliche Konsumkritik über die Schulter schauen. Schade!

Damit der Abschied nicht ganz so schwer fällt, erklärt Nadja in sechs kurzen, aber glücklicherweise auch kurzweiligen und unwahrscheinlich klugen Absätzen, warum sich so viele Menschen vor der Zukunft fürchten. Pflichlektüre, nicht nur für Kulturpessimisten.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/590968/Woher-der-Hass-Die-Zukunft" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/na/nadja-schlueter/text/regular/1033025.jpg"]

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13:38 Uhr:
Zusätzlich zu den tollen Links, die JosephineKilgannon in den Kommentaren sammelt, mal ein mittägliches Leseempfehlungs-Roundup:

  • Mein wunderbarer Kollege Hakan hat bei Kleinerdrei aufgeschrieben, wie er auf die Eilmeldung nach den Anschlägen von Paris reagiert hat. Sein erster Gedanke: "Bitte heiß’ nicht Hasan! Bitte lass es keinen Muslim sein, keinen von uns!" Sehr reflektiert, sehr selbstkritisch, guter Journalismus.

  • Der Spitzenkandidat der Hamburger AfD hat sich die Mutter aller Freudschen Versprecher geleistet.

    [plugin imagelink link="https://twitter.com/SimonHurtz/status/554578321200402432" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/B7JBuhNCEAAR6jF.jpg:large"]
    https://www.youtube.com/watch?v=Da_E0-W51z0

  • Ein kurzes Interviewüber einen ganz und gar großartigen Foto-tumblr.

    [plugin imagelink link="http://www.sueddeutsche.de/politik/portraets-von-menschen-auf-der-flucht-das-etikett-fluechtling-verschwindet-1.2296108" imagesrc="http://polpix.sueddeutsche.com/polopoly_fs/1.2296518.1420744117!/httpImage/image.jpg_gen/derivatives/860x860/image.jpg"]

  • Die gestrigen Solidaritätsbekundungen mit Charlie Hebdo waren eindrucksvoll und bewegend - aber nicht alle Staats- und Regierungschefs, die beim Schweigemarsch dabei waren und sich dort als Verteidiger der Presse- und Meinungsfreiheit inszeniert haben, legen im eigenen Land Wert auf diese Grundrechte. Für diese Liste wurde das Wort "Scheinheiligkeit" erfunden.


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11:46 Uhr:
Bislang war hier wenig los, aber jetzt kommt ein Text - und was für einer! Sechs Autorinnen und Autoren haben für uns über die Vergangenheit ihrer Wohnungen geschrieben. Wie fühlt es sich an, wenn man erfährt, dass man in einem ehemaligen Bordell wohnt und das eigene Schlafzimmer wohl nicht nur zum friedlichen Schlummern gedient hat? Was denkt man, wenn sich herausstellt, dass früher der "Frauenmörder von St. Pauli" im selben Haus gewohnt hat? Sehr schöne Protokolle, finde ich.

[plugin imagelink link="http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/590967/1/Da-wo-ich-heute-schlafe" imagesrc="http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/na/nadja-schlueter/text/regular/1033129.jpg"]

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11:07 Uhr:
Zumindest eines habe ich jetzt geschafft: den vermutlich längsten ungewollten Cliffhanger in der ruhmreichen Tagesblog-Geschichte zu produzieren (eine eher zweifelhafte Leistung). Tut mir leid! Die SZ-Konferenz hat lange gedauert und ist fast nahtlos in unsere jetzt-Konferenz übergegangen, sodass ich zwischendrin nichts mehr schreiben konnte.

Jetzt bin ich schon wieder im Stress, deshalb nur ein kurzes Update aus der Morgen-Konferenz: Wie erwartet steht der Tag auch heute im Zeichen von Charlie Hebdo. Nach den eindrücklichen Schweigemärschen am Wochenende (1,5 Millionen Menschen in Paris, 3,7 Millionen in ganz Frankreich) wird heute über die Konsequenzen aus den Anschlägen debattiert. Braucht es schärfere Sicherheitsgesetze und die Vorratsdatenspeicherung (die in Frankreich ja auch nicht geholfen hat), wie sie die CSU fordert? Wie lange hält das neue Wir-Gefühl an, das die Franzosen derzeit verbindet? Und bekommen die Pegida-Demonstranten weiter Zulauf, die für heute Abend wieder ihre Aufmärsche angekündigt haben?

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07:54 Uhr:
 Kurz bevor es gleich in die Morgen-Konferenz geht, lasse ich euch noch ein eiliges "guten Morgen!" hier. Ich vermute, dass es auch fünf Tage nach den Anschlägen in Paris kaum andere Themen geben wird. Sobald ich zurück bin, gebe ich euch einen kurzen Nachrichtenüberblick mit allem, was heute so ansteht.

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Oder doch nicht?

[plugin imagelink link="[plugin imagelink link="https://pbs.twimg.com/media/B6-6lZ-CEAAVUlJ.jpg" imagesrc="https://pbs.twimg.com/media/B6-6lZ-CEAAVUlJ.jpg"]

Vernebelungstaktik

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Die geplanten Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Kanada und den USA könnten der umstrittenen Gentechnik den Weg nach Europa öffnen. Zu diesem Schluss kommt eine noch nicht veröffentlichte Studie von Testbiotech, einem Institut zur Folgenabschätzung in der Biotechnologie. Die Untersuchung, die der SZ vorliegt, wurde im Auftrag der Grünen erstellt.



Die Gegner von TTIP und Ceta befürchten, dass europäische Standards mit TTIP und Ceta unterwandert werden könnten. Eine Studie zeigt, dass diese Ängste begründet sind.

Der Vertrag des Ceta-Abkommens zwischen der Europäischen Union und Kanada macht demnach deutlich, wohin die Reise gehen wird: Auf der Grundlage des Textes, der auch als eine Art Vorlage für TTIP angesehen wird, drohe die Gefahr, dass Standards für Umwelt-und Verbraucherschutz im Bereich der Agro-Gentechnik aufgeweicht würden, heißt es in der Untersuchung. Dies steht im Gegensatz zu den Aussagen der Regierungen in Brüssel und Berlin, die genau das immer wieder bestreiten. Laut Studie dürften jedoch nicht nur Schutzstandards abgesenkt werden, auch die in Ceta vorgesehenen Zulassungsverfahren und Regularien könnten den Herstellern von Gentech-Produkten ihr Geschäft deutlich erleichtern. Bisher konnten sich solche Lebensmittel in Europa kaum durchsetzen, auch weil die EU ihnen in vielen Fällen die notwendige Zulassung verweigert. Europa gilt als einer der wenigen weißen Flecken auf der Weltkarte der Gentechnikindustrie.

Mit den Abkommen dürfte es den zuständigen Stellen in der EU deutlich schwerer fallen, solche Zulassungen zu verweigern. Wie das funktionieren könnte, wird in der Untersuchung analysiert. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Welthandelsorganisation (WTO), deren Regeln mit dem Ceta-Vertrag anerkannt werden. Die WTO betrachtet die ablehnende Haltung Europas gegenüber der grünen Gentechnik als unzulässiges Handelshemmnis und liegt deshalb schon länger im Clinch mit der EU. Tritt der Ceta-Vertrag so wie er ist in Kraft, würde das bedeuten, dass die EU ihre kritische Position aufgebe, die sie im Rahmen des WTO-Streits noch offiziell verteidigt habe, heißt es in der Studie.

Die in Ceta und TTIP vorgesehenen Investorenschutzklauseln könnten außerdem zu einer Flut von Klagen vor privaten Schiedsgerichten führen. Die darin enthaltenen Regeln seien so schwammig gehalten, dass nicht nur Gesetze und regulatorische Standards angreifbar seien, sondern auch einzelne Verwaltungsakte. Das würde nach Einschätzung der Autoren der Studie bedeuten, dass selbst die Zulassungen einzelner Gentech-Pflanzen, ja sogar Feldversuche Gegenstand solcher Klagen werden könnten. Besonders kritisch bewertet die Untersuchung, dass mit dem Ceta-Vertrag eine ganze Reihe von gemeinsamen Gremien eingerichtet werden soll, die sich weitgehend der öffentlichen Kontrolle entziehen. Ziel dieser Ausschüsse soll es sein, Zulassungsverfahren zu beschleunigen. „Die Zusammenarbeit im Bereich der Biotechnologie wird in Ceta besonders betont“, heißt es in der Studie.

Für den Grünen-Politiker Harald Ebner kommt das einer Kapitulation vor der Gentechnik-Lobby gleich. Ceta und TTIP bedrohten auch die Kontrolle neuartiger Gentech-Produkte. Es bestehe die Gefahr, „dass gänzlich unerforschte Pflanzen ohne Zulassungspflicht auf Europas Märkte und Äcker gelangen“.

Die Bundesregierung hält trotz der Ablehnung von Verbrauchern an ihrem Zickzackkurs in Sachen Gentechnik fest. Obwohl sie sich laut Koalitionsvertrag eigentlich für eine Kennzeichnung von Gentechnikfutter auf EU-Ebene stark machen will, geschieht nichts in dieser Richtung. Agrarminister Christian Schmidt (CSU) zeigte zuletzt Sympathie für einen Vorschlag der amerikanischen TTIP-Verhandler, die bisher eine Gentechnik-Kennzeichnung grundsätzlich auch bei Nahrungsmitteln ablehnten. Die US-Seite hat nun vorgeschlagen, solche Lebensmittel über einen Strichcode auf der Verpackung des Produkts zu kennzeichnen. Das könnten Konsumenten dann mit Hilfe einer App auf ihren Smartphones erkennen. Verbraucherschützer bezeichneten den Vorschlag als Vernebelungstaktik.

Kümmerwuchs am Bosporus

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Sie ist das Vorzeigeprojekt der Bildungskooperation zwischen Deutschland und der Türkei: Vor etwas mehr als einem Jahr begann der Lehrbetrieb an der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul. Ziel der mehrsprachigen Einrichtung, die von Berlin und Ankara gemeinsam ins Leben gerufen wurde, ist Absolventen hervorzubringen, „die sich in beiden Ländern gleichsam heimisch fühlen“, wie es Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) bei der Eröffnung der Hochschule sagte. Nun wird deutlich, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist.



Bundesbildungsministerin Johanna Wanka und Halil Akkanat, Rektor der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, bei einer Pressekonferenz. Gut ein Jahr nach Eröffnung der TDU fehlt es noch an Studenten und Dozenten.

Da sind zum einen die Studentenzahlen:Mittelfristig soll es nach dem Willen der Politik 5000 Studenten an der TDU geben, derzeit sind es lediglich 316. Während das interkulturelle Studienangebot vor allem von türkischen Schulabgängern genutzt wird, entscheiden sich nur wenige hiesige Absolventen für ein Studium an der TDU. Gegenwärtig kommt nur etwa jeder zehnte Student aus Deutschland, 35 sind es insgesamt. Das hat auch damit zu tun, dass deutsche Studenten – anders als ihre türkischen Kommilitonen – Studiengebühren zahlen müssen. Für ein Ingenieursstudium beispielsweise werden pro Jahr fast 850 Euro fällig. Umgekehrt beteiligt sich die Türkei deutlich stärker an der Finanzierung der Hochschule: Ankara stellt im laufenden Jahr 30 Millionen Euro zur Verfügung, Berlin vier Millionen Euro.

Eine zweite Baustelle betrifft den Lehr- und Forschungsauftrag der Uni: Nach einem Jahr sind nur drei von den fünf geplanten Fakultäten in Betrieb. An den Fachbereichen für Ingenieurswissenschaften, Jura sowie Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften finden bereits Lehrveranstaltungen statt, die Fakultäten für Naturwissenschaften sowie – ausgerechnet – für Kultur- und Sozialwissenschaften sind hingegen noch nicht in vollem Umfang aktiv. „Es gibt ein starkes türkisches Interesse vor allem an naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen. Aber gerade für das Verständnis und für die Kommunikation ist es von unserer Seite wichtig, dass das Spektrum breiter bleibt“, mahnte Ministerin Wanka in Berlin zum Abschluss des deutsch-türkischen Wissenschaftsjahres.

Schließlich fehlt der TDU zum gegenwärtigen Zeitpunkt schlicht das Personal, um den geplanten Betrieb in vollem Umfang aufzunehmen: 74 Lehrkräfte sind derzeit an der Universität tätig, weitere 300 Stellen sind unbesetzt. Da die Kurse auf Deutsch und Türkisch sowie teilweise auf Englisch stattfinden, hat die TDU hohe Anforderungen an die Qualifikation ihrer Professoren. Die meisten fest angestellten Dozenten kommen aus der Türkei, aus Deutschland werden einige Professoren für Blockveranstaltungen eingeflogen – sie übernehmen auf diese Weise etwa 40Prozent der Lehre.

Aus Wirtschaftskreisen verlautete, dass fehlende Sprachkenntnisse allerdings nur ein Teil des Problems bei der Rekrutierung von Personal seien. Der zweite Grund: Da die TDU eine staatliche Hochschule ist, sind die Gehälter der Professoren gedeckelt. Ein Professor mit mehreren Jahren Berufserfahrung verdiene in der Türkei etwa 2200 Euro monatlich. An einer renommierten Privatuniversität jedoch könnten Top-Akademiker annähernd das Doppelte erwarten.

Döner für immer

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Es war ein mühsamer Prozess, der spät in Gang kam, doch nun tut sich etwas an den deutschen Bühnen: Junges, offensives Theater hat sich mit kritischen Interventionen in der Migrationsdebatte Gehör verschafft. 2014 etwa wurde Shermin Langhoffs neues Gorki in Berlin zum Theater des Jahres gewählt. Außerdem hat eine Blackfacing-Debatte den Rassismus stereotyper Darstellungsformen auf deutschen Bühnen entlarvt. Immer wieder wird zudem die Öffnung der etablierten Häuser für alle Bevölkerungsgruppen gefordert. Wege dorthin werden ausprobiert. Neue Stücke wie Christine Umpfenbachs „Urteile“ über den NSU-Prozess oder die Parallelgesellschafts-Komödie „Habe die Ehre“ von Ibrahim Amir rechnen auf unterschiedliche Weise mit Ausgrenzungsmechanismen, Vorurteilen und Parallelwelten ab.



Die Schauspieler Reinhard Mahlberg, Anke Schubert und Boris Koneczny während einer Probe für das Stück 'Das schwarze Wasser' im Nationaltheater in Mannheim.

Dass eine Sensibilisierung stattfindet, ist der Hartnäckigkeit weniger Akteure zu verdanken, nicht einer plötzlichen Erkenntnis der etablierten Kulturschaffenden. Dennoch gehört die kritische, kreative Reflexion darüber, wie gesellschaftlich relevantes Theater im Einwanderungsland Deutschland heute aussehen kann, inzwischen zum Standard. Auf dieser Welle surft das neueste Werk des derzeit auf Kuba lebenden Dramatikers Roland Schimmelpfennig.

Mit Stücken wie der preisgekrönten Globalisierungsparabel „Der goldene Drache“ ist er in den letzten Jahren zum poetisch-politischen Wald- und Wiesenkommentator deutscher Bühnen geworden. Doch sein Determinismus-Drama „Das schwarze Wasser“ greift enttäuschend kurz, und die Mannheimer Uraufführung in der Regie des Intendanten Burkhard C. Kosminski zeugt vor allem von Ratlosigkeit.

Das Stück setzt ein vor circa zwanzig Jahren mit einer sternenschimmernden Sommerutopie. Neun Jugendliche „überwinden für einen kurzen Moment alle gesellschaftlichen Gegensätze“, so heißt es in der Ankündigung. Zwei Gruppen treffen unverhofft aufeinander, die nachts heimlich in ein Freibad einsteigen – hier angedeutet durch flirrende Bögen von Wassertropfen, welche die sechs Darsteller schwungvoll aus triefend nassen Handtüchern über die Bühne spritzen.

Das verbindet, und so kommen sich die Sprösslinge etablierter Snobs und die türkischer Einwanderer am Pool näher. Nach dem Schwimmbad geht es noch in die Roxy-Bar, dann in den Dönerladen von Murats Vater –, der für die Jugendlichen mit Sesshaftigkeitshintergrund offenbar eine völlig fremde Welt darstellt,– und abschließend findet man sich zum kulturübergreifenden Knutschen im Park wieder.

Die Szenen jener „magischen“ Nacht verwebt Schimmelpfennig mit Momentaufnahmen aus der Gegenwart seiner Protagonisten zu einem narrativen Textfluss. Die Vermischung der Zeitebenen spiegelt auch Kosminskis Besetzung wieder, zwei junge, Katharina Hauter und David Müller, werden von vier Darstellern im mittleren Alter flankiert.

Der Text springt ohne dezidierte Rollen von einem zum nächsten, dennoch werden in der Uraufführung einzelne Figuren markiert. Murats Vater etwa ist an Schnurrbart, Akzent und Dönermesser zu erkennen. Klar, das ist natürlich selbstironisch gemeint, ein bewusstes Spiel mit Stereotypen. Leider wird es aber auch zum willkommenen Anlass für billige Lacher. Um das Klischee wieder zu brechen, ist das türkische Mädchen Leyla dafür blond und blauäugig besetzt. Auf die platte Ausländermaskerade völlig zu verzichten, wäre sicherlich die klarere Positionierung gewesen. Theater ist ja ohnehin immer auch eine Behauptung, Schnurrbart hin oder her.

Nach einem Zeitsprung von zwanzig Jahre lässt Schimmelpfennig dann einige der Jugendlichen von damals zufällig wieder aufeinander treffen. Alle sind genau zu dem geworden, was der Status ihrer Eltern erahnen und erwarten ließ: Frank ist Politiker, Freddi Anwalt, Murat verkauft Döner, Leyla sitzt an der Supermarktkasse – und das ist dann auch schon die ganze Pointe des Stückes.

„Das schwarze Wasser“ ist ein simpler, etwas altmodischer, melancholischer Abgesang auf eine Gesellschaft, die niemals vorhatte, Chancengleichheit herzustellen. Der männliche, weiße Denker verzweifelt ein wenig an der Welt, that’s it – keine Analyse, kein Aufbegehren. Vielleicht mussten Roland Schimmelpfennig und Burkhard Kosminski mit „Das schwarze Wasser“ ein Kapitel für sich abschließen, während sich die zwanzig Jahre jüngeren Kolleginnen längst an das nächste gewagt haben.

Held aus dem Supermarkt-Keller

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München – Lassana Bathily spricht schüchtern, aber seine Worte sind kraftvoll und klar: „Wir sind Brüder. Es geht nicht um Juden, Christen oder Muslime. Wir sitzen alle im selben Boot, man muss sich gegenseitig beistehen, um aus so einer Krise herauszukommen.“ Wie wenig es dem 24-Jährigen um Herkunft oder Religion geht, zeigt seine eigene Geschichte: Er stammt aus Mali, lebt in Paris, ist praktizierender Muslim und arbeitet als Lagerist in einem jüdischen Geschäft – in dem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes, in dem sich am Freitagmittag der islamistische Attentäter Amedy Coulibaly verschanzte. Bathily hat nicht nur die Geiselnahme überlebt, er hat auch sechs anderen Menschen dort das Leben gerettet



Ein Einschussloch ist am 10.01.2015 in Paris (Ile-de-France) an dem jüdischen Supermarkt zu sehen, in dem der islamistische Geiselnehmer nach Angaben der französischen Staatsanwaltschaft am 09.01.2015 vier Geiseln getötet hatte


Als der Terrorist Coulibaly gegen 13.30Uhr das Geschäft betritt und anfängt, um sich zu schießen, verrichtet Bathily gerade im Untergeschoss sein Mittagsgebet, so hat er dem französischen Sender BFM-TV im Interview erzählt. Mehrere Kunden flüchten vor dem Angreifer Coulibaly ins Untergeschoss. Bathily reagiert schnell und weist ihnen den Weg zu einem von zwei Kühlräumen. „Ich habe die Tür zum Kühlraum geöffnet, und mehrere Menschen kamen mit mir mit. Dann habe ich das Licht und die Kühlung ausgeschaltet. Ich sagte ihnen, sie sollten leise sein“, erzählt Bathily.

Als der Geiselnehmer bemerkt, dass sich mehrere Kunden vor ihm versteckt haben, schickt er eine Angestellte, sie zu holen. Coulibaly droht: Wenn sie nicht nach oben kommen, werde er sie erschießen. Vier Menschen seien der Aufforderung des Attentäters gefolgt, berichtet ein Zeuge. Ob sie getötet wurden, ist unklar. Bathily schlägt den übrigen versteckten Menschen vor, mit dem Lastenaufzug zum Notausgang hochzufahren. „Aber sie hatten Angst“, so Bathily weiter, dass Coulibaly das Geräusch des Aufzugs hören könnte. Also flüchtet er allein.

Aber als er aus dem Supermarkt kommt, verdächtigen ihn die Sicherheitskräfte, selbst der Attentäter zu sein. „Sie haben mir nicht geglaubt“, erzählt Bathily. Eineinhalb Stunden lang wird er in Handschellen festgehalten, bis ihn ein weiterer Angestellter, der sich aus dem Supermarkt retten kann, identifiziert. Bathily, der seit vier Jahren in dem Laden arbeitet, kann den Beamten einen Plan der Räumlichkeiten aufzeichnen; sein Kollege gibt ihnen den Schlüssel zu einem Absperrgitter.

Inmitten des Schocks, der Besorgnis und der Trauer, welche die Terrorattacken von Mittwoch, Donnerstag und Freitag ausgelöst haben, steht die Tat von Lassana Bathily für Menschlichkeit und Mut. Zwar betont er im Fernsehinterview bescheiden, es sei die Polizei gewesen, welche die Geiseln befreite, er habe nur geholfen. „Sie haben sich bei mir bedankt.“ Aber im Internet feiern viele ihn als Held, im Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet sich die Forderung, Lassana Bathily eine Medaille zu verleihen.

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