Zu den erstaunlichen Vergnügungen der Stadtmenschen zählt es ja, sich vor Heiligabend bei kopfschmerzerregenden Heißgetränken auf Weihnachtsmärkten zusammenzuquetschen, im Getümmel zwischen Filz-Zipfelmützen- und Schmalzkuchenbuden seine Handtasche ausräumen zu lassen und die Aufenthaltsdauer in überfüllten dezemberlichen Einkaufsstraßen unnötig zu verlängern.
Zu den noch erstaunlicheren Vergnügungen zählt es, das alles nach Heiligabend zu tun.
Sie machen weiter. In Hamburg und in Lübeck, in Hannover und Braunschweig und Schwerin, überall im Norden drosselt das Jahr nun seine Reisegeschwindigkeit, bremst langsam ab und wird still zwischen den Jahren – und vergönnt den Menschen doch ein letztes bisschen Lärm: Weihnachtsmärkte ohne Weihnachten. Viele Menschen nehmen dieses Angebot dankend an. Das sagt eigentlich mehr über die Menschen als über die Märkte.
Es wird jetzt keine Adventsmusik mehr gespielt zwischen den Buden rund um die Hamburger Petrikirche, statt des zähen Geräuschbreis aus Weihnachtsliedern und Glockenbimmeln schleichen sich nun die Geräusche der Stadt zwischen die Gäste. Autohupen, Schimpfen, Möwenschreie. Das Klappern der Centstücke im Pappbecher der Bettlerin. Das Knistern des Fetts am Wurstgrill. Gesprächsfetzen. Tristesse. „Mann, ich bin so feiern gewesen gestern, ich könnt mich hier glatt aufn Boden legen“, ruft der Bäcker aus der Apfeltaschenbude dem Verkäufer gegenüber im „Warmer Burgunderschinken im ofenfrischen Brötchen“-Stand zu. „Ich lieg’ auch noch gefühlt im Bett“, ruft der Schinkenmann zurück. „Das ist nur mein Körper, der hier steht, das ist so ein Automatismus.“ Sie sind nicht die Einzigen, die müde sind. Trotzdem sind sie noch hier, trotzdem noch auf den Beinen.
Es gibt Länder in Europa, in denen alle Weihnachtsmärkte bis zum 6. Januar geöffnet haben. Weil die Kinder dann erst Geschenke bekommen, zum Fest der Heiligen Drei Könige. Es gibt in Deutschland auch jedes Jahr wieder Streit, wann die Märkte beginnen sollten und ob es respektvoll ist, dass manche schon im November öffnen, vor Totensonntag. Aber wie lange sie noch weitermachen, wenn die Geschenke längst ausgetauscht sind, vielfach auch schon wieder umgetauscht, wenn die Menschen weihnachtsmatt und satt sind: Danach fragt keiner. Es herrscht Milde, wenn es darum geht, wie lange es vernünftig ist, sich treiben zu lassen zwischen Schuppen mit Windlichtern in Katzenform, gehäkelten Fausthandschuhen in Regenbogenfarben und einander umarmenden Pfeffer- und Salzstreuerfiguren.
An den Rabatten kann der anhaltende Andrang zumindest nicht liegen – reduziert ist noch fast gar nichts. Ob der kleine Strick-Wichtel für 4,50 Euro jetzt wohl günstiger zu haben sei? Die Verkäuferin an der Petrikirche hebt die Brauen. „Wieso? Die sind doch das ganze Jahr über schön.“ Na ja. Der Mann, der in der Spitalerstraße Mistelzweige verkauft, gibt auch keinen Nachlass. Dafür hat er ein schlagendes Argument: „Da kannst du dich doch jetzt auch noch drunter küssen.“
Nur der Tee-Stand verspricht Prozente. Kaum nähert sich ein Kunde, schießt die Verkäuferin hinter den Beuteln hervor. „Alles zum halben Preis“, sagt sie und greift drei Teesorten: „Heart to Heart“, „Happy Emotion“ und „Beautiful Day“. Sie reißt die Dosen auf, es riecht nach süßlichen Räucherstäbchen. Schnell weiter. Nebenan steht eine Gruppe Rentnerinnen am Glühweinstand, aus Buchholz in der Nordheide. Die Damen haben schon ein paar Tassen genossen, es gibt auch heißen Eierlikör. Mit Schuss. Die Stimmung ist gehoben, es werden Schlager angestimmt, „Marlen, einer von uns beiden muss nun geh’n“. Das Ganze erinnert an Après-Ski im Hochzillertal, ein bisschen beklemmend, ein bisschen lustig. „Wir sind immer gerne hier“, sagt eine der Damen. „Bisschen gucken, bisschen was essen, bisschen trinken.“
Vielleicht ist das schon das ganze Geheimnis. Dass es zum Jahresende gar nicht mehr braucht als ein bisschen Lärm, zum Schluss, wenn alles andere schon still ist. Charlotte Parnack