Julius Fischer, 1984 in Gera geboren, lebt in Leipzig. Er hat an zahlreichen Poetry Slams im deutschsprachigen Raum teilgenommen und viele von ihnen gewonnen. Mit Christian Meyer tourt er als „The Fuck Hornisschen Orchestra“ durch den deutschsprachigen Raum. Außerdem ist Julius eine Hälfte des Slam-Duos „Team Totale Zerstörung“, Mitglied der Dresdner Lesebühne „Sax Royal“ und Mitbegründer der Leipziger Lesebühne „Schkeuditzer Kreuz“. Seit 2011 ist er festes Mitglied der Berliner Lesebühne „Lesedüne“. Beim Sprechstation Verlag erschien 2009 sein Album „Aspekte der Tiefe“. Sammlungen seiner besten Bühnentexte sind als Buch mit CD unter dem Titel „Ich will wie meine Katze riechen“ und„Die schönsten Wanderwege der Wanderhure“ beim Verlag Voland & Quist erschienen.
Teil 1: Die Neuerscheinung
Tomas Glavinic: Das größere Wunder
jetzt.de: Ich nehme an, wir müssen jetzt sehr viel loben, oder?
Julius Fischer: Ja, es gibt fast nichts, was ich an diesem Buch nicht gut finde. Und das, obwohl mich die Hauptgeschichte überhaupt nicht interessieren dürfte.
Worum geht es denn in der Hauptgeschichte?
Der Roman ist in zwei Erzählstränge gegliedert. Einer spielt in der Gegenwart und berichtet davon, wie ein junger Mann, Jonas, den Mount Everest besteigt. Der andere beginnt in der Kindheit dieses jungen Mannes und erzählt, wie es dazu kommt, dass er diesen Berg besteigen will. Dieser Zusammenhang wird einem aber erst im Nachhinein klar, es ist konstruiert, ohne konstruiert zu wirken.
Und was ist jetzt so gut an der Schilderung der Bergbesteigung?
Sie ist sehr glaubwürdig. Man erfährt sehr viel über die Verhältnisse am Mount Everest. Ich habe zum Beispiel nicht gewusst, dass man sich richtige Führer mieten kann und wie durchorganisiert das alles ist. Dass es verschiedene Akklimatisierungs-Aufstiege und -Abstiege gibt, dass man es auch als nicht Extremsportler schaffen kann, auf diesen Berg zu kommen. Außerdem führt Glavinic viele Nebenfiguren ein, die Teil der Expedition sind, und alle haben ihre eigene Sprache, ihren eigenen Charakter. Dadurch wird das, was er erzählt, sehr szenisch.
Sie interagieren und erhalten dadurch ein Profil.
Ja, genau. Diese Interaktion ist für das ganze Erzählprojekt und seine Figuren sehr wichtig, auch im zweiten Erzählstrang, in dem die Geschichte einer Freundschaft zwischen drei Jungen erzählt wird.
Was zeichnet diesen Teil des Buches für dich besonders aus?
Er ist sehr märchenhaft, alles erscheint irgendwie sepiabehaftet. Der Großvater, der Jonas bei sich aufnimmt. Die Schilderung bedingungsloser Jugendfreundschaft, der Sehnsucht und Heimatlosigkeit, die Jonas nach mehreren tragischen Verlusten um die ganze Welt reisen lassen. All das ist mit sehr viel Wärme, aber auch spitz und lustig geschrieben.
Und lebt von der Sympathie, die man für Jonas empfindet.
Ja, er ist ein verschlossener, intelligenter Klugscheißer mit verrückten Ideen. Ich mag Klugscheißer.
Du sagtest, es gibt fast nichts, was dir nicht gefallen hat. Was meintest du damit?
Die letzten zwei Seiten fand ich grässlich. Sie sind folgerichtig, aber sie haben mir nicht gefallen. Für mich ist klar, dass er nur für sich auf den Berg geht, dass er dann aber sagt, er sei nicht oben gewesen, finde ich doof.
Nicht nachvollziehbares Understatement?
Ja, es ging natürlich die ganze Zeit um die Liebe. Die Bergbesteigung ist die Liebe, er musste über den Berg, damit er seine Liebe wiederfinden kann. Es war mir dann aber zu schmalzig, dass Glavinic es so aussehen lässt, als hätte er es nur für die Liebe gemacht. Jonas hätte am Ende sagen sollen: „Und ich war auf dem Berg, war geil, guck mal hier, die Fotos.“
Mich haben eher die Seiten davor gestört, die Schilderungen aus der Todeszone und des Abstiegs, die fast nur aus Kalendersprüchen bestehen, das ist gefühlt ein dreißigseitiger Lebensratgeber.
Ich habe das nur überflogen und gedacht: „Komm, hör auf zu quatschen, ich will jetzt wissen, ob du stirbst oder nicht.“ Unter dem Aspekt der Lesbarkeit stört es nicht. Aber man braucht es nicht noch mal, man hat über Jonas und das, was erzählt werden will, schon genug erfahren.
Thomas Glavinic: Das größere Wunder, Carl Hanser Verlag, München 2013, 528 Seiten, 22,90 Euro.
Auf der nächsten Seite erzählt Julius von seinem Lieblingsbuch "Die Entdeckung des Himmels", das er als Jugendlicher zum ersten Mal gelesen hat.
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Teil 2: Das Lieblingsbuch
Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels
"Die Entdeckung des Himmels" wurde 2007 von der Tageszeitung „NRC Handelsblad“ zum besten Holländischen Roman aller Zeiten gewählt. Als das Buch 1992 erschien, war es ein großer Publikumserfolg.
Ich habe das Buch das erste Mal als Heranwachsender gelesen. Und heute wie damals sind es die gleichen Dinge, die mich geflasht haben. Am meisten die Geschichte einer Freundschaft.
Aber diese Geschichte ist doch eigentlich schon nach 300 Seiten zu Ende erzählt.
Ja, das stimmt, aber sie gefällt mir so gut, sie ist das, was von diesem Buch bleibt.
Aber die Frage muss doch lauten, warum die anderen knapp 600 Seiten noch dazu müssen. Gerade auf diesen Tomb-Raider-Schlussteil hätte ich verzichten können.
Ich bin da sehr nachsichtig, weil der Anfang der Geschichte so gut erzählt ist. Und im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, mit denen ich schon darüber geredet habe, finde ich die Rahmenhandlung – zwei Engel planen, einen „Funken“ auf die Erde zu senden, um das „Testimonium“ zurück in den Himmel zu bringen – zwar nicht notwendig, aber cool. Ich bin nicht gläubig, aber ich mag den Gedanken, dass es eine Macht gibt, die sagt: Wir basteln das jetzt alles zusammen.
Ja, das ist ja auch das Angenehme, das Tröstende an diesem Buch.
Haben dich denn die letzten 500 Seiten richtig genervt?
Ich war irgendwann an einem Punkt, an dem ich, bei aller epischen Erzählfreude, das Gefühl hatte, ich erfahre jetzt nichts Neues mehr über diese Menschen. Wenn ich bei 800-Seiten-Romanen an einen solchen Punkt komme, dann lese ich sie eigentlich nicht mehr weiter.
„Die Entdeckung des Himmels“ sind ja eigentlich auch zwei Romane.
Es sind vier! Es ist die Geschichte einer Freundschaft, es ist die Geschichte einer Dreiecksbeziehung, es ist ein Entwicklungs- und Bildungsroman…
… und am Ende noch ein bisschen Adventure. Was über die Dreiecksbeziehung erzählt wird, fand ich übrigens empörend. Vielleicht auch, weil ich, als ich das Buch das erste Mal las, gerade eine Erfahrung mit einer solchen Konstellation gemacht hatte. Ich war der Geschasste, nur das ich im Gegensatz zum Protagonisten Onno davon wusste. Ich finde, das sollte auf meinem Grab stehen: „Er war ein wissender Onno.“ In Hinblick darauf hat mich dann der Bildungsroman, die Geschichte von Onnos Sohn Quinten, sehr interessiert. Ich mag, wenn man weiß, da ist einer auserwählt, mal gucken, wie er sich macht. Zuzuschauen, welche Entbehrungen und Rückschläge er hinnehmen muss, was er alles lernt, gefällt mir, weil man mitlernt und so Teil der Geschichte wird. Und dann kommt das Ende, das sein muss. Dieser große Zusammenhang fesselt mich an diesem Buch.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Mulisch diesen großen Zusammenhang wirklich gekonnt darstellt. Ich weiß auch gar nicht, ob das in einem Buch überhaupt möglich ist.
Ich gebe dir Recht und trotzdem eine Leseempfehlung, zumindest für die ersten 300 Seiten. Da hätte es wirklich enden können, davon hast du mich überzeugt.
Man hätte auch zwei oder drei Bücher daraus machen können.
Vielleicht raten wir das dem Verlag mal. Das letzte Buch hieße dann: „Die Entdeckung des Himmels Teil Drei. Wen’s noch interessiert“.
Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1995, 880 Seiten, 9,90 Euro.