Jahresrückblicke haben in aller Regel das Anliegen, eine Antwort auf folgende Frage zu liefern: „Was war dieses Jahr wichtig?“ Das ist gut. Aber wir finden, dass eine andere Frage mindestens genauso wichtig ist: „Was haben wir verstanden?“. Deshalb haben wir ein digitales Magazin mit einer Liste gemacht: 100 Dinge, die wir 2013 begriffen haben. Einen Auszug daraus findest du hier - darum sind die Punkte auch nicht immer fortlaufend nummeriert. Das komplette digitale Magazin mit allen 100 Punkten für Tablets und Smartphones kannst du mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung herunterladen. Du kannst es für nur 89 Cent kaufen; für Abonennten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.
Wir haben verstanden:
67. Wäre man Politiker, könnte man mit dem eigenen Mittelfinger ganz schön viel bewegen.
68. Wahlzettel für Landtagswahlen sind immer so verdammt groß!
69. Das war’s dann wohl für die Piraten.
70. Schwarz-Grün ist nicht so völlig unvorstellbar und abwegig wie alle immer tun.
71. „Schönheit“ bedeutet immer mehr: immer weniger werden.
Der „Thigh Gap“ ist das neue Schönheitsideal vieler Mädchen: eine möglichst große Lücke zwischen ihren Oberschenkeln, wenn sie mit geschlossenen Beinen stehen. Im Internet gibt es Bildersammlungen davon und Anleitungen dafür. Viele Blogs und Magazine äußern sich kritisch dazu, denn der Trend ist gefährlich: Die Überschneidung zwischen den Anhängern der Lücke und denen der „Pro Ana“-Bewegung, die Magersucht als Lebensmodell verfolgen, ist groß. Der Trugschluss dabei: Der Thigh Gap hat meist nichts damit zu tun, ob man dick oder dünn ist. Ob man ihn hat oder nicht, hat vor allem mit der Anatomie zu tun. Die Thigh-Gap-Bilder im Netz verzerren das weibliche Körperbild noch mehr als ohnehin schon. Die Mädchen werden auf den Fotos nicht nur komplett auf ihren Körper reduziert, sondern sogar nur auf einen Teil davon, die Schenkel – und sogar davon soll möglichst wenig existieren. Das Bild mit der größten Leerstelle zeigt die größte Schönheit. Wer verschwindet, ist schön. Schön ist, wo nichts ist. Darum möchte man sagen: Mut zu keiner Lücke! Am besten wäre es aber, wenn es dafür keinen Mut bräuchte.
nadja-schlueter
72. Auf dem Wohnungsmarkt 2013 gilt ein Schiffscontainer als super Sache.
Nur mal so als Beispiel: In Berlin wurde dieses Jahr eine neue Siedlung extra für Studenten gebaut und angepriesen. Die Studenten sollen in aufeinandergestapelten Schiffscontainern wohnen, etwa 2,50 Meter breit, 2,90 hoch und 12 Meter lang. Die Miete: knapp 400 Euro pro Monat. Die Macher des Containerdorfs konnten sich vor Anfragen kaum retten. Der Wohnungsmarkt war schon in den vergangenen Jahren ein Arsch, aber 2013 ist er irgendwie noch mal ein bisschen schlimmer geworden. Gefühlt konnte man auf Youtube jede Woche ein neues verzweifeltes Bewerbungsvideo für ein WG-Zimmer sehen, oder einen neuen Protestsong eines traurigen Studenten hören. In Erinnerung bleiben auch die Satire-Aktionen und Guerilla-Wohnungsrenovierungen der Münchner Gruppe „Goldgrund“, die sogar zu Bewegung in der Politik geführt hat. Apropos Bewegung in der Politik: Die Mietpreisbremse steht im Koalitionsvertrag, und die Makler sollen ihr Geld künftig von dem bekommen, der sie beauftragt hat, im Normalfall also vom Vermieter. Was diese Pläne bringen, ist aber umstritten.
christian-helten
73. Dinge, die 2013 gestorben sind, denen wir aber nicht hinterher trauern: die Studiengebühren und die Praxisgebühr.
74. Kurz vor Sonnenaufgang, wenn die Party vorbei ist, bündelt sich die ganze Poesie einer Nacht.
My und Camilla am Ende der Partynacht.
75. Die Ära „Kate Moss“ ist endgültig vorbei.
Kate Moss war 2013 das Jubiläums-Playboy-Bunny. Ihre Ära ist vorbei.
Kate Moss hat endgültig abgedankt. Das ehemalige Über-It-Girl ist zwar verhältnismäßig würdevoll und auf gewohnte Cool-Manier gealtert (keine Castingshows, keine Kosmetiklinie, keine Schauspiel- oder Gesangsambitionen) – als wirkliches Rolemodel interessiert sie aber spätestens seit diesem Jahr keinen mehr. Was gab es von ihr noch gleich Neues 2013? Erstens: Sie hat an einer neuen Topshop-Linie gearbeitet. Aha, kennt die neue Generation Topshopper denn die Alte überhaupt noch? Zweitens: Sie hat sich wohl für 2014 bei der Vogue als Moderedakteurin verdingt. Drittens: Sie war das Jubiläums-Bunny des 60. Playboy-Geburtstages und hat den Sonderpreis der British Fashion Awards für ihre 25 Jahre alt gewordene Modekarriere bekommen. All das nickt man so mittel beteiligt ab und denkt: Das war’s also mit der Ära Moss. Auf dem Bewunderungsradar junger Menschen hat sich längst ein anderer Typ Frau etabliert. Zum neuen Rolemodel-Status reicht es nicht mehr, mit verschmiertem Kajal und zwielichtigen Druffies abzuhängen und ab und zu ein paar Skinny-Jeans zu entwerfen. Das neue Cool ist lustig, ironisch und, egal, wie streitbar dieser Begriff auch sein mag: so etwas wie authentisch. Um das zu beweisen, zieht es mindestens eine Dauergrimasse (Cara Delivigne), hat die Intelligenz und den Mut, das gängige Schönheitsideal und den Individualitätszwang unserer Zeit bissig zu kommentieren (Lena Dunham), propagiert einen modern feministischen und die Werbeindustrie ablehnenden Freigeist (Tavi Gevinson) und hat zu jeder hohlen Hollywood-Frage einen entspannten Kommentar in der Tasche (Jennifer Lawrence). Nackte Bunnys soll die Abrissbirne holen gehen.
mercedes-lauenstein
76. Die münchnerischste aller Straftaten ist der Maßkrugdiebstahl.
77. Was wir immer weniger verstehen: Syrien.
78. Protest mit Nacktheit geht anscheinend immer noch.
[seitenumbruch]81. Andrea Nahles braucht bei Koalitionsverhandlungen Alkohol. Wahrscheinlich, um sich die Union schön zu trinken.
82. Boris Becker ist stolz, Deutscher zu bin.
83. Die spannendste deutschsprachige Band kam in diesem Jahr – aus Österreich.
Es kommt eher selten vor, dass Indiemedien schon im Frühherbst die großen Jahresend-Superlative aus der Schublade ziehen. „Video des Jahres“ war aber eher noch eines der nüchterneren Prädikate für „Maschin“ von Bilderbuch. In dem Clip tänzelt Maurice Ernst, Sänger und Goldkettchenträger, wie ein entfesselter Gebrauchtwagenhändler um einen gelben Lamborghini. Licht an, Licht aus. Fahrersitz vor, Fahrersitz zurück. Ein Autoporno, in dem keine Sekunde der Motor läuft, eine Wiener Melange aus Sex und Witz und Ironie. Bilderbuch sind eine Konzeptband, die trotz eines Durchschnittsalters von 23 Jahren schon acht Jahre Bandgeschichte und zwei souveräne Alben am Revers hängen hat. Die EP „Feinste Seide“ schlug im herbstlichen Deutschland auf, wie es seit Ja, Panik keiner österreichischen Indieband mehr gelungen war. Eine originelle Pop-Platte, drei Songs nur, so schlank und schnell wie eine Straßenkatze. Dezent platzierte, trompetenhafte Gitarren, kluge Dada-Texte und ein Bass, der klingt wie ein Daumen auf dem Aux-Kabel. Und das im letzten Drittel eines Jahres, das kommerziell vor allem von Deutschrap dominiert war: Kollegah, Prinz Pi, Cro, Casper und Alligatoah hatten wochenlang die Spitze der Albumcharts besetzt. Nicht dass die kleine Bilderbuch-Platte dem Erfolg des deutschen Hip-Hops auch nur ansatzweise nah gekommen wäre. Aber immerhin: die Indieszene atmete hörbar erleichtert auf. Und klickte dann auf Repeat.
jan-stremmel
84. Und der Gewinner des „Sprache kann so schrecklich sein“-Awards 2013 in der Kategorie „grausamste Blähfloskel“ ist:„Ganz ehrlich“.
85. Chabos wissen, wer der Babo ist – und alle anderen wissen jetzt endlich, was ein Babo eigentlich ist.
86. Durch den Literaturnobelpreis an Alice Munro bekommen Erzählungen endlich mal die Aufmerksamkeit, die sie verdienen (es muss ja nicht immer gleich ein Roman sein).
87. Das „Selfie“ ist nicht nur das englische Wort des Jahres, sondern auch eine Falle: Wenn man wie Barack Obama ein Selfie in einer Situation schießt, in der man es eigentlich lieber bleiben lassen sollte – bei der Trauerfeier für Nelson Mandela zum Beispiel.
88. Wir wollen nicht mit Sarah Harrison tauschen. Aber wir wären gern mehr wie sie.
Man kann sich nur vage vorstellen, wie Sarah Harrison, die engste Vertraute von Edward Snowden, gerade ihre Zeit in Berlin verbringt. Wie sie durch Kreuzberg streift, sich das Brandenburger Tor ansieht, über einen Weihnachtsmarkt schlendert, daran denkt, dass sie dieses Weihnachten nicht bei ihrer Familie sein kann. Und das alles in dem Wissen, verfolgt zu werden. Über ihr Leben in Berlin sprach Sarah Harrison gerade in einem Interview mit dem Stern. Die 31-jährige Wikileaks-Mitarbeiterin begleitete den NSA-Whistleblower Edward Snowden bei der Flucht von Hongkong nach Moskau und verbrachte mit ihm 39 Tage im Transitbereich des Flughafens. Später brachte sie ihn zu seinem jetzigen Aufenthaltsort und blieb vier Monate bei ihm. Inzwischen ist ihre Aufgabe an Snowdens Seite erledigt. Seit Anfang November ist Sarah Harrison in Berlin. In ihre Heimat England kann sie nicht zurück, sie hat Angst verhaftet und zur Herausgabe von Informationen gezwungen zu werden. Snowden ist der meistgesuchte Mann der Welt. In Berlin ist Harrison frei und arbeitet weiter an dem, woran sie glaubt; so fest, dass sie sich nicht einmal von der Tatsache abhalten lässt, dass sie ihr bisheriges Leben dafür aufgeben muss, genau wie Edward Snowden seines aufgeben musste. Im November veröffentlichte Wikileaks eine Art Manifest von Sarah Harrison. Am Schluss schreibt sie: „Mut ist ansteckend.“ Hoffentlich.
kathrin-hollmer
89. Für jemanden, der wie der Österreicher Sebastian Kurz mit 27 Jahren Außenminister wird, ist das erste Mal Sex mit 15 irgendwie spät.
90. Das klassische Musik-Marketing ist überholt: Im Januar veröffentlichte David Bowie aus heiterem Himmel eine neue Single und ein paar Wochen danach ein Album, im Dezember brachte auch Beyoncé völlig unangekündigt ein neues heraus. Gleichzeitig landete Lady Gaga mit ihrer Platte einen Verkaufsflop, trotz monatelangen Werbefeuerwerk, und Macklemore & Ryan Lewis verkauften mehr als eine Million Alben – ganz ohne Major-Label.
91. Lachen macht doch keine Falten: Der Smiley ist 50 Jahre alt geworden und sieht noch genauso aus wie früher.
92. Man hätte ziemlich reich werden können dieses Jahr. Mit Internetgeld.
Seit 2009 erleben die Menschen die Geburt einer Währung. Sie heißt Bitcoin. Zu Beginn wurde sie ignoriert und dann belächelt. 2013 aber war ihr großes Jahr. Sowohl politisch – in den USA werden Bitcoins seither als Währung akzeptiert – als auch preislich. Der Kurs lag an besten Tagen bei 1200 US-Dollar. Ende 2011 hatte er noch bei fünf US-Dollar gelegen.
Die Währung lernt noch zu laufen, momentan überrascht es niemanden, wenn der Kurs an einem Tag um 40 Prozent fällt. Woher die Schwankungen kommen, ist noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Angebot und Nachfrage regulieren den Preis, klar, aber auch Faktoren wie die Langzeitentwicklung spielen eine Rolle. Und weil Bitcoins noch so jung sind, ist ihre Zukunft ungewiss.
Bitcoins sind digitales Geld, geboren nicht in einer Zentralbank, sondern einzeln errechnet, indem Computer mathematische Aufgaben lösen. Je mehr Computer mitrechnen, desto schwieriger werden die Aufgaben, desto mehr Leistung, also Strom, wird verbraucht, um das Ergebnis zu errechnen. Für Einzelpersonen ist es sinnvoller, sich Bitcoins einfach zu kaufen, also mit ordinärem Geld in eine Bitcoin-Geldbörse zu laden.
hakan-tanriverdi
93. Weil die Blogger von „Nerdcore“ und „Schlecky Silberstein“ dieses Jahr so schön gestritten haben, wissen wir jetzt: Wir brauchen eben beides – Mainstream-Bloggen für „gelangweilte Angestellte“ und Underground-Bloggen für enthusiastische Nerds.
94. Dieses Jahr wurde der Supermarkt ohne Verpackungen noch nicht geboren, die Idee dafür aber schon.
95. In Fußstapfen treten kann sehr befreiend sein.
96. Rainer Brüderle hat dieses Jahr einiges falsch gemacht, dafür aber einen chancenreichen Kandidaten für das Seniorenwort des Jahres ins Rennen geschickt: „Tanzkarte“.
97. Wir sind gespannt auf das brasilianische 2014. Sehr gespannt!