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Zu viel Energie

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Jeden Juni treffen sich in der verschlafenen norwegischen Kleinstadt Voss Extremsportler aus aller Welt, um mit den Elementen zu spielen.


Das Best of-Video sieht aus wie ein Zusammenschnitt von Suizidversuchen. Ein paar Männer springen über eine Felsklippe in den Abgrund. Ein einsamer Kanute stürzt sich senkrecht ins weiß tosende Becken am Fuße eines gewaltigen Wasserfalls, gefolgt vom Schlauchboot einer tolldreisten Raftinggruppe. Mit Ellenbogenschonern gewappnete Jugendliche rasen auf Kickboards die verschlungenen Serpentinen einer Passstraße hinunter, während sich über ihnen Menschen aus Kleinflugzeugen in die kristallklare Luft des norwegischen Fjordlands stürzen.



Norwegen im Adrenalinrausch.

Das Video zeigt aber auch vor Glückshormonen strotzende junge Menschen, die mal ihre nackten Oberkörper den Strahlen der Mitternachtssonne darbieten, mal glücklich im strömenden Regen durch Moos und Farne stapfen wie ein Aufeinanderprall der Kataloginhalte sämtlicher Outdoor-Kleidungsfabrikanten. All das geschieht in Voss im westnorwegischen Fjordland, einem Städtchen, das gerade einmal 14000 Einwohner hat - und einmal im Jahr, während der "Extremsportwoche" Ende Juni, doppelt so viele beherbergt.

Voss, in den Tagen vor dem Einbruch der Massen, das ähnelt einem Freizeitpark, in dem Norwegen auf engstem Raum nachgebaut ist: Da ist das Folkemuseum mit historischen Bauernhöfen, darüber die Gipfel, auf denen der Schnee schmilzt. Da sind die fischreichen Seen, zwischen denen sich der Ort erstreckt. Da sind die dunkelroten Züge auf dem Weg zwischen Oslo und Bergen, die ein paar Touristen ins Hotel Fleischer entlassen, ein Holzhaus, das mit all seinen Türmchen und Erkerchen aussieht, als hätte es in den mehr als 100 Jahren seines Bestehens keine Veränderung erfahren. Im Zentrum, rund um das Kirchlein, ist Blumenmarkt, im Café Tre Brør bestellen ein paar Biker Karottensuppe und Gemüsecouscous. Auf der weiten Uferwiese flanieren Pärchen. Möwen kreischen. Voss ist vieles, nur nicht extrem.

Und doch beruft sich der Gründungsmythos der "Extremsportwoche" weniger auf den Kampf der örtlichen Jugend gegen zu viel Beschaulichkeit als auf das Ergebnis einiger Gläser Bier zu viel. Da saßen sie eines Herbstabends 1997 zusammen, Øyvind Kindem, Svein Oscar Moseid, Frode Solbakk und Even Rokne, Vorsitzende der örtlichen Paraglider, Kajakfahrer, Rafter und Skydiver, und überlegten, wie sie sich mit ihren jeweiligen Meisterschaften aus dem Weg gehen konnten. Bis einer auf die Idee kam zu fragen: "Warum legen wir all das nicht einfach zusammen?"

Wer das gefragt hat, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass sich ein halbes Jahr später, vor exakt 15 Jahren, erstmals 200 Unerschrockene in Voss trafen, um Lüfte und Wasser herauszufordern. Sicher ist auch, dass schon damals der Versuch unternommen wurde, die kombinierten Meisterschaften mit kulturellen Highlights zu garnieren, was fürchterlich in die Hose ging: Die auf lokalen Hochzeiten geschätzte Sängerin Ulyd wurde von den Trendsportlern gnadenlos von der Bühne gebuht.

In wenigen Tagen ist es wieder so weit. Voss ruft zu seiner 16. Extremsportwoche. Nur, dass inzwischen nicht mehr vier, sondern 13 Disziplinen ausgetragen werden, dass 1200 Sportler erwartet werden und 12000 Fans, die sich an die Ufer der Seen und Flüsse oder an den Fuß der Felsklippen setzen, um zu erleben, wie Menschen am Rande der Schallgeschwindigkeit an ihnen vorbeischießen.

Einer der wenigen deutschen Teilnehmer ist der gebürtige Kasseler Sebastian Brück, der als Skydiver und im Downhill Race antritt. Der 35-Jährige schätzt die Atmosphäre in Voss: "Für die Einheimischen ist das, was wir treiben, völlig normal. Die wissen, einmal im Jahr besuchen uns ein paar Leute mit ein bisschen zu viel Energie." Eine Beschreibung, die auch auf die Geschäftsführerin der Extremsportwoche, Sofie Torlei Olsen, passt. Die ist gerade mal 30 und wirft jedem Interessierten gleich die Kernbotschaften ihrer "Marke" entgegen. Erstens: Spiele mit den Elementen! Zweitens: Fordere dich selbst und die Natur heraus! Drittens: Reduziere deine motorisierte Aktivität auf ein Minimum. Und viertens: Setze auf Nachhaltigkeit!

Das mit der Nachhaltigkeit stimmt sogar. Denn was vier Männer einst so bierselig ersonnen haben, ist in eine gemeinnützige Organisation übergegangen, der Fauxpas, das Ganze im ersten Jahr "Pepsi-Max-Week" zu nennen, ist Geschichte. Auch die Herrschaften von Red Bull, die laut Olsen um ein Titelsponsoring buhlen, müssen sich mit einer kleinen Plattform im 4000 Menschen fassenden Festivalzelt begnügen, wo natürlich nicht mehr Ulyd auftritt, sondern norwegische Spitzenbands. Aus den Einnahmen wird das zweiköpfige Management finanziert, vor allem aber die Jugendarbeit der vier Trägervereine.

Mindestens ebenso nachhaltig ist der Effekt auf den Tourismus in der Gegend. Das bringt auch dem einst so kleinen Rafting Club über seinen kommerziellen Ableger "Voss Rafting Senter" 10000 Buchungen pro Jahr ein. Wenn er nicht gerade Touristen über den Fluss Strandaelva manövriert, sitzt der sportliche Chef Allan Ellard dort über den Planungen der Rafting-Wettbewerbe der Extremsportwoche. Das Rennen, bei dem Vierer-Mannschaften auf einer fünfeinhalb Kilometer langen Strecke immer wieder neue Aufgaben gestellt werden, sind seine Domäne. Und Ellard verrät grinsend: In diesem Jahr werden sie kentern und wieder einsteigen müssen.

Touristen können zum Glück vieles von dem, was sie während der Extremsportwoche in Voss zu sehen bekommen, in abgemilderter Familienversion buchen. Zu sehen gibt es diesmal neben den vier Gründungsdisziplinen auch: BMX-Fahrer und Mountainbiker, Freerider, Skateboarder und Freestyle-Kletterer, Base-Jumper und Hangglider. Sogar einen eigenen Triathlon haben sie ersonnen mit dem Namen "Hinunter vom Horgi". Der Lønahorgi, 1410 Meter hoch, ist ein besonders schöner Wander- und Aussichtsberg: Bergseen und Latschenkiefern, Felsen und Gletscher, so weit das Auge reicht. Ein Berg, von dem niemand so schnell wieder hinunter möchte, es sei denn, er gehört zu diesen Leuten mit ein bisschen zu viel Energie. Die nehmen vom Gipfel aus die Ski bis zur Schneegrenze, dann das Rad bis zum Fluss, dann das Kajak bis zum Ziel im Zentrum von Voss.

Für Geschäftsführerin Olsen, die ein Budget von 1,3 Millionen Euro verantwortet, ist die Extremsportwoche ein Traumjob. "Ich sehe nichts weltweit, was größer wäre, auch nicht die Mountain Games in Vail", schwärmt sie. Und es soll noch größer werden: Überm Wasserfall am Prestegardsmoen ist eine Slackline gespannt, der örtliche Windpark lädt ein zum freien Flug im Windkanal. Wer immer etwas macht, was lebensbedrohlich und vergnüglich zugleich aussieht, ist eingeladen, bei Olsen vorzusprechen. Möglichst an einem der stilleren 358 Tage des Jahres. An einem der Tage, an denen man mitten in der Stadt das Rauschen der Birkenblätter hören kann. An einem der Tage, an denen die Zweitliga-Fußballerinnen das sportliche Geschehen prägen. Doch auch deren Trainer Nils Kvamme ist überzeugt davon, dass Voss nur profitieren kann vom weltweiten Aufsehen, das der jährliche Einfall der Extremsportler erregt.

Damit alle 14000 Einwohner das auch weiterhin glauben und keiner auf die Idee kommt, die Idylle könne durch die Extremsportwoche bedroht werden, fährt während der diesjährigen Veranstaltung erstmals ein "Ekstrem Eldrebuss" durch die Gegend. Der sammelt über 65-Jährige ein, kutschiert sie gratis zu den Wettkampfstätten und anschließend zu kostenlosem Kaffee und Kuchen. In erlaubter Höchstgeschwindigkeit. Das hat Sofie Torlei Olsen versprochen.



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