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Der Zorn des Südens auf das „Vierte Reich“

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Als sich in der vergangenen Woche Giorgio Napolitano, der Staatspräsident Italiens, und Joachim Gauck in Turin trafen, um gemeinsam einer Veranstaltung beizuwohnen, die den schönen Namen „Italian – German High Level Dialogue“ trug, hatten sie einen Mann aus der Wissenschaft hinzugeladen: den Turiner Historiker und Politologen Gian Enrico Rusconi, den ehemaligen Leiter des deutsch-italienischen historischen Instituts in Trient. Er nutzte die Gelegenheit zu einer Ansprache, die mehr Beschwerde als Festrede war: Der Euro, sagte er, habe sich von einem „Gemeingut“ (er benutzte das Wort auch im Sinne von „gutes Gemeines“) in ein „Instrument der Ungleichheit“ verwandelt, das nicht nur die „schwachen“ Völker Europas bedrohe, sondern letztlich auch die Interessen der Deutschen. Während die „Partner“ in ihrer „Impotenz“ gelähmt seien, sei Deutschland die eine europäische Nation, die darüber entscheide, was zur Rettung der Währung und Europas unternommen werde.



Joachim Gauck und Giorgio Napolitano beim "Italian - German High Level Dialogue" in Turin.

Der Vorwurf, der so erhoben wird, ist weder politischer noch ökonomischer, sondern moralischer Natur. Er besteht in der Klage, Deutschland habe, aus welchen Gründen auch immer, den Geist der Gemeinschaft verraten. Verschanzt hinter einem „mechanisch inflexiblen Geldsystem“, werde das reichste Land des Kontinents zu einer Hegemonialmacht, angesichts derer die Bürger der anderen Staaten in der Union das Gefühl gewönnen, ihre demokratische Souveränität verloren zu haben. Solche Vorwürfe sind, wie immer, keine Kritik. Stattdessen fordern sie Rücksichtnahme ein, Anerkennung, vielleicht sogar Mitleid. Gian Enrico Rusconi liebt deswegen das deutsche Wort „Gesprächspartner“. Er sagt: „Wenn ich nach Deutschland komme, empfinde ich mich nicht mehr als Gesprächspartner.“ Joachim Gauck, gelernter Pfarrer, kann mit Klagen dieser Art umgehen: Man solle häufiger miteinander reden, meint er.

Ein wenig Ökonomie hätte an dieser Stelle womöglich mehr geholfen: Seit Einführung des Euro im Januar 2002 ist Italiens Wirtschaft kaum noch gewachsen, seit Beginn der immer noch andauernden Krise im Jahr 2008 verliert das Land mit großer Geschwindigkeit seine Industrie, und was vor ein paar Jahren immer noch an international konkurrenzfähigen Branchen im herstellenden Gewerbe im Land war, löst sich auf: Feinmechanik, Automobilbau, die Herstellung von Haushaltsgeräten, das alles findet sich mittlerweile in Ländern wieder, in denen das Produzieren billiger und effizienter ist.

Und wenn nun Matteo Renzi, der Ministerpräsident, kommt und sagt, es müsse alles anders werden, dann klingt das vielleicht gut, in den Ohren vieler Italiener und bei den europäischen Finanzpolitikern sowieso. Es zeigt aber auch, dass immer noch keiner aussprechen will, was längst offenbar ist: dass nämlich die Einführung des Euro, um den man in Italien in den Neunzigern mit härtesten Mitteln gekämpft hatte, ein gescheiterter Versuch war, mit den Mitteln eines europäischen Kredits nachholend die Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen, mit der andere Staaten in die Währungsunion eingestiegen waren.

Oder anders gesagt: An Italien erfüllt sich das Gesetz der Gleichheit. Es besagt, dass Ungleiches, wenn es gleich behandelt wird, keineswegs verschwindet, sondern immer ungleicher wird. Es trifft also zu, wenn Gian Enrico Rusconi erklärt, der Euro habe die Unterschiede zwischen den europäischen Nationen vergrößert. Und es trifft auch zu, dass in dieser Differenz die Macht und der Reichtum Deutschlands immer weiter wuchsen, während Italien darin verlor und weiter verliert – erkennbar schon an „lo spread“, dem Unterschied zwischen den Zinssätzen für Deutschland und denen für Italien, die südlich der Alpen behandelt werden wie andernorts der Wetterbericht. Verschwunden ist aber in der Klage, Deutschland lasse es an Rücksicht und Teilnahme fehlen, der Umstand, dass Italien die entsprechenden Vereinbarungen nicht nur selbst traf, sondern auch verlangte – in der Hoffnung, seinerseits zu triumphieren.

Und wenn das Land nun die Verpflichtung auf die Stabilitätskriterien des Euro als Fron empfindet, so ist dieses Diktat nur die andere Seite der Hoffnung, die Teilhabe am Euro werde Italien alle Freiheiten einer großen ökonomischen Macht eröffnen. Von Gründen und Ursachen aber wollen viele italienische Gelehrte und Publizisten nicht wissen.

Lieber macht man sich auf die Suche nach Schuldigen. In diesem Bemühen weitergekommen als Gian Enrico Rusconi sind die Publizisten Vittorio Feltri, der Herausgeber der Mailänder Tageszeitung Il Giornale, und Gennaro Sangiuliano, stellvertretender Direktor des staatlichen Nachrichtenprogramms „Telegiornale1“ („Tg1“). „Il Quarto Reich“, „Das Vierte Reich“ heißt ihr im Oktober bei Mondadori erschienener Essay, der seitdem zu den bestverkauften politischen Büchern des Landes gehört: „come la Germania ha sottomesso l’Europa“ – „wie Deutschland Europa unterworfen hat“.

Das Buch ist zwar nicht ganz so spektakulär wie der Titel: Das Wort vom „Vierten Reich“ ist eigentlich ein Zitat, das sich die beiden Autoren bei der amerikanisch-polnischen Historikerin Anne Applebaum ausgeliehen haben (die wiederum den Verdacht, in Deutschland sei ein „Viertes Reich“ entstanden, zurückwiesen hatte). Die Vorwürfe aber wiederholen sich, wenngleich in verschärfter Form: Deutschland benutze seine ökonomische Überlegenheit, um seine Waren in der ganzen Welt zu verkaufen – also die Konkurrenz aus anderen Ländern zu verdrängen –, anstatt zu investieren –, also andere an sich verdienen zu lassen. Und es verberge seine imperialen Interessen hinter einer „seelenlosen Technokratie“. Überhaupt gebe es keinen Grund, dieses neue „Reich“ irgend zu bewundern.

Das Problem besteht indessen auch im Falle dieses Büchleins im moralischen Furor. Denn wäre Deutschland tatsächlich ein Imperium, ginge es auch Italien besser als unter gegenwärtigen Umständen. In einem „Reich“ würde man darauf achten, dass keine Provinz verloren geht, es gäbe Solidarzuschläge ohne Ende, und asphaltierte Straßen würden bis an die äußersten Grenzen der Macht gelegt. Insofern ist Deutschland alles andere als ein „Viertes Reich“: indem es nämlich den italienischen Staat dazu zwingt, seine Verarmung selbst zu organisieren. Auf solche Details kommt es jedoch bei einer Formel wie der vom „Vierten Reich“ nicht an. Das Wort gibt es, weil es ein Superlativ der Schuldzuweisung ist – einer Schuldzuweisung zumal, gegen die man sich nicht wehren können soll, ohne noch einmal Rechenschaft für das „Dritte Reich“ leisten zu müssen.

Aber auch dieser Moralismus lässt sich noch steigern: Gian Enrico Rusconi erwähnt nur, dass der Aufstieg der europafeindlichen Parteien in vielen Ländern des Kontinents etwas mit einem Widerstand gegen Deutschland und den Euro zu tun haben könnte. Die Autoren des „Vierten Reiches“ sind radikaler: Am Triumph des französischen Front National bei den jüngsten Europawahlen interessiert sie vor allem, dass er Internet-Kampagnen unter Namen wie „Radio London“ oder „Maquis“ hervorbrachte – also zwei Adressen des Widerstands gegen das „Dritte Reich“ und seinen Weltkrieg.

Warum es den französischen Rechtspopulismus gibt, was er mit den Eigenarten dieses Zentralstaats zu tun hat oder damit, wie er sich seinen Migranten gegenüber verhält, oder warum der Front National sich schon seit dem Jahr 1972 erhält – das alles interessiert nicht mehr, wenn es gelingen kann, seine schiere Existenz in einen Zeichen des Widerstands gegen Deutschland zu verwandeln.

Eines ist es, sich mit Reden wie der Gian Enrico Rusconis auseinanderzusetzen, oder mit Büchern, die das „Vierte Reich“ beschwören, um einen Schuldigen für den ökonomischen Niedergang eines ganzen Landes zu finden. Ein anderes ist es, mit dem Zorn umzugehen. Denn selbst wenn er irrt, so gibt es ihn doch, laut, schrill und zunehmend schwer erträglich.

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