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Gutes tun und darüber sprechen

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Charkiw – Sergej Botschkowskij muss nicht lang nachdenken, die Zahl kennt er ganz genau: 105652. So viele Flüchtlinge habe man bisher allein in Charkiw untergebracht, sagt der Chef des ukrainischen Katastrophenschutzes, sie flohen vor dem Bürgerkrieg. „Wir hatten überhaupt keine Erfahrung mit so einer Situation, alles war neu“, sagt er. 105652 Flüchtlinge – und der Winter kommt erst. Zum Glück sei da ein ganz neuer Patriotismus entflammt, sagt Botschkowskij, ein kleiner Mann mit kurz geschorenem Haar in einer reich dekorierten Katastrophenschutz-Uniform. „Die Bevölkerung hilft gerne.“ Und nicht einmal nur die der Ukraine.

Am Dienstag ist Gerd Müller angerückt, der Entwicklungsminister aus Deutschland, oder, wie Müller selbst gerne sagt, „vom Nachbarn des Nachbarn“. Es gehe darum, den Flüchtlingen für den Winter eine Perspektive zu bieten, sagt der CSU-Mann. „Darum haben wir uns entschieden, zu helfen.“ Manchmal klingt es fast so, als wolle Müller am liebsten selbst die Feldbetten zusammenschrauben. „Wir müssen anpacken, und den Menschen helfen“ solche Sachen sagt der Nachbar vom Nachbarn in der Ukraine. Denn um Symbole, um Bilder, geht es auch hier, kein Zweifel.



Entwicklungsminister Müller (CSU)

Dass nämlich ein Mitglied der Bundesregierung gleich höchstpersönlich eine Hilfslieferung in Empfang nimmt, passiert eher selten. Diese Lieferung aber ist auch eine Art Gegenentwurf zum umstrittenen weißen Hilfskonvoi, den Moskau im Spätsommer auf den Weg gebracht hatte. Es soll der Beweis sein, dass auch der Westen im äußersten Osten der Ukraine hilft, und zwar „nicht nur mit Mehlsäcken“, wie Müller sagt. Insgesamt 200 Lastwagen mit Hilfsgütern schickt der Bund in die Ostukraine, mit Pullovern und Generatoren, Wasserkochern und Kühlschränken, medizinischem Gerät. Und mit Wohncontainern.

Einer davon ist für Valerij Kalinin und seine Familie. Im Sommer kamen sie aus Donezk, mit Zügen, Bussen, Hauptsache weg. „Um unsere Kinder zu retten, mussten wir fliehen“, sagt er. Ob das Haus noch heil ist, weiß er nicht. Jetzt steht er auf einem planierten Platz am Rande der Millionenstadt Charkiw. Im Hintergrund rollen Walzen den Boden platt, während nebenan ein Kran einen offenen Container auf Schotterboden absetzt. Die Luft ist für einen Oktobertag überraschend mild, die Sonne scheint. An die 400 Flüchtlinge sollen in den deutschen Containern einmal wohnen, auch die Familie aus Donezk darf einziehen. Und seit Müllers Besuch hält sie sogar das entsprechende Dokument in Händen, abgefasst in bestem Behördendeutsch: Ein Zertifikat über „das Recht der Familie Kalinin auf erstrangige Ansiedlung zwecks zeitweiliger Wohnsitznahme.“ Die Ikea-Schränke in der Küche sind schon vorinstalliert, nur die Wasserleitungen fehlen noch. Bis Dezember müssen die Kalinins noch wie Dutzende andere in einem Therapie-Zentrum wohnen, eine der bisherigen Behelfsunterkünfte. Und ja, eine „zeitweilige Wohnsitznahme“ strebt auch Kalinin an, die Familie will gern zurück. „Wir hoffen“, sagt er.

Tausende Flüchtlinge sind derzeit provisorisch untergebracht, doch viele dieser Unterkünfte werden bald nicht mehr taugen. Sie leben in Sanatorien oder Datschen, aber die werden im Winter nicht beheizt. Schon Ende dieser Woche sacken die Temperaturen ab, dann ist es mit dem milden Herbst vorbei. Ohnehin wird die Heiztemperatur in diesem Winter auf 16 Grad begrenzt – um die Gasvorräte zu schonen. Bislang sind insgesamt 370.000 Flüchtlinge offiziell gemeldet, Botschkowskijs 105.652 sind nur ein Teil davon. Wenn der Winter kommt, dürften die Zahlen ansteigen. „Dann kommen die Kälteflüchtlinge“, sagt Andrej Waskowycz, Chef der Caritas in der Ukraine. „Der Winter wird unerträglich, wenn wir keine Lösungen finden.“ Die Caritas selbst hat eine: ein spärliches Flüchtlingsheim für 15 Familien aus Gegenden wie Lugansk und Donezk. Zehn, elf Betten sind hier in einem Zimmer untergebracht, in der Ecke steht ein Fernseher auf einem Kühlschrank. Vor allem aber gibt es eine Heizung, unter dem Fenster. Zu den Latrinen jedoch müssen die Bewohner auch bei minus 20 Grad über den Hof. Vor allem für die Älteren ist das Leben hier hart. Und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht, ungeachtet des Waffenstillstands.

Entsprechend groß ist das Interesse an der Hilfe aus Deutschland. Beim Besuch in Charkiw begleitet Müller eine Traube an Kameras, wie sie ein deutscher Entwicklungsminister so gut wie nie erlebt. „Herr Minister, was schickt Deutschland noch?“, fragt eine ukrainische Fernsehfrau. Müller wiegelt ab – das müsse er mit den Bürgermeistern besprechen. So wie auch diese Lieferung, die zum Großteil in fünf Städte verteilt wird, darunter auch in die einst so umkämpften Städte Slowjansk und Mariupol. Allein das Tempo gilt vielen Beteiligten heute als unschlagbar. Ende August hatte Merkel bei einem Besuch in Kiew insgesamt 25 Millionen Euro Soforthilfe versprochen, drei Wochen später begannen die Absprachen mit den Bürgermeistern vor Ort. In nur sieben Stunden winkten polnische und ukrainische Zöllner einen deutschen Konvoi mit 112 Lastwagen durch. Für eine EU-Außengrenze ist das Rekord. Und auch Katastrophenschützer Botschkowskij würde derlei Aktionen gerne wiederholen. „Der Bedarf ist riesengroß“, sagt er. „Auch von anderen Ländern.“

In einem Vorort von Kiew wird derweil weiter verladen, bisher ist nur ein Bruchteil der Hilfe auf dem Weg in die Ostukraine. Gabelstapler sausen umher, sie heben Matratzen, Feldbetten, Mikrowellen in die Lastwagen. „Wenn alles richtig gut läuft“, sagt Holger Neuweger von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), „sind bis Anfang November in allen fünf Städten Hilfslieferungen angekommen.“ Bis Mitte Januar soll die Operation abgeschlossen sein. Klitzekleine Ironie der Hilfsaktion: Im Eifer des Gefechts kauften die Helfer auch im Heimatland derer ein, die diese Hilfe erst nötig machten. Die Kühlschränke, Marke Beko, sind Made in Russia.

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