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Die Angst vor Walter White

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Vor vier Jahren habe ich meinen ersten Text für jetzt.de geschrieben, es ging es um „Mein Leben ohne Fernseher“. Damals war das noch einigermaßen bemerkenswert, nicht umsonst bekam ich während der Schulzeit den Spitznamen „Mensch ohne Fernseher“ verpasst.  

Heute wäre wohl eher das Gegenteil etwas Besonderes: In meinem Freundeskreis fristen Fernseher ein ähnliches Nischendasein wie Plattenspieler. Falls die Wohnung tatsächlich noch keine mattscheibenbefreite Zone ist, dann nur, weil kleine Laptop-Monitore den DVD-Genuss stark einschränken. Für das große Kino der gefeierten US-amerikanischen Serien braucht es große Bildschirme.  





Aber auch hier bin ich nicht auf der Höhe der Zeit: Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine US-Serie gesehen. Keine einzige Minute einer einzigen Episode.  

Vermutlich ist das eine Spätfolge meiner fernsehlosen Jugend: Während vor ein paar Jahren alle Welt von „Breaking Bad“ oder „The Wire“ schwärmte, war ich erst einmal damit beschäftigt, mich an den „Tatort“ heranzutasten.  

Die erste Folge, die ich gesehen habe – das grandiose „Nie wieder frei sein“ Ende 2010 – hat mich dermaßen angefixt, dass ich mir vorgenommen habe , das mir unbekannte „Tatort-Universum“ zu erschließen. Mittlerweile  finde ich es schön, mich gelegentlich für anderthalb Stunden berieseln zu lassen und mich von meiner Twitter-Timeline in meinem Ärger über das häufig banale Geschehen auf dem Bildschirm bestätigen zu lassen.  

Ich kann die Melodie des Vorspanns mitpfeifen, habe Vorlieben (Dortmund, München, Wien, Frankfurt) und Abneigungen (Konstanz) entwickelt, kenne die Befindlichkeiten und Beziehungskrisen der meisten Ermittler – und habe dabei vollkommen verpasst, dass ich damit ein paar Jahre oder Jahrzehnte zu spät dran bin. Ich habe meine Zeit in anachronistischen Ballast investiert.  

So fühlt es sich zumindest oft an. Gegen Walter White verblasst der vermeintlich vielschichtige Charakter eines Peter Fabers. Wenn meine Freunde intellektuelle Diskussion über die Gesellschaftskritik in „Breaking Bad“ führen oder das Feuilleton die zweite Staffel von „House of Cards“ feiert, fühle ich mich ausgeschlossen. Ich habe es vor langer Zeit versäumt, auf den Serienzug aufzuspringen, und jetzt zuckele ich in der Pferdekutsche vor mich hin, während der True-Detective-ICE vor mir davonbraust.  

Je länger ich warte, desto unmöglicher scheint es mir, jemals Eintritt in den erlauchten Kreis der serienbesehenen Cineasten zu finden. Zwar könnte ich alleine auf Grundlage der Meta-Diskurse, die ich gehört und gelesen habe, die Handlung mancher Staffeln nacherzählen (so wie es fünf jetzt.de-Autoren letztes Jahr getan haben), doch für mehr fehlt mir das Hintergrundwissen.  

Je länger die Liste der Serien wird, die man unbedingt gesehen haben muss, je mehr Freunde mir mehr oder weniger hilfreiche Tipps geben, womit ich anfangen könnte, desto höher erscheint mir die Hürde, mich einfach auf die Couch zu setzen und in Jogginghose meinen Initiationsritus zu begehen.  

Die endlose Auswahl an potentiellen Einstiegsserien verunsichert mich, die Größe dieser mir so fremden Welt schreckt mich ab. Ich habe inzwischen verstanden, was der Unterschied zwischen Episoden und Staffeln ist – aber mir sieben Staffeln „Mad Men“ à 13 Episoden anschauen? Für mich ist das eine ähnliche Herausforderung, wie mich an einen Wälzer wie „Krieg und Frieden“ oder „Die Buddenbrocks“ heranzutrauen.  

Außerdem, und das ist vermutlich der wichtigste Grund für meine Abstinenz, habe ich Angst, süchtig zu werden. Ich weiß genau, wie sehr mich episodenhafte Geschichten in den Bann ziehen. Wenn mich das erste Buch einer mehrbändigen Reihe gepackt hat, muss ich den Rest sofort im Anschluss lesen. Wenn ich ein gutes Hörbuch entdeckt habe, betreibe ich Binge-Listening bis zur letzten Minute.  

Und wenn ich, so meine Befürchtung, erstmal in die Parallelwelt einer US-Serie eingetaucht bin, dann kann ich meine nächsten drei Wochenenden vermutlich schon mal im Voraus blocken und mich auf lange Tage und Nächte auf dem Sofa einstellen. Psychologen wollen herausgefunden haben, dass Serien-Junkies auf Entzug ähnlich reagieren wie Heroinsüchtige. Soziologen versuchen, die Faszination Fernsehserie zu erklären. Psychologen vergleichen unser Verhältnis zu den Serienhelden mit Freundschaften und nennen das „parasoziale Beziehungen“. Es gibt sogar eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, die den gesellschaftlichen Stellenwert von Serien in der westlichen Welt ergründen möchte.  

Diese Angst vor der Abhängigkeit war bislang zu groß. Bislang. Denn vor ein paar Wochen habe ich meinen inneren Widerstand aufgegeben. Nach viel gutem Zureden und stundenlangen Beratungsgesprächen habe ich mich entschieden, diesen Winter mit „House of Cards“ anzufangen. Das entscheidende Argument: Zwei Staffeln sind einigermaßen übersichtlich – sobald ich richtig süchtig bin, ist es auch schon wieder vorbei, allzu viel Zeit kann dabei nicht draufgehen.  

Ich habe schon immer nach einem Grund gesucht, mich auf den November zu freuen – jetzt habe ich endlich einen: Der schlechte Wetterbericht kann kommen!

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