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Sand im Getriebe der Festplatten

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Als Jaron Lanier am Sonntagvormittag in die erste Reihe der Frankfurter Paulskirche eskortiert wurde, schien alle Farbe aus seinem Gesicht zu weichen. Es lag wohl nicht nur an dem seltsam steifen, aus der Zeit gefallenen Raum, sondern auch daran, dass seine Familie mit den Deutschen bisher vor allem als Mördern zu tun hatte. Die meisten seiner Angehörigen starben in Konzentrationslagern. Umso skandalöser war es, wie sowohl die Laudatoren Heinrich Riethmüller, Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, als auch Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, sich ausgerechnet bei dieser Veranstaltung über deutsche Geschichte hinwegmogelten: Seine Familie hatte „unter der Verfolgung gegen Juden zu leiden“, schönte Schulz unbekümmert als ginge es um Diskriminierung am Arbeitsplatz, aber das natürlich im edelsten Gedenk-Bass, der für solche Anlässe obligatorisch ist. So musste dann der nach Luft schnappende Lanier in seiner so brillanten wie bewegenden Rede selbst auf das wahre Ausmaß der Familientragödie hinweisen. Dann erklärte er, warum ausgerechnet ein Internetkritiker wie er den Friedenspreis bekommen habe: Nicht nur weil die Ideologen des Silicon Valley mit ihrem Herrschaftsanspruch immer arroganter über viele zivilisatorische Leistungen der Menschheit trampeln und dafür noch gefeiert werden. Sondern auch, weil das Netz wie kein anderes Medium vor ihm das Zeug habe, eine Rudelmentalität zu befördern, deren extreme Folgen man im Dritten Reich erlebt habe. Die Polemik, die Lanier selbst und der Jury für ihre angeblich rückwärtsgewandte, zukunftsfeindliche Entscheidung entgegenschlug, sprach darüber Bände.



Digitalforscher und Erfinder der "Virtual Reality": Jaron Lanier, Preisträger des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Doch das war nur einer von vielen Punkten in Laniers Rede. In einer 40-minutigen Breitseite gelang es dem Pionier der Virtual Reality, dem Digitalforscher und bedeutendsten Kritiker der Allmachtansprüche des Silicon Valley, mehr über unsere digitale Gegenwart und Zukunft zu sagen als alle Leitartikel der letzten Jahre zusammen. Noch immer glaube er an viele Hoffnungen, die sich mit der neuen Technologie verbinden. Doch was er fürchte, sei die Tatsache, dass die digitale Revolution zu einem „fast metaphysischen Projekt“ überhöht werde – „Und das, nachdem so viele Götter versagt haben.“

Lanier ließ bei seiner atemlosen tour d’horizon kaum einen Aspekt aus: Er würdigte Edward Snowden, aber erinnerte das eifrig klatschende Publikum daran, dass wir übergriffige Staaten weniger zu fürchten hätten als Konzerne, deren Macht schneller wachse als die staatliche. Er zerlegte die Lebenslügen und Propagandamythen der „Sharing Economy“, die in Wahrheit auf Ausbeutung und auf einem Verlust an Institutionen und Regeln beruhten, für deren Existenz die Menschheit lange gekämpft hatte. „Wenn digitales Networking auf der Zerstörung von Würde beruht, seid ihr nicht gut in Eurem Fach. Ihr betrügt!“ Lanier verteidigte das gedruckte Buch und das Urheberrecht überzeugender als alle Branchenleute während der Buchmesse.

Gewidmet hatte der Preisträger seine Rede Frank Schirrmacher, der seit seinem Tod kaum je so gefehlt hatte wie bei dieser Veranstaltung. Wie gerne hätte man die Laudatio von ihm gehört statt von Martin Schulz. Dessen Forderungen nach einem „TÜV“ und „Gütesiegel“ für das Netz und einem „Ethikrat“ für technische Innovationen waren gut gemeint, wirkten aber unendlich weltfremd. Und überhaupt: Mach es doch!, wollte man ihm zurufen. Rätselhaft, warum der Börsenverein ausgerechnet einen EU-Bürokraten mit dieser Laudatio betraute.

Wie Schulz führte auch Riethmüller unfreiwillig vor, dass hinter der Wahl von Lanier Missverständnisse standen – und eine beunruhigende Gegenwartsferne. Günter Eich in Ehren, aber den Dichter, wie Riethmüller es tat, nach etlichen Zwecken nun auch noch gegen Auswüchse der Digitalkultur zu bemühen („Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“), das wird nicht helfen. So leicht kann es sich die deutsche Kulturelite nicht machen.

Auch Lanier ist dem Pathos keineswegs abgeneigt. Er fordert nicht weniger als einen „neuen Humanismus“ für das Digitalzeitalter. Als er seine Rede, den Tränen nahe, mit dem Appell beendete „Lasst uns das Erschaffen lieben!“ – gemeint war übrigens nicht die „Schöpfung“, wie es in der gedruckten Übersetzung hieß – dann nahm man es ihm ab. Was er meinte, führte er selbst vor: Auf einer laotischen Khaen-Flöte pfiff er einige brüchige, fremde Melodien, Töne, wie man sie nie gehört hatte: ein kleines Beispiel für die Sorte menschlicher Kreativität, die immer mehr sein wird als ein Satz Daten.

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