Quantcast
Channel: Alle Meldungen - jetzt.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207

Wohin gehst du?

$
0
0
"Wohin gehst du?" So ruft sie hinter ihm her und lauscht. Nichts ist zu hören, nur ein Nachhall im Flur. Ein zorniger Nachhall, produziert von einer Tür, die wütend ins Schloss geworfen wurde. Seufzend geht sie zum Fenster, blickt durch die Gardine zur Straße hinunter. Wie verschwommen sieht sie ihn dort gehen ... schmal, die Schultern hochgezogen, so stapft er durch den Schnee. Selbst die Fußstapfen sehen zornig aus ... die Ränder hochgestülpt, so fest muss er aufgetreten sein. Wieder seufzt sie ... er ist so schwierig, es ist so schwer, ein Gespräch mit ihm aufrecht zu erhalten. Sie winkt ihm vorsichtig hinterher, sich bewusst, dass er sie wegen der Gardine ja sowieso nicht sehen kann. Überhaupt ... er würde sich ja sowieso nicht umdrehen, zurückblicken zu ihr, die gerade mal wieder hilflos über diese Sache nachdenkt. Wie konnte es nur so weit kommen ... wann hatte sie den Kontakt zu ihm verloren? Vor ein paar Wochen, vor ein paar Monaten oder sogar Jahren? Sie wusste es nicht, wusste nur, dass es ihr immer schwerer fiel, Zugang zu ihm zu bekommen - eine "vernünftige" Reaktion auf Fragen, deren Antworten ihr wichtig waren - ihm wohl eher nicht.

Erschöpft von der vergangenen Diskussion erhob sie sich, ging in die Küche und goss sich ein Glas Wasser ein. Es schmeckte schal, natürlich, die Flasche war mal wieder nicht zugedreht. Wie oft hatte sie ihn schon gebeten, doch einfach den Deckel fest aufzuschrauben. Sie mag kein Wasser, dem die Kohlensäure schon entwichen war. Aber daran denkt er einfach nicht, selbst die kleinste Gefälligkeit war ihm schon zuviel. Dabei tat sie doch alles, um ihm das Leben leicht zu machen. Sie wusch, sie kochte, sie kümmerte sich um alles, was das tägliche Leben betraf. Da war es doch nicht zuviel verlangt, das er wenigstens die Wasserflasche zudrehte, wenn er sich ein Glas eingegossen hatte. Nun wurde sie wütend. Sie knallte das Glas auf den Tisch und schwor sich zum hundersten Male: Wenn er nachher nach Hause kommt, dann wird Tacheles geredet - so geht es nicht weiter. Sie riss den Kühlschrank auf, knallte die Flasche ins Türfach. Und Essen würde sie auch nicht kochen, sollte er doch Hunger schieben. Schließlich war im Eisfach genug, was er in die Mikrowelle schieben konnte.

Sie dachte darüber nach, was sie ihm alles sagen würde, wenn er heimkäme. Malte sich aus, wie er versuchte, ihr ins Wort zu fallen, ihr seine Gegenargumente entgegenzuschleudern, sie aus der Fassung zu bringen versuchte. Solange, bis sie aufgab und einfach still wurde. Aber diesmal nicht, schwor sie sich. DIESES MAL NICHT!

Sie zuckte zusammen. Es klingelte an der Tür, einmal, zweimal ... laut und aufdringlich. Über ihre Gedanken hinweg war es dämmrig geworden. Sie erschrak, hatte sie soviel Zeit mit Nachdenken verbracht? Es schellte wieder - diesmal noch fordernder und lauter, wie ihr schien. An der Tür angekommen, schaute sie durch den Spion. Zwei Männer standen vor der Tür, in dunkles Grün gekleidet, ihre Gesichter wirkten verschlossen ... irgendwie betreten. Sie öffnete die Tür, ein merkwürdiges Gefühl, als ihr die Kälte den Rücken hochkroch. Der erste Satz, unverständlich ... welche Sprache war das? Sie verstand kein Wort, fragte immer wieder nach aber sie konnte sie nicht verstehen. Auch als einer der Männer ihren Mantel vom Haken nahm, ihr diesen sorgsam umhängte, sie bat, sie möge ihn doch anziehen .. sie verstand sie einfach nicht. Warum sollte sie mitkommen? Was hatten sie vor? Sie versuchte, um Hilfe zu schreien - irgendjemand musste sie doch hören? Warum kam keiner?

Der Raum war hell, die Strahler taten ihren Augen weh. Konnte nicht jemand das Licht ausschalten? Und die Heizung anmachen? Es war doch viel zu kalt für ihn wie er da so lag, schmächtig, die Schultern hochgezogen, nackt. Er schlief doch, er brauchte eine Decke, verstand das denn keiner? Sie wollte ihren Mantel ausziehen, ihn damit zudecken ... der Mann hinter ihr hinderte sie daran. Was fiel ihm ein, es war doch ihre Pflicht, dafür zu sorgen, das er es warm hatte. Wütend schlug sie um sich, man hielt sie fest, etwas piekste an ihrem Arm und sie fühlte, wie eine flüssige Ruhe sich in ihren Adern breit machte.

Es war dunkel in der Küche, die Dame, die sie nach Hause begleitet hatte, saß am Tisch. Sie öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Wasser heraus. Wieso war die Flasche fest zugedreht? Das tat er doch nie, obwohl er wusste, das sie Wasser hasste, das dadurch ohne Kohlensäure war. Sie stellte die Flasche auf den Tisch, goss 2 Gläser ein und lauschte.

Kein Geräusch war zu hören, nur die zornigen Schwingungen einer wütend zugeknallten Tür waren noch zu spüren ... Sie hörte sich rufen:

Wohin gehst du?

Viewing all articles
Browse latest Browse all 6207