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Schaukel

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Da steh ich also möglichst lässig mit Drink an der Bar und irgend so ein Arschloch küsst meine Traumfrau. Am liebsten würde ich den Kerl anschreien aber was sagt man in so einer Situation? „Ich hab sie zuerst gesehen!“ oder einfach: „Sie hat was Besseres verdient!“. Der Bass dröhnt und hallt wunderbar durch den ganzen Körper, der Abend war super bisher: eine Menge guter Freunde sind mit gezogen, der DJ kann was und sie ist da. Es war von Anfang an klar dass sie da sein würde, darum bin ich überhaupt erst hier. Umarmung zur Begrüßung, kurz gequatscht, Musik war sowieso viel zu laut. Jemand gibt eine Runde aus und natürlich fehlt sie dabei nicht. Danach wieder alle auf die Tanzfläche, sie direkt neben mir, dann haben wir uns irgendwie verloren aber immer wieder Augenkontakt gehabt. Oder bilde ich mir das nur ein? Also erst mal Verschnaufpause, Bar, Drink. Ich merke den Alkohol und der Pegel ist fast genau richtig, nur noch einen Tick mehr damit das mit dem Mut auch hinhaut. Der Track ist gut, die Tanzfläche bebt, ich nicke nur zum Beat, aber lasse mich gerne anspornen. Oder ist es das Adrenalin? Ist heute vielleicht der Abend für den entscheidenden Schritt? Ich sehe mich um und suche sie, finde sie und kann nicht mehr wegsehen. Verflucht es geht einfach nicht. Wie lange starre ich die beiden jetzt schon an? Zehn Minuten? Dauert der Kuss zwischen denen schon zehn Minuten? Mach dich nicht lächerlich, reiß dich zusammen. Oder sei wenigstens der tragische Held, sorge für einen entsprechenden Abgang erhobenen Hauptes! Ich zucke zusammen, leere den Drink in einem Zug und muss fast Husten. Ein letzter Blick zurück – nein scheiß drauf, tu dir das nicht an, der Ausgang liegt sowieso in der anderen Richtung. Ich schiebe mich Richtung Garderobe. Die Schlange ist verdammt lang aber natürlich nur in die eine Richtung. Alle wollen rein, Spaß haben und scheinen mit ihren fragenden Blicken eher zu sagen: „Ja, besser du gehst nach Hause Looser“. So schnell habe ich meine Jacke glaube ich noch nie zurückbekommen. Gut so, denn noch hat keiner meiner Freunde bemerkt, dass ich mich heimlich aus dem Staub mache. Sobald ich draußen bin schlendere ich los, was wenn jemand anruft und frage wo ich abgeblieben bin? Oder Handy einfach ausschalten im Club war doch eh kein Empfang? Ach scheiß drauf. Eigentlich rauche ich ja nicht aber wenn der Abend schon gelaufen ist warum dann nicht mit ner Kippe besiegeln? Scheiß drauf! Als ich den Kopf in den Nacken legen und den Rauch genüsslich ausatme fällt mir der klare Himmel auf. Keine einzige Wolke, es ist kühl, fast kalt und die Sterne glänzen. Ich halte Inne. Irgendwie bin ich in einer düsteren Seitenstraße gelandet, linker Hand liegt ein verlassener Spielplatz und dahinter scheint sich ein Park anzuschließen. Ich lasse mich auf einer der Schaukeln nieder und genieße die unverhoffte Abgeschiedenheit. Jetzt erst wird mir bewusst was passiert ist und eigentlich möchte ich weinen, aber nein ich muss auflachen. Lachen über mich selbst: ein dramatischer Abgang, bitte was? Wie sollte das ablaufen? Das sie hinter dir herkommt um dich aufzuhalten? „Oh, ich hab den falschen geküsst hab ich grad gemerkt und dann an dich gedacht, du willst doch nicht etwa schon gehen?“ Na klar, wahrscheinlich. Vollidiot. Die Schaukel fängt in gemächlichem Rhythmus an zu quietschen, als ich mich abstoße. So wie sie es immer in den Horrorfilmen tun, wenn der unnatürliche Wind aufkommt. Ich blicke wieder gen Himmel aber der hat einen passenden Vollmond nicht zu bieten, höchstens dreiviertel. Ob man die Sterne erreichen kann wenn man hoch genug Schaukelt? Mir ist die Kindlichkeit dieses Gedankens egal, hier kann mich sowieso niemand sehen und wenn doch: was soll's? Ich gebe mehr Schwung, das quietschen wird energischer. Wie war das noch mit dem Überschlag, war der physikalisch gesehen möglich? Ich lege es nicht drauf an und lasse die Schaukel auspendeln. Feigling. Schon wieder zu feige. Die Schaukle kommt langsam zum Stillstand und irgendwie trifft es mich doch. Dass sie ihn küsst und nicht mich, beschissenes Gefühl. Also gönne ich mir doch eine Träne, wenigstens eine.


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