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Dumm ist der, der Dummes tut

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Auf das Online-Tagebuch meines Chefs bin ich per Zufall gestoßen, mittlerweile kennen es alle Praktikanten. Bevor ich montags ins Büro gehe, werfe ich einen schnellen Blick auf die Gefühlswelt meines Vorgesetzten. Alle möglichen Probleme aus dessen Privatleben kann ich dort nachschauen. Ist von Sonnenschein und lachenden Kindern die Rede, ist die Laune besser. Lese ich dagegen Sätze, in denen Husten und schlaflose Nächte vorkommen, kann ich mich auf schlechte Stimmung einstellen.
Aber es werden nicht nur die privaten Erlebnisse mitgeteilt, sondern auch berufliches: Er macht sich Gedanken, ob er den sicheren Job aufgeben soll und die Dauerbelastung gegen neue Herausforderungen eintauschen sollte. Mein Chef hat anscheinend gar keinen Spaß mehr an seiner Arbeit. Die Wutanfälle und die Ungeduld, die persönlichen Anfeindungen und der aggressive Unterton ergeben plötzlich einen neuen Sinn. Eines Tages schreit mir ein ganz besonderer Eintrag entgegen: Er betrifft meine Mitpraktikanten und mich selbst. Es geht um den täglichen Kampf mit der „Generation Dumm“. Vier Mal im Jahr kommen neue Praktikanten, die als „Generation Januar“, „Generation April“, „Generation Juni“ oder „Generation Oktober“, bezeichnet werden. „Generation Dumm“ ist also ein neuer Begriff für uns, und er bleibt nicht die einzige öffentliche Beleidigung. Das absurde an der Sache: Mein Chef ist Manager für Social Media. Er muss wissen, dass die Einträge für jeden zugänglich sind. Ist es ihm egal, wer seine Beleidigungen lesen kann? Hat er nichts zu fürchten? Oder ist es gar eine Art Provokation, die erwischt werden soll?


Ich mache mir tagelang darüber Gedanken, wie leichtfertig unsere Gesellschaft mit diesem beleidigenden Wort umgeht. An was kann man Dummheit überhaupt ausmachen? Und wer bestimmt letztendlich, wer von uns dumm ist?


Bei einer Konferenz wird das schlechte Arbeitsklima angesprochen. Der Geschäftsführer und die Mitarbeiter belächeln uns, lassen alles abprallen und sagen, dass es im richtigen Leben noch härter zugeht. Aber ist das nicht auch das richtige Leben? Und wer kann darüber bestimmen wann und wo das richtige Leben anfängt? Am Schluss kommt auch das Thema „Generation Dumm“ zur Sprache, die Konferenz wird daraufhin sofort beendet. Es gibt keine Entschuldigung und auch der Post bleibt in der Timeline stehen. In einer Woche machen wir, die „Generation Dumm“, Platz für neue Praktikanten. Der Geschäftsführer wird sich wieder um die Investoren kümmern, sich blind auf die Meinung seiner Mitarbeiter verlassen und uns Praktikanten müde belächeln. Wir sind schließlich die Kleinen, die noch viel lernen müssen, von dessen Kritik niemand etwas halten muss. Was die ganzen festen Mitarbeiter aber vergessen: Ihr Job ist ein Förderprogramm, das für uns gemacht worden ist – ohne uns Praktikanten gäbe es die Investoren und ihren Job nicht. „Generation Dumm“ kann das aber egal sein. Wir verteilen uns in der großen weiten Welt und entwickeln uns weiter. Wenn das dumm ist, dann bin ich froh, zur „Generation Dumm“ zu gehören.


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