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„Bildet Zellen“

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Das zweite Jahr im Prozess gegen die rechtsradikale Terrorgruppe NSU ist am Mittwoch zu Ende gegangen – und gerade dieser letzte Tag in diesem Jahr hat wieder einmal deutlich gemacht, welches Gedankengut die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und ihre beiden Gefährten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vertraten. Eine Gedankenwelt, die manchmal in den vielen Mosaiksteinen der Beweisaufnahme fast untergeht.



Hauptangeklagte Beate Zschäpe mit ihren Anwälten im Gerichtssaal des Oberlandesgericht München.

„Sonnenbanner“ heißt die Kampfschrift, die 1998 in der Garage von Beate Zschäpe in Jena gefunden wurde. Sie ist quasi eine Anleitung für den bewaffneten Kampf im Untergrund. Und zwar genau in der Ausprägung, wie ihn der NSU betrieb. Der Beisitzende Richter Peter Lang verlas das Schriftstück, das verziert ist von gezeichneten Adlern, Fäusten und Stiefeln. Ein „Karl Ketzer“ schrieb dort, es sei einfach für die Polizei, Skinheads an ihrem Aussehen zu erkennen. „Also Verzicht auf B-Jacken, Springerstiefel, Braunhemden oder Ähnliches. Überlege auch, ob es nicht günstig ist, Deinen Haarschnitt zu ändern. Streng gescheitelt oder mit frisch rasierter Glatze fällst Du automatisch auf. Wichtig ist nicht Dein Äußeres, sondern Dein Inneres. Einen gefestigten Menschen erkennt man nur an seinen Taten.“

Und dann kommen die Anweisungen: „Passe Dich also in Deinem Erscheinungsbild dem Normalbürger vollkommen an. Vermeide Äußerungen zur Ausländerfrage, zum Holocaust oder ähnlichen Themen. Konzentriere Dich in der Öffentlichkeit hauptsächlich auf die sozialen Missstände. Prangere die viel zu hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Umweltverschmutzung und Sauereien durch amtierende Politiker an. Das ist viel wirkungsvoller und absolut legal!“ Und dann noch der Hinweis: „Bildet Zellen.“

So eine Zelle bildete wie nach dem Rezeptbuch des „Sonnenbanners“ der NSU: Äußerlich angepasst, unauffällig, keiner der drei propagierte nach dem Untertauchen im Untergrund Ausländerhass. Zeugen berichten, dass sich die drei ganz normal kleideten und die Männer auch ihre Haare wachsen ließen. Aber der NSU nahm sich zum Wahlspruch: Taten statt Worte. Die Gruppe soll zehn Menschen ermordet haben.

Das Jahr 2014 war im NSU-Prozess von Mühe gezeichnet: der Mühe, all die losen Enden zusammenzubinden, Mosaiksteine in ein sehr braunes Bild zu setzen. Im ersten Halbjahr traten noch Angehörige von Getöteten als Zeugen auf, sowie eine Polizistin und eine Ärztin, die Anschläge des NSU schwer verletzt überlebt haben. In den letzten Monaten bestimmten Zeugen das Bild, die in erster Linie schwiegen – aus eiserner Solidarität zur rechtsradikalen Szene. Es waren mühevolle Tage.

Dennoch schreitet der Prozess voran: Alle zehn Morde wurden bereits abgearbeitet, im Januar soll das große Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße behandelt werden, wo 2004 mehr als 20 Menschen verletzt worden waren. Dann könnten sich die 15 Banküberfälle anschließen, bei denen ebenfalls Menschen schwer verletzt wurden. Zwar hat Richter Manfred Götzl Termine bis zum 12. Januar 2016 angesetzt, aber das könnte auch ein Schuss vor den Bug sein, um alle Prozessbeteiligten zu disziplinieren. Am Mittwoch tat das Gericht einiges zur Beschleunigung: Es lehnte mit fast einem Dutzend Beschlüssen den Wunsch der Nebenkläger nach der Befragung weiterer Zeugen und Zuziehung neuer Akten ab. Es ist ein Zeichen, dass es nun schneller vorangehen soll.

Immer wieder kommen auch neue Erkenntnisse im Prozess ans Tageslicht. So wie der Anschlag, der im Juni 1999 in einer Gaststätte in Nürnberg verübt wurde, die vor allem von Ausländern besucht wurde. Dabei war ein türkischer Putzmann an Armen und im Gesicht verletzt worden. Die Polizei fand keinen Täter; am Ende wurde der Geschädigte selbst verdächtigt, mit dem Anschlag zu tun zu haben. Im Prozess hatte der Mitangeklagte Carsten S. überraschend erklärt, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hätten ihm damals gesagt, sie hätten in Nürnberg „eine Taschenlampe hingestellt“. Carsten S. konnte auch den Zündmechanismus genau beschreiben. Die Bombe wurde scharf, indem auf den Schalter der Lampe gedrückt wurde. In das Rohr hatten die Täter Schwarzpulver eingefüllt. Das bestätigte am Mittwoch ein Sprengstoffexperte, der damals ermittelt hatte. Es handele sich um Schwarzpulver wie in Chinaböllern, sagte er. Solches Schwarzpulver befand sich auch in der Bombe, die der NSU zum Jahreswechsel 1999/2000 in einem Lebensmittelgeschäft in Köln gelegt hatte. Dabei war eine junge Frau nur knapp dem Tod entronnen. Auch der Anschlag in Nürnberg sollte noch blutiger ausfallen. Die Täter hatten die Rohrbombe angesägt, damit sie zersplittert. Das funktionierte nicht.

Staatsexamen zu verkaufen

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Der erste Tag des Prozesses gegen den Richter Jörg L. wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit im besonders schweren Fall ist auch für Volker König eine besondere Herausforderung. Volker König ist einer der Pressesprecher im Landgericht Lüneburg. Er hat einen Andrang von Journalisten abzuarbeiten, der ungewöhnlich ist für sein Haus, und er tut dies mit Charme, sogar einer gewissen Heiterkeit. Vor der Verhandlung in Saal 121 steht er im Gang auf einem Stuhl und klärt über die Rechte und Pflichten der Medienvertreter bei der Verhandlung auf („Kein Abspielen schmutziger Gesänge“). Und nachdem später am Vormittag die Anklage verlesen ist, muss er sich bei den verschiedenen Fernsehinterviews immer wieder selbst unterbrechen und noch mal neu anfangen, damit das Publikum in geraden Sätzen erklärt bekommt, worum es in diesem aufsehenerregenden Fall überhaupt geht.



Der Angeklagte Jörg L. begrüßt seinen Verteidiger Oliver Sahan im Landgericht Lüneburg. Der Richter soll Examen an Nachwuchsjuristen verkauft haben.

Es geht um viel, um die Glaubwürdigkeit der deutschen Justiz. Denn der Angeklagte Jörg L. soll als Referatsleiter im niedersächsischen Justizprüfungsamt in Celle Lösungsskizzen für das zweite Staatsexamen an Rechts-Referendare und -Referendarinnen verkauft haben. Wenn Vertreter des Rechts selbst vor Gericht stehen, wirkt das immer wie eine etwas schräge Laune des rechtsstaatlichen Alltags, weil man doch denken sollte, dass diese Leute ein besonderes Empfinden für die Grenzen im Paragrafen-Dschungel besitzen.

Aber nach den Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Verden soll Jörg L. ja nicht nur einfach irgendwie gegen das Gesetz verstoßen haben. Als Referatsleiter soll er die wichtigste Qualitätskontrolle des deutschen Rechtssystems unterwandert haben. Er soll den Anspruch der juristischen Prüfungsordnung verkauft haben. Das zweite Staatsexamen ist die entscheidende Hürde auf dem Weg in den Beruf als Richter oder Anwalt. Die Note entscheidet über die Qualität des Jobs, und wer die Hürde nicht nimmt, hat über Jahre mehr oder weniger umsonst Jura studiert. Der Fall L. rührt daher an Selbstverständnis und Stolz des nationalen Rechtswesens. „Da wird sich die Justiz nicht nachsagen lassen, dass sie das lasch angeht“, sagt Lutz Gaebel, Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Mit allen erlaubten Mitteln ist die Staatsanwaltschaft deshalb jener Anzeige nachgegangen, die Anfang des Jahres eine Examenskandidatin erstattet hatte, nachdem ihr ein Repetitor aus Hamburg ein unmoralisches Angebot gemacht hatte. Mit der Anklageschrift verlas Oberstaatsanwalt Marcus Röske unter anderem den Inhalt diverser SMS, in denen L. offensichtlich Lösungsansätze fürs Examen an seine Kundschaft weitergab. Insgesamt hat die Staatsanwaltschaft in elf Fällen Anklage erhoben wegen Bestechlichkeit, Verletzung des Dienstgeheimnisses und versuchter Nötigung; in sechs Fällen geht es um Bestechlichkeit im besonders schweren Fall. Der Hergang soll dabei immer ähnlich gewesen sein: L. sprach Referendare und Referendarinnen an, die schon einmal durch das zweite Staatsexamen gefallen waren und deshalb unter Druck standen. Er nannte fünfstellige Summen bis zu 30000 Euro als Preis für ganze Klausuren-Pakete und machte Kompromisse, wenn die Leute nicht so viel Geld hatten. Laut Anklage soll L. seiner Kundschaft teilweise mit einer Anzeige wegen übler Nachrede gedroht haben, falls sie ihn verraten würde.

Der Fall hat in Ansätzen sogar Roadmovie-Qualität, denn L. ging im Frühjahr den polizeilichen Ermittlungen aus dem Weg, indem er sich nach Italien absetzte. Dort wurde er in einem Mailänder Vier-Sterne-Hotel gefasst, mit 30 000 Euro in bar, einer geladenen Pistole sowie Munition für 47Schuss. Oberstaatsanwalt Röske erinnerte daran, als er begründete, warum er L. gegen einen entsprechenden Antrag seiner Anwälte weiter in U-Haft behalten wolle. Es bestehe Fluchtgefahr.

Jörg L. ist ein schlanker Mensch mit Bart und erstem Silberschimmer im dunklen Haar. Grauer Anzug, blaues Hemd. Er macht keinen sehr angespannten Eindruck, allerdings ist von ihm auch nicht viel zu hören, im Grunde nur eine Zahl und zwei Worte: „48“, „Güstrow“, „verheiratet“. Alter, Ort, Familienstand. Jörg L. lässt ausrichten, dass er keine weiteren Angaben machen werde, und natürlich haben seine Hamburger Anwälte Oliver Sahan und Johannes Altenburg Anträge vorbereitet, damit die Verhandlung nicht direkt Fahrt aufnimmt. Sie wenden sich gegen Richterin Philipp aus „Besorgnis der Befangenheit“, weil sie selbst auch zehn Jahre lang nebenberuflich für Niedersachsens Justizprüfungsamt tätig war, worauf Sabine Philipp allerdings selbst vorher hingewiesen hatte. Die L.-Anwälte mahnen mehr Akteneinsicht an. Sabine Philipp verteilt CDs mit digitalisierten Akteninhalten. Den Befangenheitsantrag stellt sie zurück. Die Vertreterkammer wird spätestens bis zum übernächsten Verhandlungstag darüber befinden.

Es geht schleppend los in diesem Prozess. Schon der erste Zeuge, der um Viertel nach eins aufgerufen war, ist nicht pünktlich zur Stelle, weil er „Probleme mit der Deutschen Bahn“ habe, wie Richterin Philipp sagt. Die nächste Unterbrechung, weiter um zwei. Dann lehnt die Verteidigung die Vernehmung des Zeugen ab. Dann ist der Zeuge da. Dann muss Sabine Philipp noch mal unterbrechen.

Jörg L. kann es recht sein: Je weniger passiert vor den gut besuchten Presseplätzen, desto weniger Profil bekommt seine Geschichte zum Auftakt. Aber sein seltsames Geschäftsgebaren wird schon noch zur Geltung kommen. Auf 56 Tage ist der Prozess angelegt, Jörg L. drohen bis zu zehn Jahre Haft. Der nächste Termin ist am 30. Dezember.

Alles auf Anfang

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Michel Cousins hat das Handy am Ohr, als er ein Café am Nilufer im Kairoer Stadtteil Zamalek betritt. „Schwere Kämpfe? Wo genau?“, fragt der Chefredakteur des Libya Herald einen Mitarbeiter in Tripolis am anderen Ende der Leitung. „Welcher Tag ist heute?“ – Die Zeiten sind stressig, wenn man sich auf Libyen als Berichterstattungsgebiet fokussiert hat. „Ah ja, dann sehe ich morgen den Botschafter hier in Kairo“, fügt der 63-Jährige hinzu. Fester Händedruck, die Ärmel des blauen Hemdes hochgekrempelt, lässt Michael Cousins sich in den Stuhl fallen und drückt den nächsten Anruf auf seinem zweiten Handy weg.



Blick über Libyens Hauptstadt Tripolis nach einem Raketenangriff durch die Milizen im August 2014.

Seit Anfang Juli zieht er das Exil seiner Wahlheimat Tripolis vor. Damals war er für ein Wochenende nach Istanbul geflogen. Und als er zurück wollte, war der wichtigste Flughafen Libyens dicht, weil dort schwere Gefechte ausgebrochen waren. Vielleicht könnte er zurück. „Nichts und niemand hindert mich“, sagt er. Doch es gab Drohungen, und es ist schwer einzuschätzen, wie ernst die zu nehmen sind. So pendelt er seither zwischen Tunis, seinem Wohnsitz in Frankreich und jetzt eben Kairo, wo er eigentlich Freunde besucht, aber natürlich auch von der Arbeit nicht lassen kann. Per Handy und E-Mail hält er Kontakt zu seinen Leuten. Zehn bis zwölf Artikel stellt die Redaktion pro Tag auf die Internetseite Libyaherald.com, fünf bis sechs Vollzeitmitarbeiter beschäftigt Cousins noch, die in Libyen recherchieren. Dazu kommen er, der die meisten Texte redigiert und auf die Internetseite stellt, und sein libyscher Partner. Auch ein paar freie Journalisten aus der Region liefern gelegentlich Artikel – über die Emirate, Ägypten oder Katar, eine Reihe regionaler Akteure mischen mit in dem vielschichtigen Konflikt.

Aber wie kommt man auf die Idee, ausgerechnet in Libyen – und ausgerechnet in dieser Situation – eine neue Tageszeitung zu gründen, eine englischsprachige noch dazu? „Ich muss verrückt gewesen sein“, ruft Cousins und streicht sich mit der Hand über die Glatze. Von heute aus betrachtet mag das so erscheinen, doch ist die Geschichte des Libya Herald nur eine von vielen enttäuschten Hoffnungen nach dem Sturz des Langzeitdiktators Muammar al-Gaddafi. Cousins fühlt sich dem Land verbunden, um das Mindeste zu sagen. Als Kind hat er in Tripolis gelebt, als Jugendlicher all seine Ferien dort verbracht, nachdem seine Eltern ihn mit zehn Jahren auf ein britisches Internat geschickt hatten. Seine Familie hat 30 Jahre in der Stadt gelebt, bevor sie 1982 das Land verlassen musste, der Vater hatte dort für eine Ölfirma gearbeitet.

Cousins behielt Libyen als kosmopolitisches Winterdomizil reicher Europäer in Erinnerung, die das angenehme Klima bei Drinks in den eleganten Cafés von Tripolis genossen, der „Perle am Mittelmeer“, wie er die Stadt nennt. Seine Augen funkeln, seine Hände rudern, wenn er von damals erzählt, von einem Land, in dem Ruinen aus griechischer und römischer Zeit von einer großen, jahrtausendealten Kulturgeschichte zeugen. „Wir redeten über Libyen wie über einen lieben Verstorbenen“, sagt er – respektvoll, aber vielleicht manchmal auch ein wenig verklärend.

Die Erinnerung an diese fernen Jahre war schon verblichen, als Cousins im Februar 2011 im saudischen Dschidda im Newsroom von Arab News saß, einer englischsprachigen Zeitung mit panarabischem Anspruch, und am Fernseher verfolgte, wie sich der Aufstand in Libyen entfaltete. Die Kameras filmten einen Balkon in Bengasi, den vermummte Rebellen gerade erklettert hatten. „Das ist die Flagge“, rief Cousins elektrisiert. Seine Kollegen starrten ihn verständnislos an, aber „in diesem Moment wusste ich, das ist eine komplette Revolution“. Es war das Banner des Königreichs, rot-schwarz-grün mit dem weißen Halbmond und Stern. Die gleiche Flagge hatte Cousins Vater trotzig über dem Familiensitz in Schottland aufgezogen, nachdem Gaddafi ihn hinausgeworfen hatte.

Ende April stieg Cousins in Bengasi aus dem Flieger, er hatte sich an Bord einer UN-Maschine aus Kairo gemogelt, wie er schmunzelnd erzählt. Er folgte der Revolution nach Tripolis, wo er manche Leute traf, mit denen er einst in die Schule gegangen war. Er traf aber auch Samy Zaptia, der einmal für die Tripoli Post gearbeitet hat. Wenn Libyen daran anknüpfen sollte, was es vor Gaddafis Machtergreifung 1969 einmal war, dann würde es wieder eine solide, englischsprachige Zeitung brauchen. Darin waren sich die beiden Männer einig. Und so ging am 17.Februar 2012, dem ersten Jahrestag der Revolution, die Internetseite ihres neuen Projekts online – der Libya Herald war geboren.

Der Plan war, bald eine gedruckte Zeitung herauszubringen, doch wie viele hochfliegende Ideen in der Phase der Euphorie nach der Revolution, scheiterte er bald an den Gegebenheiten vor Ort. „Neben der Website haben wir erst mal mit einem Wirtschaftsmagazin begonnen, das alle zwei Monate erscheint“, erinnert sich der Chefredakteur, der auch Geschäftsführer ist. Doch selbst bei diesem langen Vorlauf war längst nicht jedes Mal sicher, dass am Erscheinungstag die Stapel mit den frischen Zeitschriften bereitstanden. „Mal gab es kein Papier, mal streikte die Druckerei“, erzählt Cousins – schon seit Mai ist keine Ausgabe des Magazins mehr erschienen. Und statt einer lang anhaltenden Aufbau-Bonanza griff in dem ölreichen Land bald neue politische Instabilität um sich – nicht gerade förderlich für das Anzeigengeschäft, das zumindest anfangs hoffen ließ, dass sich der Libya Herald und seine Ableger wenigstens selber tragen würden.

Journalistisch konnte sich die Publikation dagegen schnell einen Namen erarbeiten. Cousins wurde von CNN und anderen großen TV-Stationen als Experte für die Region interviewt; sein Wissen über alte Loyalitäten und Rivalitäten war plötzlich sehr gefragt. „Es hilft, das Land zu verstehen. Man kann es besser analysieren, wenn man die tiefer liegenden Strömungen der Gesellschaft kennt“, sagt Cousins. Aber in erster Linie kommt es ihm auf die guten alten journalistischen Tugenden an, die er Mitte der Siebzigerjahre selbst beim Middle East Economic Digest in der Londoner Chancery Lane gelernt hat. „Überprüfe jede Information und überprüfe sie noch einmal“, betet er sein Mantra vor. „Und in Libyen: Überprüfe sie fünfmal!“ Die Gerüchteküche brodelt in diesen unsicheren Zeiten, und sie wird gezielt befeuert, um noch mehr Unsicherheit im Land zu verbreiten.

Doch von Wertschätzung alleine kann auch Cousins nicht leben. Eine Viertelmillion Euro aus eigener Tasche hat er bislang in sein Projekt gesteckt, gerade hat er ein Haus verkauft, um den Laden am Laufen zu halten. Die Bezahlschranke der Internetseite wirft nicht viel ab, Zusagen für finanzielle Unterstützung aus Europa haben sich nicht materialisiert, und die 20000 Dollar, die er anfangs von den Briten und Amerikanern bekommen hatte, um libysche Journalisten auszubilden und zu trainieren, sind lange verbraucht. „Ich habe in meinem Leben nie härter gearbeitet als jetzt“, sagt Cousins. „Alles vorher war ein Übungslauf.“ Noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. „Wir versuchen weiterzumachen“, seufzt der Journalist und lehnt sich zurück. „Aber es sieht zunehmend unkomfortabel aus.“ Britisches Understatement, das für den Libya Herald ebenso zutrifft wie für das Land, das Michel Cousins nicht wieder losgelassen hat.

Ein Jahr mit Po und Pop

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1. Kuschelhouse


http://www.youtube.com/watch?v=IcoqJCJlHbQ Von Kinderzimmer auf Platz 1: "Prayer in C" von Robin Schulz.

Die Generation Laptop ist jetzt erwachsen. Und sie hat der Welt ein neues Pop-Phänomen geschenkt. Es zeichnete sich schon 2013 ab, als ein 25-jähriger Student einen Song des hierzulande unbekannten israelischen Sängers Asaf Avidan remixte und „One Day“ postwendend zum internationalen Nummer-eins-Hit wurde.

Ein sanft pumpender Housebeat unter einem unbekannten Song inkl. Gitarre und/oder Saxofon – mit dem Rezept haben dieses Jahr ein halbes Dutzend vormals völlig unbekannter Jungs Millionen verdient. Der 29-jährige Alle Farben, der 21-jährige Parra for Cuva oder der 22-jährige Bakermat. Den größten Aufschlag hatte der Osnabrücker Robin Schulz, sein Remix „Prayer in C“ (im Original von einer ebenfalls unbekannten französischen Folkband) landete in 40 Ländern auf Platz eins.

All diese Songs funktionieren genauso gut im nahtlosen Endlos-Mix auf der Abifeier wie im elterlichen Audi auf dem Weg in die Sommerferien. Warme Drums, eine nickiweich gesampelte Stimme, vinylhaft knisternde Analog-Instrumente. Der Feier-Lifestyle aus Berlin, der diese Art des House-Remixes ursprünglich mal hervorgebracht hat, ist spätestens seit diesem Jahr nicht mehr der kantige Lebensentwurf von ein paar Hedonisten – er ist etablierter Konsens unter Normal-Jugendlichen in ganz Europa.


2. Der Booty






Dass so ein Pop-Jahr ein Kleidungsstück hervorbringt, kommt schon mal vor. (Wäre vermutlich in diesem Jahr die Adidas-Trainingsjacke.) Aber ein Körperteil? In diesem Jahr durchaus: den großen, runden Hintern. Der mittlerweile ikonische Kardashian-Po hat das nur noch mal mit großer Deutlichkeit gezeigt. Klar war es eigentlich schon zuvor.

Die Top Ten der Billboard Charts drehten sich schließlich monatelang um das Thema Booty. Nicki Minaj, Meghan Trainor, Iggy Azalea, Jennifer Lopez und sogar Taylor Swift besangen das voluminöse Hinterteil – im August stand auf allen ersten drei Chartplätzen gleichzeitig ein Song zum Thema. Die New York Times stellte fest: „Der Hintern wird gerade Amerikas erogene Zone der Wahl“, der Guardian ging noch weiter und ernannte 2014 zum „Year of the Booty“. Ein vormals afroamerikanisches Schönheitsideal hat den weißen Mainstream erobert. Und Bill Withers hat mal wieder Recht, der vor Jahren sagte: „Whatever the black kids do, the white kids will follow.“


3. Österreich


http://www.youtube.com/watch?v=xREl_68O-mw Wanda - Bologna

Was war denn bitte da los? Ohne das mit Zahlen unterfüttern zu können, haben wir im ablaufenden Jahr immer wieder das Gefühl gehabt: Wenn in Sachen deutschsprachiger Musik was richtig Gutes ums Eck kam, stammte es aus Österreich! Und zwar sowohl in Form von schlauem Diskurs-Pop (Ja, Panik!), poetischem Songwritertum (Der Nino aus Wien), progressivem Dance-Pop (Left Boy) oder schrammelndem Indierock (Wanda).

Gemessen an Größe und Einwohnerzahl hätte Deutschland in der gleichen Zeit mindestens 50 Groß-Alben gebären müssen. Hat es leider nicht. Aber wir wissen jetzt wenigstens: Wo Österreich draufsteht, gerne erstmal lauter drehen.


4. Der Halligalli-Hit


http://www.youtube.com/watch?v=D_NWmUn4VQo Der Pop-Hit als TV-Zweitverwertung: "U-Bahn Ficker".

Joko und Klaas haben sich im vergangenen Jahr nicht nur endgültig in der sogenannten Fernsehlandschaft festgesaugt, sie haben auch den Pop-Kosmos stark umgerührt. Und zwar im überraschenden Schulterschluss mit der Deutschrap-Szene. Der „Joko Diss“ von Eko Fresh, Bass Sultan Hengzt, Frauenarzt und Manny Marc war eigentlich eine lustige Replik auf einen Streich, bei dem Joko mit Handtuch im Nacken und peinlichen Beleidigungen ein Sido-Konzert unterbrochen hatte. Aber der Song stieg innerhalb von zwei Tagen auf Platz eins der iTunes-Charts.

Im Herbst produzierten Joko und Klaas gemeinsam mit Eko Fresh den Song „U-Bahn-Ficker“, ebenfalls eine Art Spin-off aus der Sendung. Er stieg auf Platz drei und blieb zwei Wochen in den Charts. Schon 2013 zeichnete ja der „Rangel-Song“ von Olli Schulz diesen Weg vor. In diesem Jahr hat sich „Circus Halligalli“ zum wichtigsten jungen TV-Format entwickelt. Und seit Stefan Raab hat kein Fernsehmensch so konsequent das Musikgeschäft zur Zweitverwertung von Sendungsinhalten genutzt.


5. Die Deutschrap-Telenovela


http://www.youtube.com/watch?v=PoqsM18NVms Ein narratives Gerüst zur Musik. Hier spricht Farid Bang über seinen Widersacher Fler.

Das einzig junge Musik-Genre, das in Deutschland immer noch zuverlässig Wachstumsraten verzeichnet, ist der Hip-Hop. Allein elf Rap-Alben waren im vergangenen Jahr auf Platz eins der Charts. Eine Erklärung für den Erfolg: Die Branche hat sich stabil im Internet etabliert, Labels und Künstler nutzen Social Media so genuin und selbstverständlich wie in keinem anderen Genre.

Die Protagonisten des deutschen Raps treten in sozialen Netzwerken auf wie Actionfiguren: jeder mit bestimmten Accessoires, Merkmalen, Stärken, Verbündeten und Feinden. Der Hip-Hop hat sich eine fluide, interaktive Welt gebaut, in der die Fans zwischen den verschiedensten Rollenvorbildern wählen können: Es gibt Cro, den verliebten Abiturienten, Casper, den wütenden Intellektuellen, Haftbefehl, den Ghetto-Dichter, Kollegah, den körperbewussten Stecher, Marteria, den kiffenden Schönling, Fler, den tumben Germanen. So ausdifferenziert wie in diesem Jahr waren diese Charaktere nie.

Dabei werden die Fans längst nicht mehr nur von Album zu Album mit Stoff versorgt – die Künstler erzählen die Geschichte im Wochentakt weiter, über Videobotschaften, über demonstrative Freundschaften und Feindschaften, über Drohvideos und Kollaborationen. Hip-Hop funktioniert heute vor allem deshalb so gut, weil er ein narratives Gerüst bietet. Die Deutschrap-Telenovela.

Perfekte Pfleger

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Mindestens 5000 Helfer werden in den kommenden Monaten in den vom Ebola-Virus betroffenen Ländern Westafrikas benötigt, schätzen die Vereinten Nationen – weit mehr als momentan zur Verfügung stehen. Ein Trainingsprogramm für Überlebende des Ebola-Fiebers soll dieses Problem nun lösen. Wer die Infektion überstanden hat, ist nach heutigem Wissen immun gegen den Erreger. In einem Kommentar im Fachblatt Nature (Bd. 516, S. 323, 2014) forderten am Mittwoch Mediziner, die Weltgesundheitsorganisation WHO solle dieses Potenzial nutzen. Die Autoren um den Epidemiologen und Experten für Gesundheitskatastrophen Joshua Epstein von der Johns-Hopkins-Universität schätzen, dass bereits im Januar mehrere Tausend immunisierte Menschen als Helfer eingesetzt werden könnten.



Pflegekräfte im Ebola-Behandlungszentrum in Monrovia, Liberia. In den betroffenen Ländern werden mehr Helfer benötigt. Überlebende der Krankheit, die nach derzeitigem Wissensstand immun gegen den Ereger sind, sollen einspringen.

Freiwillige werden nicht nur für die Pflege der Kranken benötigt. Verstorbene müssen bestattet und Personen, die Kontakt zu Ebola-Opfern hatten, aufgespürt werden. Nach kurzem Anlernen könnten immune Helfer auch Patienten beim Essen, Trinken oder Duschen helfen. Andere könnten Kinder während der dreiwöchigen Phase nach einem Kontakt mit Infizierten betreuen, bis sicher ist, dass sich die Kleinen nicht angesteckt haben. Es werden zudem Leute gebraucht, die den verseuchten Müll in Kliniken entsorgen und Räume desinfizieren.

Die UN und die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen setzen bereits vereinzelt ehemalige Ebola-Patienten als Helfer in Sierra Leone, Guinea und Liberia ein. Epstein und Kollegen glauben jedoch, dass die Schulung der Helfer und deren Zuweisung zentral und in großem Stil organisiert werden sollte. Wichtige Voraussetzung wäre allerdings, dass gleichzeitig die Bevölkerung darüber aufgeklärt wird, dass von den Überlebenden keine Gefahr ausgeht. Die Ärzte ohne Grenzen haben bereits angefangen, den ehemaligen Patienten „Genesungs-Zertifikate“ auszustellen, die solche Ängste mindern sollen.

Bislang gibt es keinen einzigen Bericht über einen ehemaligen Ebola-Patienten, bei dem die Krankheit ein zweites Mal ausgebrochen wäre. Im Labor wurde zudem mehrfach gezeigt, dass Tiere, die eine Ebola-Infektion überstanden haben, nicht noch einmal an demselben Erreger erkranken können. Die meisten Forscher gehen aus diesen Gründen von einem „Null-Risiko“ für die Geheilten aus, wie Stephan Günther sagt. Der Virologe vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg betont jedoch, dass auch immune Helfer nicht auf Schutzkleidung verzichten dürfen. Zum einen, um die Gefahr einer Verschleppung der Viren auszuschließen. Zum anderen könnte es Verwirrung stiften, wenn in einer Klinik Menschen mit unterschiedlichen Schutzstufen herumlaufen. „Man braucht ein System für alle, alles andere ist zu kompliziert.“ Es wäre zudem leichtfertig, auf Schutz zu verzichten. Bereits mehrfach hat das Virus gezeigt, wie unberechenbar es ist. Zum Beispiel bei der Inkubationszeit: Die meisten Infizierten erkranken innerhalb von 21 Tagen. Es gibt aber auch Fälle in denen es wesentlich länger gedauert hat.

Solange noch nicht zweifelsfrei feststeht, wie gut die Überlebenden vor einer erneuten Infektion geschützt sind, sollten sie deshalb mit normaler Schutzkleidung arbeiten, mahnen auch Epstein und seine Kollegen – oder nur Aufgaben übernehmen, bei denen kein hundertprozentiger Schutz notwendig ist.

Anziehen, bitte

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Meistens hat sie eher wenig an. Zumindest sorgt Pop-Sängerin Rihanna, 26, nicht nur mit mehr als 100 Millionen verkauften Platten und vielen Musikpreisen bis hin zum Grammy für Aufsehen. Sondern auch, weil sie oft nur äußerst spärlich bekleidet in der Öffentlichkeit auftritt. Ob bei Konzerten, Gala-Events oder beim Restaurantbesuch – die auf der Karibikinsel Barbados geborene Sängerin setzt nicht nur auf ihre großartige Stimme, sondern mindestens genauso stark auf freizügige Outfits. „Sex sells“, lautet die Devise; zumindest aber sorgt es in ihrem Fall für hohe Aufmerksamkeit.



Sängerin Rihanna wird ab Januar Kreativdirektorin beim Sportartikelhersteller Puma.

Ausgerechnet jene Rihanna will sich nun aber verstärkt der Frage widmen, was Menschen am besten anziehen, wenn sie sportlich-leger daherkommen wollen. Für den Sportartikelhersteller Puma wird die Sängerin ab Januar nicht nur als Markenbotschafterin in der Kategorie „Women’s Training“ auftreten, sondern sie soll selbst Hand an die Kollektionen anlegen.

Im Status einer Kreativdirektorin werde Rihanna künftig „ihr besonderes Gespür für Style und Innovation in die Produkte von Puma einfließen lassen“, gab das Unternehmen bekannt. Von einer „langfristigen Partnerschaft“ ist die Rede; für wie lange und wie viel Honorar ist ein Geheimnis.

Wenn das mal alles gut geht.

Schon einmal hat sich der Bühnenstar als Designerin betätigt und das ging ziemlich schief. In der Modebranche erinnert man sich mit Grauen an den 16. Februar 2013. Damals präsentierte Rihanna bei der London Fashion Week eine eigene Kollektion, die sie für die britische Marke River Island entworfen hatte. Doch die bauchfreien Tops und andere eher textilarme Oberteile lösten ebenso Häme bei Fachpublikum und Medien aus wie die Badeanzüge. Denn die wirkten wie eine Retro-Neuauflage von Modellen der 1990er-Jahre, Typ „Baywatch“.

Damals kam der Verdacht auf, die Sängerin gebe der Kollektion nur ihren Namen, habe aber gar nicht selbst designt. Bei Puma wird dies nun angeblich ganz anders sein. Firmenchef Björn Gulden setzt auf Rihannas „weltweite Bekanntheit, ihr Charisma, ihre Individualität und ihren Ehrgeiz“. Sie selbst gab freundlich zurück, die Marke mit dem Raubtierlogo stünde „für Stärke und Individualität“.

Dennoch ist das Engagement der auch durch ihre schlagkräftige On-off-Beziehung mit R’n’B-Star Chris Brown und allerhand Raucherpartys bekannten Sängerin gewisser Weise überraschend. Denn eigentlich will sich Puma, schwächelnde Nummer drei der Sportartikelbranche nach Nike und Adidas, wieder stärker als Marke für Turnhallen und Sportplätze profilieren und weniger als Mode-Label wie in der Vergangenheit. Andererseits: Jeder große Hersteller aus dieser Branche verkauft auch Schuhe und Klamotten für die nichtsportliche Freizeit. Und macht sich dabei werbewirksam Show-Stars zunutze.

Adidas zum Beispiel köderte die Teenager in den vergangenen zwei Jahren für seine Neo-Kollektion mit Justin Bieber als Testimonial. Die auf Fitnessmode konzentrierte Adidas-Tochter Reebok wirbt mit Soul-Sängerin Alicia Keys und dem Ex-Basketballstar Shaq O’Neal. Und von 2015 an wird der US-Rapper und Kim-Kardashian-Freund Kanye West als Design-Mitarbeiter für die Drei-Streifen-Marke aus Franken arbeiten.

Rihanna besuchte übrigens am Dienstagnachmittag ihren neuen Arbeitgeber in Herzogenaurach. Ein paar Stunden lang plauderte sie mit Managern und Mitarbeitern von Puma. „Ganz nahbar“ sei sie gewesen, hieß es. Nun soll alles schnell gehen. Schon in der Frühjahr-Sommer-Kollektion 2015 werde man „erste Einflüsse ihrer Arbeit sehen“, behaupten die Puma-PR-Leute. Na dann.

In Gottes Tempo

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Viel Privates ist nicht bekannt von der Frau, die am Mittwoch in England Kirchengeschichte geschrieben hat. Libby Lane ist 48 Jahre alt, Fan des Fußballklubs Manchester United und würde gern Saxophonspielen lernen. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ist mit dem Pfarrer des Flughafens von Manchester verheiratet. Dass sich plötzlich eine breite Öffentlichkeit für diese eher banalen Fakten interessiert, liegt daran, dass Libby Lane einen ganz besonderen Posten im Land übernimmt: Sie wird die erste Bischöfin in der Kirche von England. Premierminister David Cameron sprach von einer „historischen Ernennung“ und einem „wichtigen Schritt zu mehr Gleichberechtigung innerhalb der Kirche“. Königin Elizabeth II. hat der Ernennung in ihrer Funktion als weltliches Kirchenoberhaupt zugestimmt.



Libby Lane, die erste Bischöfin in der Kirche von England.

Der Berufung Lanes ging ein jahrzehntelanges Ringen voraus. Noch im November 2012 hatte die Generalsynode der Kirche von England überraschend dagegen gestimmt, dass Frauen das Bischofsamt übernehmen können. In den drei Häusern der Synode hatte jeweils eine Zweidrittelmehrheit für die Neuerung stimmen müssen. Das Haus der Bischöfe und das Haus des Klerus stimmten zu, im Haus der Laien fehlten sechs Stimmen. Als das Ergebnis bekannt gegeben wurde, weinten viele Besucher der Synode. Aus allen Teilen der Gesellschaft hagelte es Kritik. Ein Bischof erklärte, die Church of England laufe Gefahr, eine nationale Peinlichkeit zu werden.

Seither hat Justin Welby, als Erzbischof von Canterbury geistliches Oberhaupt der Kirche von England, unermüdlich Überzeugungsarbeit geleistet. Im Juni dieses Jahres hatte sich die Generalsynode erneut mit dem Thema befasst und diesmal mit großer Mehrheit zugestimmt. Im November wurden die legalen Voraussetzungen geschaffen, womit die Kirche von England laut Welby in „eine völlig neue Phase ihrer Existenz“ eingetreten ist. An diesem Mittwoch erfolgte schließlich die Ernennung Libby Lanes zur Suffraganbischöfin von Stockport. Geweiht wird sie Mitte Januar in der Kathedrale von York.

Suffraganbischöfe sind dem Diözesanbischof untergeordnet und haben keine eigene Kathedrale. Deshalb sprach Lane am Mittwoch im Rathaus von Stockport. Zunächst bat sie um eine Schweigeminute für die Opfer des Terroranschlags in Pakistan, dann sagte sie: „Es ist ein besonderer Tag für mich und ein historischer Tag für die Kirche. Ich bin mir all derer bewusst, die für diesen Tag gebetet, gearbeitet und gelitten haben.“ Da Lane nicht Bischöfin einer eigenen Diözese wird, hat sie keinen Anspruch auf einen Platz im Oberhaus. Dort ist die Kirche von England mit 26 Bischöfen vertreten. Normalerweise sind dies neben den Erzbischöfen von Canterbury und York und den Bischöfen von Durham, London und Winchester die jeweils dienstältesten Bischöfe. An diesem Donnerstag wird aber ein Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der künftigen Diözesanbischöfinnen bevorzugten Zugang zum House of Lords verschaffen soll. Es wird erwartet, dass im kommenden Jahr die ersten Diözesanbischöfinnen ernannt werden.

Der Ernennung Lanes ging bereits 1975 der Beschluss der Generalsynode voraus, dass es „keine generellen Einwände“ gegen Frauen in Kirchenämtern gebe. Seit 1985 können Frauen Diakoninnen werden, 1992 hat die Generalsynode entschieden, dass Frauen auch Pfarrerinnen werden können. Dass es mehr als zwanzig Jahre dauerte, bis der nächste Schritt folgte, und damit gut zehn Jahre länger als erwartet, kommentierte Libby Lane mit den Worten: „Es fühlt sich an wie Gottes Tempo in Gottes Plan.“

Die jetzt.de-Kettengeschichte: die Auswertung

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Titel: "Nachtschicht" - die jetzt.de-Kettengeschichte

Folgen: 35

Laufzeit: 22. April bis 18. Dezember 2014





Autoren:
dorian-steinhoff
chrinamu
rod_kieselfuercht
TextTrulla
rosemariebird
eha
Volere
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kettenraucherIn

auftretende Figuren:
Anna a.k.a. Kunigunde
Paul Wisselmann a.k.a. Preußen-Paule
dorian-steinhoff
Wendy Wendepunkt
Tinkerbell a.k.a. Liesel Maier
Gerwin Gewinner
Bernhard a.k.a. Steini
Rana
die Medusa
ein schlangenartiges Ungeheuer
ein namenloser Wachmann
Kommissar Erwin Pankewitz
einige Zombies
ein lila Einhorn, das nach Lavendel riecht
der übergewichtige Redaktionsleiter
der Fremde im grauen Sakko
ein weiterer namenloser Wachmann
vier Männer mit Sturmhauben und Militärjacken
die Besatzung der SS Nightshift
Annas Urgroßtante M.
der nackte Junge im Liegestuhl
die Verschnupfte
Robin
Batman
Nachrichten-Moderator
Sprecher aus dem Off
eine verdiente Korrespondentin
Jana Böhmerfrau
Abu-Schnabu Abdn-Babdn (gebürtig Hans-Egon Knösickel)
Annas Mitbewohnerin Vera Vernunft
Steffie aus der Redaktion des Grevenbroicher Tagblatts
der Barkeeper
eine zweite Anna

Handlungsorte:
Paul Wisselmanns Tankstelle
die Villa des Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Turniers (Foyer, Saal, Dachboden)
eine Landstraße
Ranas Küche
eine Rumpelkammer
das Innere des Ungeheuers
ein Verlies
ein altes Bauernhaus
die Redaktion
die SS Nightshift
Urgroßtante Ms Haus und Umgebung
Annas WG
ein Club

Morde: 1

Drogenexzesse: 1

Parallelrealitäten: 3

Momente, in denen Menschen einfach verpuffen: 2

Meiste Lesenswert-Herzchen: 15 (Teil 4 von TextTrulla)

Meiste Kommentare: 28 (Teil 14 von gartenfrau)

Beste Cliffhanger-Sätze:

Erst hört er nur das Rauschen und Knistern, doch dann ist Anna da und sagt: „Hilf mir“.
(Teil 7 von Volere)

Alles scheint zu klappen, sie wagt kaum zu atmen, nicht zu denken, dass sie es wirklich geschafft hat. Aber - was ist denn das???
(Teil 13 von canettinchen)

"Scheiße", sagt Paul. "Genau, was ich befürchtet hab. Eine Zombie-Invasion."
(Teil 21 von wollmops)

Anna steht nah vor ihm und blickt durch den Schein der Laterne in seine leuchtend grünen Augen. Da flüstert sie: „Wer bist du?"
(Teil 25 von Niklas 1702)

Der Liegestuhljunge im Batmankostüm drückt einen Kuss darauf, steckt ihr ein Stück Glas in die Jackentasche und ---
(Teil 29 von ruebezahl)

Dann dreht sich das Mädchen um. Anna kann mit einem Mal nicht mehr denken. Ihr stockt der Atem.
(Teil 34 von Toni_Silber)

Die jetzt.de-Kettengeschichte, Teil 35

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Was bisher geschah:
Anna jobbt an der Tankstelle und haut mitten in der Nachtschicht ab, um ihren Schwarm Gerwin Gewinner zu treffen. Doch Gerwin entpuppt sich als Verbrecher und er und seine Komplizin, die alte Liesel Maier, sperren Anna auf einem Dachboden ein. Annas Chef Paul, der sie retten will, kennt die Entführer schon - die drei haben gemeinsam Kunstwerke gestohlen, die magische Kräfte haben.

In einer Parallelrealität hat Anna inzwischen einen Roman namens "Nachtschicht" gelesen und wurde in die Geschichte hineingesogen. Ihre Freundin Rana gerät in die Fänge der Entführer, Ranas Freundin Bernhard wird ermordet. Anna und Paul werden von einer Zombie-Armee bedroht und von einem fliegenden Einhorn gerettet...

...und Anna erwacht in einer Redaktion als Autorin einer Kolumne namens "Nachtschicht", wird aber gefeuert. Vor dem Redaktionsgebäude trifft sie auf einen Fremden und auf Gerwin - als Kapitän eines Raumschiffs. Anna wird ohnmächtig und wacht im Haus ihrer Urgroßtante auf. Dort bekommt sie die Möglichkeit, zu einem beliebigen Punkt der Erzählung zurückzuspringen und landet wieder in der Redaktion. Ihre nächste Mission: eine erfolgreiche Journalistin werden! In einen Club trifft sie schließlich alle Figuren ihrer bisherigen Geschichte. "Du musst die Kurve kriegen, Anna, es wird Zeit", sagt Wendy Wendepunkt. Und so macht Anna sich auf den Weg zurück zur Tankstelle - und trifft dort auf eine Angestellte, die ihr sehr ähnlich sieht. Extrem ähnlich...

Alle vorigen Teile der Kettengeschichte kannst du hier nachlesen. Und hier kommt der letzte Teil von jetzt-User kettenraucherIn.




Anna kneift die Augen zusammen, reibt mit ihren Fingern darüber, wendet sich dann schnell um. Zum ersten Mal seit langem zweifelt sie an sich, an ihrer Wahrnehmung, ihrem Verstand. Der Tankstellenvorbau liegt altbekannt vor ihr, gelblich erleuchtet, zwei Fahrspuren, Zapfsäulen, Super, Normal, Diesel. Dahinter die Kreisstraße, nur ab und zu belebt von den Lichtschweifen vorbeifahrender Fahrzeuge.

Schnell geht sie ein paar Schritte zur Seite, weg von der hellen Lichtinsel des Eingangsbereichs, weg von der Fensterscheibe, um die Ecke zum Leergutautomaten, den Preußen-Paule damals in einem Anfall von Hochmut hatte einbauen lassen. Sie erinnert sich noch genau an seine Worte von damals: "Wenn die Leute schon alle ihre Flaschen bei mir abgeben müssen, dann bitte wenigstens nicht in meinem Shop, wie schaut das denn aus!"

Die Schultern angespannt, die Hände in den Taschen zusammengeballt, spürt sie kaltes Metall. Ihr Schlüssel! Den hatte sie ja ganz vergessen. Vielleicht würde sich ja alles klären, wenn sie ganz normal zur Schicht erschiene.

"Verdammt, meine Schicht! Ich bin sicher schon viel zu spät!", denkt sie mit einem Anflug von Panik, denn wenn Paule eines nicht duldet, dann sind es Verspätungen. Aber alles in Ordnung, er hat ja immerhin schnell einen Ersatz gefunden, das wird schon passen. Jetzt aber besser Beeilung.

Trotzdem sind ihre Finger leicht zittrig, als sie den Schlüssel aus der Hosentasche zieht, den klobigen Sicherheitsschlüssel, der ihr den Weg durch den Lieferanteneingang öffnet.

An den Flaschen und Bierkästen vorbei geht sie in den Raum, findet auch tatsächlich ein Poloshirt mit dem Aufdruck der Mineralölgesellschaft, ihre Arbeitskleidung. Sie öffnet die Tür zum Verkaufsraum, gleißend hell strahlt ihr das Licht in die Augen, als sie Richtung Kasse geht, die Verkäuferin wendet sich ihr zu und setzt zum Lächeln an.

Ein erstarrtes Grinsen, einen zum Schrei geöffneten Mund später ist sie wieder draußen, läuft weg, bleibt erst wieder stehen, als die Tankstelle hinter ihr kleiner geworden ist. "Ich brauche eine Intervention", denkt sie sich, "Paule, Wendy, Liesl! Ich bin in einer Welt, die mich nicht braucht, ein Artefakt der Raumzeit, ausgespuckt, allein!" Doch nichts passiert, außer, dass ein Auto besonders dicht und besonders schnell an ihr vorbeifährt.

Der Horizont beginnt langsam zu zerfasern, beinahe unmerklich verschwindet der Geruch nach Lavendel, der ihr bis dahin gar nicht mehr aufgefallen war, dafür riecht sie die Wiese, die Bäume, die klare, kalte Luft, und was ist das, da, unter dem Rauschen der Nacht? Eine Stimme?

Später würde sie ab und zu von dem Erlebten erzählen und meistens schloß sie ihre Geschichte mit der Bemerkung ab, dass sie noch nie so froh gewesen sei, wieder in der Realität angekommen zu sein.

Sprechende Bärte

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jetzt.de: Ich bin momentan Träger eines Fünf-Wochen-Barts. Sollte ich ihn weiter wachsen lassen?
Alicia Kassebohm: Auf jeden Fall! Als jemand, der so eine Serie macht, ist es natürlich klar, dass ich Bärte ganz hübsch finde. Ich finde, ein Bart macht eigentlich jeden Mann schöner. Ich finde schon einen Dreitagebart attraktiv.

Gilt für dich die Regel: Je mehr Bart, desto besser?
Das kommt auf den Typen an. Es gibt Leute, die mit etwas, das gerade so eben als Bart durchgeht, super aussehen, aber mit längerem Bart nicht so. Das hängt davon ab, wie der Bart wächst, aber auch von Gesichtskonturen und Frisur.



Alicia, 22, studiert Kommunikationsdesign und quatscht Berliner Bartträger für ihre Fotoserie an.

Und sollte ich mich mal nach Kursen zum Zöpfeflechten oder Haarschmuck-Basteln umsehen?
Ich glaube nicht. Das Schmücken habe meistens ich übernommen, und außerdem war das immer nur fürs Foto. Im Alltag wird man nicht allzu viele geschmückte Bärte sehen.

Warum dann der Schmuck?
Ich wollte die Person durch ihren Bart eine Geschichte erzählen lassen. Meistens haben wir uns für den Bart gemeinsam ein Thema überlegt, basierend auf einer Geschichte, auf einer Erinnerung des Bartträgers, auf seinem Wesen oder einfach auf seinem Spitznamen. Nach diesem Thema haben wir dann den Bart gestaltet. So verbergen sich hinter den Bärten und den Fotos Aussagen und Geschichten über den Bartträger, im Idealfall so, dass man sie nicht auf den ersten Blick erkennt, beziehungsweise Spielraum für Interpretation bleibt.

Zum Beispiel?
Der Träger des Konfettibarts ist zum Beispiel DJ. Ein anderer, den ich auf der Straße angesprochen habe – ein Riesentyp mit riesigen Händen – sagte, dass er Origamifiguren bastelt. Der Träger des Rindenbarts hat ein Häuschen im Wald, ist sehr naturverbunden und hat eine Geschichte über Spannung in der Natur geschrieben.

Es sind ja viele Bärte mit Naturmaterialien wie Rinde, Moos oder Blumen verziert. Eine Anspielung auf den urbanen Bartträger, der sich mit seiner Gesichtsbehaarung eine archaische, wilde Zurück-zur-Natur-Komponente geben will?
Das war so nicht geplant, aber im Nachhinein würde ich das schon so deuten, weil das Thema Natur tatsächlich bei vielen meiner Bartmodels auftaucht.

Woher glaubst du, kommt der Trend zum Vollbart?
Die meisten meiner Models haben mir gesagt, dass sie ihren Bart tragen, weil er sie männlicher macht. Es scheint also eine gewisse Sehnsucht nach dieser Männlichkeit zu geben.

Vor etwas mehr als einem halben Jahr haben Wissenschaftler aus Australien schon „Peak Beard“ ausgerufen: Ab jetzt werde die Zahl der Vollbärte wieder zurückgehen. Deckt sich das mit deinen Beobachtungen?
Eher nicht. Im vergangenen halben Jahr sind die Bartträger eher noch mehr geworden. Und wenn jetzt darum so viel Wind gemacht wird, lassen sich bestimmt noch zwei, drei Leute einen Bart wachsen.

Wie normal ist ein Bart denn im Jahr 2014?
Also, unter meinen Models war zum Beispiel niemand, der in der Finanzbranche arbeitet. Die meisten machen irgendwas Kreatives, haben also einen Beruf, in dem man nicht so an strenge Regeln gebunden ist, was das Äußere angeht. Man sieht auch in Berlin Mitte und in Friedrichshain-Kreuzberg mehr Bärte als in Zehlendorf.

Alicias Buch "Beardicted" (25 €) ist im Verlag "Seltmann und Söhne" erschienen, ihre Bartserie setzt sie auch auf Facebook fort.

Die kalte Sprache des gezielten Tötens

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„Sein Plan war ein streng geheimes Memo, vom Stellvertretenden Direktor der Pla-nungsabteilung an ausgewählte Mitglieder des Senior Study Effort, datiert vom Mai 1961. Es betraf die Ermordung fremder Staatsoberhäupter aus philosophischer Sicht. (...) Terminate with extreme prejudice.“ Don DeLillo, „Sieben Sekunden“ (1988)



Terminiert wird beim amerikanischen Geheimdienst bis heute.

Ohne Befehl von oben darf auch der tapferste Soldat nicht ins Feld. Captain Ben Willard, kriegsmüde und gleichzeitig tatendurstig, erhält zu Beginn des Kriegsfilms „Apocalypse Now“ einen Geheimbefehl. Ganz tief im Dschungel treibt ein amerikanischer Oberst sein Unwesen, er gehorcht nicht mehr, hört auf keinen Befehl, führt sein eigenes kleines Königreich. Willard soll ihn aufspüren und sein Kommando „beenden“. Willard fragt nach, will wissen, wie dieses „beenden“ – terminate – zu verstehen sei. Und ein Mann in Zivil, ohne Zweifel ein Herr von der CIA, sagt es ihm so sachlich, als ginge es tatsächlich nur um eine Vertragsauflösung: „Beenden, und zwar absolut rücksichtslos.“


"Apocalypse Now“ ist natürlich nur ein Film, ein Film über den längst verlorenen Vietnamkrieg, vielfach ausgezeichnet zwar, aber letztlich ein Spektakel von vorgestern. Doch ein geheimes Dokument, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt und nun von Wikileaks veröffentlicht wird, zeigt, wie rücksichtslos bei der CIA gedacht wird. Terminiert wird beim amerikanischen Geheimdienst bis heute.

Das Dokument trägt den schlichten Titel „Beste Praktiken bei der Aufstandsbekämpfung“, kommt aber schon in der Unterzeile zur Sache: „Wie man Operationen mit hochwertiger Zielauswahl zu einem effektiven Mittel der Aufstandsbekämpfung macht“. Entstanden ist das Papier über das „High-Value Targeting“ im Office of Transnational Issues (OTI), das sich auf der Website der CIA damit rühmt, es habe „einzigartige funktionale Sachkompetenz anzubieten, um bestehende und entstehende Bedrohungen für die Sicherheit der USA einschätzen zu können“.

Adressaten dieser Sachkompetenz, heißt es wie im Werbeprospekt einer mittelprächtigen Consulting-Firma, seien höchstrangige Politiker, militärische Planer und die Strafverfolgungsbehörden. Aber nirgends in dem Geheimpapier steht, worum es in Wahrheit geht und was diese ganzen großartigen Wörter verschweigen: „Targeting“ steht hier für nichts anderes als den geplanten Abschuss von führenden Aufständischen, von Revolutionären und Terrorchefs.

Es ist ein Dokument des Grauens, aber nicht, weil ständig die Rede von Mord und Gemetzel wäre, sondern weil das Thema mit aller sprachlichen Gewalt vermieden wird. Die erschreckenden Details, die der Folterbericht des amerikanischen Senats in der vergangenen Woche in aller Deutlichkeit vorgestellt hat, lassen einen vergessen, dass Waterboarding und Schlafentzug keineswegs die einzigen Methoden sind, die dem amerikanischen Geheimdienst zur Verfügung stehen. Bei aller Liebe, die die wechselnden amerikanischen Regierungen für militärische Juntas und Diktatoren zeigten, zögerten sie doch nie, sich jener Machthaber zu entledigen, die nicht mehr nützlich oder antikommunistisch genug schienen.

So musste 1961 Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik dran glauben, oder zwei Jahre später der südvietnamesische Staatspräsident Ngo Dinh Diem. Die vielen vergeblichen Versuche, den verhassten kubanischen Máximo Líder Fidel Castro mit explodierenden Zigarren oder vergifteten Füllfederhaltern umzubringen, sind so legendär, wie sie erfolglos waren. Lateinamerika galt den USA schon immer als ihr „Hinterhof“.

Die Aufsichtsbehörde in Washington mochte es denn auch nicht dulden, dass Chile 1970 den Sozialisten Salvador Allende zum Staatspräsidenten wählte. Drei Jahre später, am 11. September 1973, putschte ihn das von nordamerikanischen Beratern unterstützte Militär aus dem Amt. Allende beging Selbstmord, während der Präsidentenpalast bombardiert wurde. Ziel erreicht.

Die CIA war dabei immer gern behilflich. Politischer Mord, Folter, Vertreibung schufen eine verheerende Unkultur des Todes, oder wie Tim Weiner es in „Legacy of Ashes“, seiner Geschichte der CIA, beiläufig formuliert: „Die CIA war ein Totenschädel mit einem Budget von einer Milliarde Dollar.“ Das stimmt natürlich heute nicht mehr, denn der Etat hat sich seit den Sechzigern vervielfacht, und die politisch sanktionierte Mordlust hat kaum abgenommen.

Am 4. Dezember 1981 weitete US-Präsident Ronald Reagan mit der executive order Nr. 12333 die Befugnisse der amerikanischen Geheimdienste aus, untersagte aber gleichzeitig in feierlichstem Ton weitere Mordanschläge: „Niemand, der bei der Regierung der Vereinigten Staaten angestellt ist oder in ihrem Auftrag arbeitet, soll sich an Attentaten oder deren Vorbereitung beteiligen.“ Wie wenig die USA bereit waren, sich an diese Vorschrift zu halten, bewiesen sie, als unter demselben Präsidenten die Häfen von Nicaragua vermint wurden.

1984 wurde ein fünfzehnseitiges „Handbuch für Freiheitskämpfer“ bekannt, mit dem die CIA den Contras bei ihrem Aufstand gegen die Regierung der Sandinisten helfen wollte. Es sei möglich, heißt es da, „sorgfältig ausgewählte und bedachte Ziele wie Richter, Polizisten und Staatsschutzbeamte etc. zu neutralisieren“. Als Nicaragua die USA beim Internationalen Gerichtshof in den Haag verklagte und sogar Entschädigung zugesprochen bekam, erklärten die USA, keine Urteile aus Den Haag mehr anerkennen zu wollen.

Reagan tat das freiheitstrunkene Papier mit einem Shakespeare-Titel ab: „Viel Lärm um Nichts“. Um dieses angebliche Nichts – wie gesagt, es geht ums Töten – sollen möglichst wenige und möglichst harmlose Worte gemacht werden. Wie das terminate ist auch das „Neutralisieren“ ein scheinwissenschaftlicher, aber umso brutalerer Euphemismus für das sonst übel beleumdete Geschäft des Tötens. Dass Morden eine Kunst sei, hätte in früheren Jahrhunderten der dafür bestallte Henker ohne Weiteres bestätigt. Dass es sich dabei um eine politische Wissenschaft handelt, beweist dieses neue Geheimpapier, in dem sie mit kissingerscher Coolness vorgetragen wird. Es ist ja auch eine Referentenvorlage für den tatsächlichen Gebrauch in der Exekutive. Für Insider ist eine E-Mail-Adresse und sogar eine Telefonnummer angegeben, denn Diskussionsbeiträge und Verbesserungsvorschläge sind in Bürokratien wie dem Geheimdienst immer willkommen. Für den schnellen Gebrauch in einer Power-Point-Präsentation in Langley oder in Fort Bragg sind die entscheidenden Argumente in Spiegel-Punkte sortiert:


„-Erwünschtes Ergebnis benennen
-Entscheidungen fällen aufgrund Kenntnis der internen Strukturen bei den Aufständischen
-HVT-Operationen mit anderen Elementen der Aufstandsbekämpfung verknüpfen usw.“

Überraschend oder gar neu daran ist nicht, dass die CIA darüber nachdenken lässt, wie nützlich es ist, ohne Rechtsgrundlage Menschen umzubringen. Sondern die Art, wie das Vorhaben camoufliert wird. Es könnte ja auch sein, wird da überlegt, dass man auf das Eliminieren der erwähnten Ziele verzichten wolle. Die CIA-Strategen sind da offen für alles, sie machen ja nur wissenschaftlich fundierte Vorschläge. Menschen kommen in diesem Papier naturgemäß nicht vor, nur Gegner, und auch die nur in Gestalt von „Zielen“ oder „Zielpersonen“. Immerhin wird den Opfern die Ehre zuteil, dass ihnen ein high value zugestanden wird, dass es sich also um hochwertige Ziele handelt, aber damit ist nur gemeint, dass den höchstrangigen Politikern und militärischen Planern, die das CIA-Papier lesen sollen, ebenso hochrangige Zielpersonen vor die Flinte geschoben werden.

Es irritiert der wissenschaftliche Jargon, zu dem auch gehört, dass (fast) alle Behauptungen durch Fußnoten und Literaturhinweise abgesichert werden. Das Papier offenbart seine besondere Brutalität in seinem um äußerste Sachlichkeit bemühten Stil. Die CIA verfügt offensichtlich über genügend historisch gebildete, wissenschaftlich geschulte Mitarbeiter, die um keinen Vergleich mit den algerischen Aufständischen des FLN oder dem von der IRA Jahrzehnte lang geführten irischen Bürgerkrieg verlegen sind.

Sie haben genug Zeit, sich eingehend mit früheren Konflikten auseinanderzusetzen, um Ratschläge für aktuelle und künftige Auseinandersetzungen zu liefern. Gestützt sowohl auf interne Papiere wie auf Forschungsliteratur wird durchdekliniert, wie erfolgreich die Aufstandsbekämpfung zum Beispiel gegen die IRA, gegen die Hamas oder al Qaida verlaufen ist, vor allem wenn sie sich des High-Value Targeting (HVT) bedienen konnte, sich also um „Operationen gegen bestimmte Einzelpersonen oder Netzwerke“ handelte.

Die sprachliche Brutalität steht in der Tradition des Behaviorismus, des Milgram-Experiments, der Auslöschungsstatistiken des Kybernetikers Herman Kahn, ein Dr. Seltsam, der im Namen strengster Sachlichkeit mit seiner Inhumanität auffiel.

Die Akademiker, denen diese Handreichung für Politik, Militär zu verdanken ist, bedienen sich niemals der Sprache der Folterknechte von Abu Ghraib oder Guantanamo, es ist nicht einmal die betonharte Argumentation des unverbesserlichen Dick Cheney, sondern Technokratie in schönster Blüte, die Möglichkeit, alles denken, alles auch sagen zu können.

Da von Töten, Ermorden, Auslöschen, Umbringen oder ähnlich schlimmen Dingen nicht gesprochen werden kann, kommen euphemistische Begriffe ins Spiel. Das Töten wird klinisch sauber, eine bloße strategische Überlegung. Dass dieser quasi chirurgische Eingriff nicht immer funktioniert, führen die Autoren selber am Beispiel des algerischen Bürgerkriegs vor, wo es den Franzosen gelang, die Häuptlinge des FLN im Flugzeug zu entführen, dafür aber radikalere Kämpfer den Bürgerkrieg gegen Frankreich fortsetzten und endlich die Unabhängigkeit Algeriens erzwangen. Die Ergreifung Abimael Guzmáns vom Sendero Luminoso wird als bestes Regierungshandeln bezeichnet, aber es wird kein Beleg dafür erbracht.

Die Studie ist historisch einigermaßen fundiert und erkennt sehr wohl, dass die gezielte Tötung von Anführern auch das Gegenteil des erwünschten Effekts haben kann, dass nämlich die Unterstützung für die Aufständischen durch gezieltes Töten eher größer wird als abzunehmen. Es finden sich auch ganz vernünftige Überlegungen wie die, dass man auf die inneren Spannungen einer aufständischen Gruppe bauen könne und sich mit den gemäßigten und eher politisch Orientierten zusammentut, um gemeinsam die Radikalen zu bekämpfen.

Auf das nächstliegende, zudem das erfolgreichste Beispiel für „strategisches Enthaupten“ haben die anonymen Autoren verzichtet. Kein Wunder, denn es würde zeigen, wie drastisch und jenseits von Recht und Gesetz die USA im Zweifel vorgehen. Im Frühjahr 1967 war es der bolivianischen Regierung gelungen, den Verbleib des ehemaligen kubanischen Industrieministers zu klären. 


Ernesto Guevara hielt sich mit einem zerlumpten Haufen in den Bergen auf und versuchte wenig erfolgreich, die Campesinos zu agitieren. Der Große Bruder im Norden wurde alsbald informiert und zu Hilfe gerufen. Unterstützt von exilkubanischen Beratern verfolgten bolivianische Soldaten den ausgezehrten Guerillero. Nach einer Verwundung war er leicht gefangen zu nehmen und wurde dann auf Weisung aus der Hauptstadt erschossen. Ganz sicher, ob man den Richtigen erwischt hatte, war man sich in Washington nicht und bat um Fingerabdrücke. Der Einfachheit halber wurden Che Guevara gleich die Hände abgehackt.

Die Mordstrategen von der CIA führen einen Inneren Dialog mit sich: Sollen wir „zielen“ und „enthaupten“? Und wenn wir uns entschlossen haben (denn natürlich können wir es): Was bringt uns das Umbringen? Als Mittel der Wahl, das zeigt nicht nur dieses Papier, sondern der selbstverständliche Einsatz von Drohnen, ist der politische Mord Tagesgeschäft.

Moralische Skrupel sind den Autoren fremd, davon haben sie zuletzt vielleicht in Yale, Harvard oder Stanford gehört, als im Literaturkurs Raskolnikow durchgenommen wurde. Selbst so neumodische Überlegungen wie das Völkerrecht oder sei’s ganz allgemein die Einhaltung der Menschenrechte haben in dieser Machbarkeitsstudie keinen Platz. Es geht allein um das „strategische Enthaupten“. Was man zählen kann, muss man zählen, hat Robert McNamara zu Zeiten des Vietnamkriegs verkündet. Hier heißt das Motto: Wenn es den Vereinigten Staaten nützt, sollte man töten, wen man töten kann.

1946, nach Stalins „Säuberungen“, nach Hitlers „Endlösung“, nach der ganzen Umwertung aller Worte, war sich George Orwell sicher, dass auch diese unter den politischen Verhältnissen der Diktatur gelitten habe, denn „die Sprache der Politik legt es darauf an, Lügen als Wahrheit und Mord als ehrenwert erscheinen zu lassen“. Aber gut, was wusste Orwell schon von den Sprachkünstlern der CIA?

Francis Ford Coppola, der Regisseur von „Apocalypse Now“, hatte übrigens 1975 das amerikanische Verteidigungsministerium aufgesucht und sich nach der Möglichkeit erkundigt, Unterstützung für seinen Film zu bekommen: Flugzeuge, Hubschrauber, Waffen. Er plane ja keinen Anti-Kriegsfilm, versicherte er, seiner sei zutiefst „pro-menschlich und deshalb pro-amerikanisch“.

Als er das Drehbuch vorlegte, wurde ihm unter anderem vom damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld beschieden, dass er keinerlei Unterstützung erwarten könne, solange er sein Drehbuch nicht umschreibe. Der Befehl an Willard könne allenfalls lauten „untersuchen und dann die entsprechenden Maßnahmen ergreifen“. So etwas wie „terminate“, nein, so etwas gebe es nicht.




Voller Empfang

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Um 14.10 Uhr kommt ein Mitarbeiter von Karsten Nohl ins Büro, er hat eine Handy-Karte bei der Telekom gekauft. Nohl, der Chef, zieht das Kärtchen aus der Originalverpackung und steckt es in ein Handy, das bereits bereitliegt, ein Samsung Galaxy S5. Neben ihm sitzt Luca Melette, 31, und starrt auf sein Linux-Notebook, während er mit der rechten Hand eine kleine Antenne im Raum bewegt. Irgendwann murmelt Melette leise: „Ich hab’ den Schlüssel.“



Das UMTS-Netz gilt als sicher. Karsten Nohl und seine Mitarbeiter zeigen, dass auch die Verschlüsselung dieses Handynetzes geknackt werden kann. 

14.26 Uhr: Das Handy piepst jetzt, es hat eine SMS empfangen. Drei Minuten später liest Melette sie vor. Er hat das Handy allerdings nicht benutzt, er hat es nicht einmal berührt. Der Hacker liest die SMS von seinem Computerbildschirm ab. Er hat die Nachricht abgehört und decodiert. Die Verschlüsselung von UMTS, dem am häufigsten verwendeten Handynetz, das man unter anderem an dem kleinen 3G-Logo am Display erkennt – sie ist nicht mehr sicher.

Was Melette und Nohl Journalisten von WDR und SZ demonstriert haben, funktioniert mit ein wenig mehr Aufwand nicht nur, um SMS abzufangen, sondern auch, um Gespräche mitzuschneiden. Im UMTS-Handynetz, dessen Verschlüsselung für Sprache und Text unter Experten bislang als sehr sicher galt, lässt sich mit der von den beiden Hackern entwickelten Methode theoretisch jeder Nutzer abhören. Unabhängig davon, über welchen Anbieter der Kunde telefoniert. Fazit des Datenschutzexperten Malte Spitz (Grüne), der bei dem Experiment dabei war: „Die Unternehmen sparen bei der Sicherheit ihrer Kunden.“Einen Tag später wiederholen die beiden Hacker den Versuch, dieses Mal ist der Bundestagsabgeordnete Thomas Jarzombek dabei. Der Politiker, der Sprecher für Digitales in der CDU/CSU-Fraktion ist, steht mit seinem Mitarbeiter vor einem Bundestagsgebäude, mitten im Regierungsviertel. Er schickt ihm eine SMS. Die stets schwarz gekleideten Hacker sitzen in Rufweite im Café Lebensart. Auf ihrem Notebook lesen sie mit einer kleinen Zeitverzögerung die SMS des Politikers mit.

In Reichweite sind auch zahlreiche Botschaften, auf deren Dächern weit größere Antennen installiert sind als das kleine Modell, das Melette an seinen Rechner angeschlossen hat. Die Hacker-Demonstration deutet an, wozu die Antennen auf den Botschaftsdächern dienen können. Mit einer ähnlichen Methode könnte das Handy der Kanzlerin abgehört worden sein.

Karsten Nohl ist Gründer und Chef der Firma Security Research Labs. Gegen Mittag schlurfen seine Mitarbeiter an ihre Schreibtische, auf Socken, um das Parkett des Dachgeschosses in Berlin-Mitte nicht zu beschädigen. Der Eindruck könnte leicht täuschen: Aber hier arbeiten ausgezeichnete Computerkenner für internationale Auftraggeber daran, Kommunikationstechnik auf Schwachstellen zu testen. Bevor Nohl die Firma gründete, promovierte er über Verschlüsselung und arbeitete ein Jahr für die Beratungsfirma McKinsey. Heute fliegt er zweimal im Monat nach Indien, um dort bei Aufbau und Sicherung von Mobilfunknetzen zu helfen.

Ob dort mehr für die Sicherheit getan wird als hierzulande? Bereits vor Wochen hat Nohl die Vereinigung der Mobilfunkanbieter, die GSM Association, über die Unsicherheit des UMTS-Netzes informiert. Und bereits seit Monaten ist bekannt, dass mit einem ähnlichen Trick der Aufenthaltsort jedes beliebigen Handybesitzers identifiziert werden kann.

Dagegen unternommen wurde bisher zu wenig. Einzig Vodafone hat an der Technik größere Verbesserungen vorgenommen. Auf Anfrage von WDR und SZ, die in dieser Sache gemeinsam recherchieren, beschleunigt auch die Telekom ihre Bemühungen, sie schreibt aber auch: „Die Maßnahmen einzelner Netzbetreiber können nur ein Pflaster sein, eine dauerhafte Lösung kann nur die gesamte Industrie entwickeln.“ Und das kann offenbar dauern.

Die Sicherheitslücke, die Nohl und Melette ausnützen, attackiert das UMTS-Netz über einen Umweg: Die Schwachstelle ist das so genannte SS7-Netz („Signalling System #7“). Über dieses Netz tauschen sich Mobilfunkunternehmen automatisiert weltweit aus. Das müssen sie, damit man zum Beispiel im Ausland telefonieren kann, SMS über Ländergrenzen zugestellt werden und sie auch zwischen verschiedenen Netzbetreibern wie Telekom oder Vodafone fließen können.

Das SS7-Netz hat noch mehr Aufgaben: Es sorgt zum Beispiel dafür, dass ein Gespräch nicht abbricht, wenn sich der Telefonierende während eines Gesprächs über längere Strecken fortbewegt. Jede Kommunikation, Gespräche und SMS, die zwei Menschen über das Handynetz laufen lassen, ist stark verschlüsselt und deshalb grundsätzlich schwer abzuhören. Damit der eine Nutzer den anderen aber versteht, hält das SS7-Netz virtuelle Schlüssel parat, um das Gespräch für seine Teilnehmer zu entschlüsseln. Das alles geschieht automatisch und in wenigen Millisekunden, sodass man beim Telefonieren oder SMS–Versenden nichts davon merkt.

Unternehmen, die zum SS7-Netz Zugang haben, können diese Kommunikationsschüssel abgreifen. Darunter sind inzwischen auch zwielichtige Konzerne und Privatpersonen, die Zugänge zu dem Netz gegen Geld untervermieten. Entsprechende Angebote gibt es im Internet. Dabei wird nicht geprüft, ob sie das Recht dazu haben oder ob ihre Anfrage überhaupt Sinn ergibt. Es bedeutet vielmehr, dass irgendwelche Unternehmen beliebige Anfragen stellen können – und meistens eine Antwort bekommen. Das ist fatal, denn Zugang zum SS7-Netz haben längst nicht mehr nur seriöse Telekommunikationsunternehmen, sondern Hunderte Firmen auf der ganzen Welt. Geheimdienste haben es noch einfacher: Sie können einfach das Telekommunikationsunternehmen ihres Vertrauens bitten, ihnen Zugang zum SS7–Netz zu gewähren.

So gelangen die Schlüssel, mit denen Handygespräche und SMS codiert werden, leicht in die falschen Hände. Wer sie hat, muss nur noch Gespräche und Textnachrichten abfangen und sie dann entschlüsseln. An diesem Punkt kommen die Antennen ins Spiel. Sie lauschen, je nach Größe in einem Umkreis von bis zu einem Kilometer, der Kommunikation im Handynetz. Antennen im Regierungsviertel könnten auf diese Art die Kommunikation von Politikern mitschneiden – zumindest von jenen, die nicht durch zusätzliche Technik speziell geschützt sind wie inzwischen die Kanzlerin. Und weil das SS7–Netz auch verrät, wo sich ein Handynutzer befindet, können die zwielichtigen Unternehmen auch das Aufspüren von Menschen als Dienstleistung verkaufen.

Was Nohl und Melette in einem Versuch gelang, dürfte für professionelle Bösewichter längst ein einträgliches Geschäft sein. Die allermeisten Schritte, die Melette auf seinem Notebook während der Demonstration händisch vornimmt, lassen sich automatisieren. Klar, die Hacker hatten während ihrer Tests zum Teil Probleme, unter anderem wegen unterschiedlicher Handymodelle oder Handynetzanbieter. Doch Nohl ist sich sicher, dass es sich dabei nur um technische Hürden handelt, die das eigentliche Problem nicht kleiner machen. „Wer wirklich abhören will, lässt sich davon nicht abhalten“, sagt der Sicherheitsexperte. Er wird den Hack ausführlich auf dem 31. Kongress des Chaos Computer Club zwischen den Jahren vorstellen.

Ältere Netze wie 2G sind bereits seit Längerem komplett geknackt, wer gerne sicher telefoniert, probiert es gerade deshalb bislang gerne mit UMTS. Jarzombek sagt: „Ich habe mein Telefon immer nur auf 3G geschaltet aus Sicherheitsgründen.“ Damit ist es jetzt wohl vorbei.

Die Publicity ist gewaltig

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Es geht hektisch zu an diesem Mittwochabend im Einkaufszentrum South Bay Galleria im Süden von Los Angeles, nur zwei Menschen scheinen kurz vor Weihnachten keinen Stress zu haben. Der eine ist Santa Claus, er verspricht den Kindern auf seinem Schoß teure Geschenke und lächelt fröhlich auf den Fotos, die Eltern für 20 Dollar kaufen sollen. Der andere ist José Herondo, der gerade ein paar Kinoplakate abhängt, auf denen Seth Rogen und James Franco in Mao-Zedong-Gedächtnispose zu sehen sind. „Der Film wird hier nicht gezeigt“, sagt Herondo mit der Ruhe eines Menschen, der Kinoplakate austauscht. Dann fügt er an: „Gott sei Dank.“



An vielen Orten in Kalifornien werden Plakate für "The Interview" wieder abgehängt.

Sie sind froh darüber in dieser Filiale des Multiplex-Betreibers AMC, dass „The Interview“ am Weihnachtstag nicht in einem oder gar in mehreren der 16 Säle laufen wird. Auch in den Geschäften nebenan ist die Erleichterung der Angestellten deutlich spürbar. Leere Läden wegen einer Klamauk-Komödie, das ist für sie eine schreckliche Vorstellung. Offiziell sind sie alle besorgt um das Wohlbefinden der Kunden, schließlich klingen die Drohungen der Hackergruppe „Guardians of Peace“ durchaus gefährlich. „Um die Sicherheit unserer Besucher zu gewährleisten, haben wir beschlossen, unser Programm ohne diesen Film zu gestalten“, heißt es in einer Mitteilung von AMC. Natürlich fürchten sie auch um die Einnahmen, die kommenden beiden Wochen gelten als überaus lukrativ für Kinobesitzer in den USA. „Wir haben Angst, dass die Leute überhaupt nicht ins Kino gehen“, sagt die Managerin einer Produktionsfirma, die ihren Namen aufgrund der heiklen Debatte nicht in der Zeitung lesen will: „Es wäre desaströs fürs Geschäft, wenn die Menschen daheim bleiben würden. Den Film nicht zu zeigen, ist definitiv das kleinere Übel.“ Heißt übersetzt: Lieber soll Sony die 70 Millionen Dollar Produktions- und Marketingkosten als Verlust verbuchen, als dass die komplette Industrie leiden muss. Im vergangenen Jahr wurden allein im Dezember etwa eine Milliarde Dollar an nordamerikanischen Kinokassen umgesetzt.

Die Debatte um den Film klang bis vor wenigen Tagen wie ein typischer Seth-Rogen-Film: Da will einer mit seinem besten Kumpel einen lustigen Film über die Ermordung eines amtierenden Diktators drehen, plötzlich gibt es eine Cyberattacke und politische Verwicklungen, die nicht einmal Dennis Rodman lösen kann, ehemals Basketballspieler und mittlerweile Kim Jong Uns Freund fürs Leben. Ähnlich lapidar waren die Kommentare von Rogen. Vor einer Woche bedankte er sich bei einer Vorführung des Films im United Artists Theater in Downtown Los Angeles bei Sony-Chefin Amy Pascal dafür, „dass sie die Eier hatte, diesen Film zu machen.“ Kurz darauf erklärte er, dass die Nordkoreaner den Film sehen sollten: „Das sind ja keine schlechten Menschen. Ein Teil von mir glaubt, dass sie den Film wirklich mögen würden.“ Er wirkte wie jemand, der nicht gerade traurig ist über die gewaltige Publicity.

Der Ton ist nun deutlich schärfer geworden, nicht nur wegen der Ankündigung von Sony, „The Interview“ weder im Kino zu zeigen noch eine Veröffentlichung auf DVD oder bei einem Streamingportal zu planen. New Regency hat die Produktion des Thrillers „Pyongyang“ von Regisseur Gore Verbinski gestoppt, in dem Steve Carell einen Mann verkörpern sollte, dem wie in der Graphic-Novel-Vorlage von Guy Delisle in Nordkorea Spionage vorgeworfen wird.

In Hollywood fürchten sie um die künstlerische Freiheit, man müsse sich gegen Zensur und Drohungen von Terroristen wehren und für die in der amerikanischen Verfassung garantierten Rechte eintreten. „Sie laden andere Leute dazu ein, ebenfalls Drohungen auszusprechen“, sagt der Regisseur Judd Apatow: „Was machen sie, wenn jemand das Gleiche über einen James-Bond-Film sagt?“ Sein Kollege Aaron Sorkin ergänzt: „Heute haben sich die USA einem beispiellosen Angriff auf die Meinungsfreiheit durch nordkoreanische Terroristen gebeugt, die gedroht haben, Kinobesucher zu töten – nur um die Veröffentlichung eines Films zu verhindern. Die Wünsche der Terroristen wurden erfüllt.“

Zahlreiche Schauspieler wie etwa Ben Stiller, Zach Braff und Damon Wayans äußern sich kritisch auf Twitter, Rob Lowe schreibt gar, dass Hollywood mit dem Verzicht auf eine Veröffentlichung „Neville Chamberlain stolz gemacht hat“. Er habe Rogen gerade auf dem Flughafen von New York getroffen: „Wir beide haben so etwas noch nicht gesehen oder gehört.“ Der Filmemacher Michael Moore ist einer der wenigen, die humoristisch reagieren: „Liebe Sony-Hacker, da euch jetzt Hollywood gehört: Ich hätte gerne weniger Liebeskomödien, weniger Michael-Bay-Filme und keine Transformers mehr.“

José Herondo ist das alles ziemlich egal, er will seine Ruhe haben. In dem Fenster, in dem noch vor wenigen Minuten „The Interview“ beworben wurde, hängt nun ein Plakat mit vier süßen und knuffigen Pinguinen.

Kommentar: Eine Reform wider den Egoismus

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Allein der Begriff kennzeichnet den Irrsinn: Kooperationsverbot. So lautet die Regel, die Union und SPD bei der Föderalismusreform 2006 ins Grundgesetz geschrieben haben. Bund und Länder dürfen in der Bildung nicht dauerhaft zusammenarbeiten. Als ob man ein besseres Ergebnis erzielt, wenn man nicht zusammenarbeitet. Die Länder wollten die Bildung als ihr Revier abstecken, der Bund sollte sich raushalten, so die Logik. Es ist eine machtversessene Logik. Die Regel hat Wissenschaftlern, Studenten und Schülern einigen Schaden bereitet. An diesem Freitag soll sie gelockert werden, die Änderung des Grundgesetzes liegt im Bundesrat – und wird dort aller Voraussicht nach angenommen. Endlich.



Bildungsministerin Johanna Wanka will das Kooperationsverbot abschaffen. Wahrscheinlich werden ihre Reformvorschläge im Bundestag eine Mehrheit erhalten.

Der Bund darf dann Institute und ganze Hochschulen dauerhaft fördern. Dies wird das Arbeiten dort verändern. Bisher war es geprägt von befristeten Hilfsprogrammen des Bundes. Planung geriet damit vielerorts zur Groteske: Erst wurden mit Geld aus Berlin Stellen geschaffen, Forscher aufgebaut, Geräte gekauft, dann musste man alles wieder aufgeben. Eine kontinuierliche Wissenschaft ist so nicht möglich. Der Staat hat die Hochschulen mit Unsicherheit überzogen. Nach der Reform kann sich der Bund dauerhaft engagieren.

Einen Teil seiner Milliarden wird er in ausgesuchte Einrichtungen stecken. Dies wird die Hochschullandschaft im Ganzen verändern. Einzelne Hochschulen werden so mit Bundesgeld veredelt, Institute herausgehoben wie strahlende Sieger. Bildungsministerin Johanna Wanka kann die Deutschlandkarte dann mit Fähnchen spicken für jede geförderte Uni. Dass die Auswahl nicht nur nach Leistung geschieht, ist bereits klar: Alle Bundesländer müssen allen Hilfen für eine Hochschule zustimmen, damit ja keiner zu kurz kommt. Die Fähnchen werden also breit gestreut sein.

Dennoch fehlt es der Reform an Breite, denn Bund und Länder haben eine zentrale Zone der Bildung ausgespart: die Schulen. Ausgerechnet hier bleibt der Bund ausgesperrt. Obwohl die Aufgaben besonders dringlich sind. Hunderttausende Kinder müssen in Deutsch gefördert, Schüler mit Behinderung in reguläre Klassen aufgenommen und das Angebot an Ganztagsschulen ausgebaut werden. Hinzu kommt die Integration Zehntausender Flüchtlingskinder in den Schulen. An allen Stellen fehlen Geld, durchdachte Konzepte und bundesweite Standards. Und an all diesen Stellen könnte der Bund dank seiner größeren Finanzkraft helfen – doch er darf es auch künftig nicht. Ohne die Hilfe aus Berlin werden die klammen Länder sich den Zielen nur im Schleichtempo nähern.

Dabei würde es sich an Schulen besonders lohnen, Geld in die Hand zu nehmen: Schwächen behebt man am besten früh, fehlerhaftes Deutsch kann Kindern jahrelang zu schaffen machen und einen Aufstieg verhindern. Dennoch wehren sich Länder wie Bayern und Sachsen stur gegen Hilfsmöglichkeiten des Bundes. Vordergründig geht es ihnen um bürgernahe Schulpolitik und ein Veto gegen Bildungszentralismus. Tatsächlich aber fahren sie gut mit dem System, wie es jetzt ist: Beide stehen in bundesweiten Leistungstests gut da und haben mehr Geld als Hungerleider wie Bremen oder Sachsen-Anhalt. Es ist ein egoistisches Motiv.

Gut möglich, dass die wachsende Not vieler Länder diese Front der Ablehnung bröckeln lässt und dem Bund bald Hilfen für Schulen ermöglicht. Das wäre gut, denn der Bund könnte endlich das einfordern, was viele Bürger längst fordern: mehr Einheitlichkeit. Im jetzigen System überfordert der Wechsel in ein anderes Bundesland viele Schüler und Eltern; welches Fach wann mit welchen Anforderungen unterrichtet wird ist zu unterschiedlich. Hier ist mehr Kooperation notwendig statt eines irrsinnigen Verbots.

Tagesblog am 19. Dezember 2014

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12:15 Uhr: Wir haben vor kurzem in unserer Konferenz überlegt, worüber dieses Jahr besonders viel diskutiert wurde. Dabei ist uns aufgefallen, dass vor allem in den USA Debatten um Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen an Unis dieses Jahr enormes Tempo aufgenommen hat. Weil man da aber schnell den Überblick verliert, hat Franziska die Ereignisse sortiert.




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11:14 Uhr:
Gewalt ist keine Lösung. Bildgewalt schon. Das sieht man, wenn man sich diese Sammlung von "Bildern des Jahres" ansieht, die bei Mashable zusammengestellt wurden. Zeitweise bekommt man da zwar das Gefühl, die Welt hätte 2014 nur aus Vulkanausbrüchen und Konflikten bestanden. Aber das tolle an den Bildern ist, wie gut darin besondere Momente auf die Sekunde genau eingefangen sind.

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10:41 Uhr:
Wir sind traurig. Sehr traurig.
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Und ihr müsst jetzt auch sehr stark sein. Denn Christina verlässt uns zum Jahreswechsel, und heute ist ihr letzter Arbeitstag bei jetzt.de. Nach 10 Jahren. In Worten: ZEHN! Wir vermissen sie jetzt schon. Zum Abschied haben wir ihr einen Tumblr-Blog geschenkt: das C-Archiv. Damit sie ihre Bestimmung als Archivarin des lustigen und klugen Teils des Internets angemessen erfüllen kann.

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9:59 Uhr:
Wer sich darüber beklagt, dass so wenig Schnee liegt und man deswegen nicht Skifahren gehen könne, möge sich kurz diese 15 Sekunden Video ansehen. Und ich nehme jetzt mal den Sessellift in Richtung Konferenz...

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9:52 Uhr:
Und dann hätte ich da mal eine Frage. Dieser Text hier war gestern einer der am meisten geteilten auf dem Facebook-Account von den Kollegen von süddeutsche.de. Kurzzusammenfassung: Typ will mit Freundin Weltreise machen. Sie buchen, sie trennen sich und wollen nicht mehr miteinander fahren. Damit das Ticket nicht verfällt, sucht er jetzt eine neue Reisepartnerin. Die muss exakt denselben Namen haben und einen kanadischen Pass. Jetzt hat er sie gefunden.

Würdet ihr mit einem gänzlich fremden den Planeten umrunden?

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9:20 Uhr:
Guten Morgen! Mann, hab ich lange keinen Tagesblog mehr geschrieben. Wie fängt man da gleich wieder an? Zum Beispiel mit Geschenken. Im Adventskalender. Bitteschön!



Menschen, Tiere, Redaktionen

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Es ist nur eine Nebensächlichkeit, von der auf dieser kleinen Tafel erzählt wird, aber was für eine: Vor einiger Zeit wäre ein beachtliches Stück deutscher Geschichte fast ersoffen, in einem Swimmingpool in der Türkei. Dort verbrachte die Familie Diekmann einen Urlaub, auf einmal flutschte das Blackberry von Papa Kai ins Wasser und mit ihm jene Speicherkarte und damit jene Nachricht, an die man noch heute denken muss, wenn einem irgendwo die Begriffe „Emir“ oder „Rubikon“ begegnen. Das Handy jedenfalls wurde geborgen, ein Computertechniker hebelte es auf, um die Karte zu retten, und nun liegt es da, zerbeult, in einer Vitrine im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Die zugehörige Ausstellung heißt „Unter Druck! Medien und Politik“, und wenn alle drei Substantive in jüngster Zeit in beeindruckender Weise zusammengefunden haben, dann wohl in diesem Anruf des Bundespräsidenten Christian Wulff, der gerade nicht nur auf dem Weg zum Emir war, sondern auch auf dem zum Zusatz „a.D.“.



Die Affäre Wulff und das Handy von Kai Diekmann mit der verhängnisvollen Mailbox-Nachricht sind die Schmückstücke der Ausstellung.


Wulffs Grußwort auf der Mailbox des Chefredakteurs der Bild-Zeitung ist der Star dieser Ausstellung. Es ist eine halbverbotene Freude, sich in diesen Moment der Geschichte einzuklinken. Man hört das Rauschen im Hintergrund, die überraschend ruhige Tonlage Wulffs, das filmszenenreife, lakonische Ende: „Danke schön. Wiederhören, Herr Diekmann.“ Geht einen natürlich nicht so richtig viel an. Ist dennoch: herrlich. Und wer sich noch an den alten Spruch von der Bild-Zeitung als Paternoster-Zeitung erinnert, bei der man mit Betreten des Aufzugs nach oben stets auch das Ticket für die Rückfahrt löst, der muss ein letztes Mal schmunzeln, wenn er am Ende den Kopfhörer wieder absetzt. Er ist von der Marke „Lift“.

Wer sich von Neugier, auch niederer, leiten lässt, der kann eine Menge Freude haben in dieser Ausstellung in Leipzig. Es wurde dort viel Hausrat zusammengefahren, die Vitrinen wirken teilweise wie Trophäenschränke. In einem dieser lagert ein zweites Handy, jenes der Bundeskanzlerin, ein Siemens S55, in Gebrauch bis 2005. Daneben steht nur das Nötigste, nämlich ein Zitat von Angela Merkel: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“ Komplettiert wird der NSA-Komplex mit dem MacBook Pro des Spiegel-Redakteurs Marcel Rosenbach. Mit dem habe er zu den Praktiken des Geheimdienstes recherchiert, heißt es im Beitext einen Hauch zu salbungsvoll. Auch bei Rosenbachs Laptop aber obsiegt am Ende die Nebensächlichkeit – in Gestalt des Fetzens eines Post-it-Zettels, mit dem Rosenbach die Kamera abgeklebt hatte. Ausspähen von Journalisten, das geht gar nicht.

So geht es fort. Sehen Sie noch einmal: das Jackett des Journalisten und Schauspielers Günter Wallraff aus seinem großen Erfolg „Der Mann, der bei Bild Hans Esser war“. Ein Sonntagabend-Kostüm der Designerin „Bettina Schoenbach Hamburg“, aus der Zeit, in der Günther Jauch noch Sabine Christiansen hieß. Sowie ein Plakat aus einer noch ferneren Zeit, in der es noch keine GEZ-Wut auf den „Staatsfunk“ gab. Ein Junge hält darauf lächelnd zwei Deutsche Mark und bittet: „Zahl die kleine Funkgebühr / Hör die große Welt dafür“.

Spannender gerät die Ausstellung dort, wo sie keine dieser gewiss anschaulichen Zirkusnummern aufführt, wo sie stattdessen versucht, Zusammenhänge und Verläufe sichtbar zu machen. „Florida-Rolf“ lächelt noch einmal von der Titelseite, seinerzeit zum Vorzeige-Schmarotzer stilisiert: „ER lacht uns alle aus!“ Die Zeile verpufft, schaut man auf die Zahlen darunter, sie stammen aus dem Jahr 2002. 25Milliarden Euro Sozialhilfe zahlte der Staat damals aus, 4,3 Millionen Euro davon ins Ausland. Macht 0,017 Prozent. An solche Zusammenhänge darf sich erinnern, wer gerade von goldenen Armaturen in Flüchtlingsunterkünften träumt oder sich von anderswie unruhigem Schlaf geplagt fühlt.

Einfache Idee, große Wirkung, das gilt auch für die besonders verblüffende mediale und politische Karriere des KTG. In einem Rondell aus Titelseiten lässt sich der Weg Karl-Theodor zu Guttenbergs nachvollziehen, der als „Der coole Baron“ begann und dem irgendwann nicht viel mehr blieb als „Die verlorene Ehre“. Wirklich alles ist eitel. Und fast schon gehässig stapelt sich nebenan eine Auswahl von 21Büchern, aus denen der Baron auf seinem Weg zum zwischenzeitlichen Doktor abgeschrieben hatte.

Die Ausstellung belehrt nicht, sie lässt jedem seine Sicht. Wer unter Journalismus die kritische wie notwendige Begleitung und Kontrolle von Politik versteht, dem wird dies genauso wenig ausgeredet wie anderen eine gegenläufige Wahrnehmung. „Unter Druck!“, das bedeutet aber nicht nur den Rücktritt von Politikern oder von Journalisten aufgedeckte Skandale. Es bedeutet auch, in nicht unerheblicher Weise: Hundefutter. Drei Dosen „Rocco classic“ stehen im Zeitgeschichtlichen Forum, daneben eine Packung tazpresso und eine Flasche Rotwein. Es geht um die Nebengeschäfte großer Verlagshäuser und deren Versuch, sich auch darüber zu finanzieren. In den hinteren Räumen der Ausstellung wird es gefühlt denn auch ein paar Grad kälter, zu sehen ist etwa ein bislang unbeantwortetes Transparent, mit dem Redakteure der Financial Times Deutschland deren Sterben begleitet hatten. Weiß auf schwarz ist da zu lesen: „Unabhängiger Journalismus kostet Geld! Aber wer zahlt?“ Eine Frage wie ein Palliativum.

Die Ausstellung (noch bis zum 9.August) gibt darauf natürlich keine Antwort, wie könnte sie? Verlässt man sie, wünscht man sich dennoch, dass es nach dem letzten noch einen allerletzten Raum gäbe. Einen, der die Reise vom Volksempfänger bis zu den Youtube-Kommentaren der Nutzer „Leck mich“ und „XX 76536“ fortschreibt, in eine wie auch immer gestaltete Zukunft. Die Ausstellung aber endet im Heute, jede Sekunde wieder, mit drei Bildschirmen, auf denen n-tv läuft. Für das Sicherheitspersonal ist das ein geht-so-interessanter Pausenfüller, für die nach Bezahlmodellen fahndende Branche nicht einmal eine Anregung. Wer zahlt? Die Frage werden in jeglicher Hinsicht andere beantworten müssen. Der Eintritt in Leipzig, er ist frei.

Kinder an den Waffen

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Die Aufmerksamkeit der westlichen Welt ist längst weitergezogen, doch der Krieg in der Zentralafrikanischen Republik ist es nicht. Trotz einer Übergangsregierung, einem Waffenstillstandsabkommen und fast 8000 UN-Soldaten im Land flammt die Gewalt immer wieder auf. Zuletzt am Dienstag, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtet: 28 Menschen fielen demnach neuen Kämpfen zwischen christlichen und muslimischen Milizen zum Opfer. Die Zusammenstöße ereigneten sich etwa 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bangui.



In der Zentralafrikanischen Republik herrscht Krieg. Bewaffnete Gruppen sollen bis zu 10000 Kinder und Jugendliche rekrutiert haben.

Nun berichtet die Hilfsorganisation Save the Children von einem Phänomen, das bislang vor allem aus Bürgerkriegen in Westafrika bekannt war: Kindersoldaten. Bis zu 10000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sollen bewaffnete Gruppen in der Zentralafrikanischen Republik rekrutiert haben, schätzt die Organisation. Sie kämpfen, spionieren, werden als Träger eingesetzt oder für Sex missbraucht. Kinder in den Reihen bewaffneter Gruppen sind kein Novum in dem Land, das seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich eine brutale Diktatur, mehrere Putsche und Aufstände erlebt hat. Doch seit Beginn des aktuellen Konflikts hat sich die Zahl der Kindersoldaten vervierfacht, so die Autoren des Save-the-Children-Berichts.

7500 neue Kindersoldaten innerhalb von zwei Jahren: Die Zahl lässt ahnen, was Krieg mit einer Bevölkerung macht. Dem Bericht zufolge werden nicht alle Kinder gewaltsam in die Gruppen gezwungen. Manche suchen schlicht Schutz vor der allgegenwärtigen Gewalt, einen Ort, wo sie mit Essen und Kleidung versorgt werden. Andere werden auf Druck ihrer Eltern zu Kämpfern – um „die Gemeinschaft zu schützen oder um Menschenrechtsverletzungen und andere Gewaltakte zu rächen“, wie es in dem Report heißt.

Dieser verheerende Krieg begann vor ziemlich genau zwei Jahren, mit dem Aufstand der mehrheitlich muslimischen Séléka-Milizen gegen die Zentralregierung unter Präsident François Bozizé. Die Séléka-Rebellen sind keine neue politische Kraft in Zentralafrika: Sie bekämpften Bozizé bereits 2003, als dieser sich gerade an die Macht geputscht hatte. Im März 2013 stürzten sie den Präsidenten, einige Monate später ließ sich ihr Anführer Michel Djotodia zum neuen Staatsoberhaupt ausrufen. Doch die brutale Eroberung der Hauptstadt durch Djotodias Kämpfer stieß auf Widerstand: Unter dem Label Anti-Balaka formierten sich vorrangig christliche Gruppen, um die Rebellen zu bekämpfen. In und um Bangui begann eine Hetzjagd auf Muslime, die pauschal der Séléka-Mitgliedschaft verdächtigt wurden. Die Fernsehbilder aus diesen Tagen sind schwer aus dem Kopf zu kriegen: Pick-ups voller panisch fliehender Muslime, Tote auf den Straßen mit abgetrennten Gliedmaßen. Wie viele Menschen bislang in dem Konflikt umkamen, weiß keiner genau; Experten und Beobachter gehen von 5000 bis 10000 Toten aus. Hinzu kommt ein gewaltiger Flüchtlingsstrom, der das Land und seine Nachbarn gefährlich nahe an die Belastbarkeitsgrenze bringt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind fast eine Million Zentralafrikaner Flüchtlinge im eigenen Land – bei einer Einwohnerzahl von knapp fünf Millionen.

Internationale Truppen, seit Kurzem unter UN-Kommando, versuchen seit Herbst 2013, die Gewalt zu stoppen – mit begrenztem Erfolg. Auch die neue Übergangspräsidentin Catherine Samba-Panza, die die Führung nach dem Rücktritt von Djotodia übernahm, hat die Hoffnung auf einen Neuanfang bisher nicht erfüllen können. Und so geht es weiter mit der Gewalt, den Kindersoldaten, den Toten. Hinter den religiösen Konflikten steht häufig der Kampf um Macht und wirtschaftliche Ressourcen. Denn in einem Land, wo der Staat keinerlei Kontrolle hat und den Menschen wenig bieten kann, werden viele Bedürfnisse mit Gewalt befriedigt. Immerhin: Straflos sollen die Täter nicht davonkommen. Im September verkündete die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, dass sie offiziell in der Zentralafrikanischen Republik ermitteln werde – sowohl gegen die Séléka als auch gegen die Anti-Balaka. Beide Gruppen stünden im Verdacht, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.

Das Jahr der Vergewaltigungsdebatten

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Emma Sulkowicz trägt die Matratze mit sich, auf der sie ihren Angaben nach von einem Kommilitonen vergewaltigt wurde.

Wenn man zurückdenkt an das Jahr und seine Debatten, fällt etwas auf: 2014 wurde sehr viel mehr als sonst über sexuelle Übergriffe diskutiert . Vor allem in den USA, und vor allem, weil dort wieder und wieder Fälle sexueller Gewalt an Unis an die Öffentlichkeit kamen, landesweite Resonanz fanden und sogar die Gesetzgeber zum Handeln brachten. Um da den Überblick zu behalten, haben wir die Ereignisse noch mal chronologisch geordnet.

Januar

  • In den USA protestieren immer mehr Studentinnen gegen sexuelle Gewalt an Universitäten. Präsident Obama beruft einen Spezialausschuss ein, der Verbesserungsmöglichkeiten ausarbeiten soll. Die Vorschläge des Ausschusses umfassen den Ausbau von Präventionsprogrammen und das Veröffentlichen der Vorfälle durch die Universitäten. Immer mehr Fälle von Vergewaltigungen oder sexueller Nötigung im universitären Umfeld werden bekannt.

März


  • Im März wird eine Großstudie der EU-Grundrechte-Agentur (FRA) zu Gewalt gegen Frauen in Europa veröffentlicht. Das Ergebnis der Studie: 33 Prozent der Frauen in der ganzen EU gaben an, schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren zu habe. In Deutschland waren es 35 Prozent der Befragten. Die meisten Vorfälle ereignen sich demnach zu Hause und am Arbeitsplatz.

April


  • „Not-All-Man“ heißt ein ironischer Comic von Matt Lubchansky, der im April erscheint und vor allem bei (Internet-)Feministinnen viel Zuspruch findet. Der Held Not-All-Man, „der Verteidiger der Verteidigten, Beschützer der Beschützten, die Stimme der Stimmgewaltigen“, kommt allen zu Unrecht beschuldigten Männern mit einem Hinweis zu Hilfe: Man muss schon differenzieren - nicht alle Männer sind Vergewaltiger.

Mai


  • Der 22-jährige Elliot Rodger tötet am 23. Mai 2014 in Santa Barbara sechs Menschen, verletzt 13 weitere und bringt sich danach um. Hintergrund des Amoklaufs ist sein aus sexueller Zurückweisung gewachsener Hass auf Frauen, den er in einem 140-seitigen Manifest und mehreren YouTube-Videos vor seiner Tat dargelegt hat. Vor allem in den USA und Großbritannien bricht daraufhin eine Debatte über Frauenhass und Sexismus aus. Unter dem Hashtag #YesAllWomen– nicht alle Männer tun es, aber es kann alle Frauen treffen - berichten Frauen von ihren Erfahrungen mit sexueller Gewalt im Alltag.

Juni


  • Ein Zeichen für die gestiegene Sensibilität in Bezug auf sexuelle Gewalt gegen Frauen: Am 19. Juni 2014 wird American-Apparel-Chef Dov Charney gefeuert,  weil gegen ihn zum wiederholten Mal Ermittlungen wegen sexueller Belästigung aufgenommen wurden.

September
Gegen Ende des Jahres wird in den USA verstärkt darüber diskutiert, wie mit Vergewaltigungsvorwürfen umgegangen werden soll - sowohl an Universitäten als auch generell. Angeheizt wird die Debatte durch mehrere prominente Fälle von sexueller Gewalt.


  • Die Studentin Emma Sulkowicz erreicht große mediale Aufmerksamkeit. Sie trägt die Matratze mit sich, auf der sie ihren Angaben nach von einem Kommilitonen vergewaltigt wurde, auf dem Campus der Columbia University. Solange der Täter noch nicht bestraft wurde, will sie ihre Aktion mit dem Titel „Carry that weight“ fortsetzen. Andere schließen sich ihrer Aktion an.

  • Ein Resultat dieser Proteste: In Kalifornien wird das „Yes means yes“- Gesetz verabschiedet. Es besagt, dass Studenten an staatlichen Universitäten dem Sex eindeutig, also durch ein „Ja“, ein Nicken oder durch Näherkommen, zustimmen müssen - bisher wurde fehlender Widerstand bereits als Zustimmung gedeutet. Die Regierung will damit gegen sexuelle Gewalt an Universitäten vorgehen.

  • Am 30. September 2014 veröffentlicht Lena Dunham ihr autobiographisches Buch „Not that kind of girl“. Darin beschreibt sie, wie sie als 19-Jährige von einem Mitstudenten sexuell missbraucht wurde. 

Oktober

  • Verbale sexuelle Belästigung steht aufgrund eines YouTube-Videos im Fokus der Medien. Ein Video zeigt Shoshana Roberts, die zehn Stunden durch die Straßen New Yorks geht und dabei mehr als 100 Mal in Form von Sprüchen sexuell belästigt wird. Das Video wird auf YouTube über 38 Millionen mal angeklickt. Mehrere Folgeclips zeigen ähnliche Versuche in anderen Städten. In Auckland, Neuseeland wird Model Nicola Simpson innerhalb von zehn Stunden nur zwei Mal von einem Mann angesprochen, wobei einer der beiden sie lediglich nach dem Weg fragt.

  • Sängerin Kesha zeigt ihren Produzenten Lukasz Gottwald (Dr. Luke) wegen jahrelangen sexuellen Missbrauchs an.

November


  • Ein Artikel des „Rolling Stone“ ruft im November weitere Kontroversen hervor. Er handelt von „Jackie“, einer Studentin der Universität von Virginia, die angibt, auf der Party einer Studentenverbindung von sieben ihrer Kommilitonen brutal vergewaltigt worden zu sein. Nach der Veröffentlichung des Artikels kommen Zweifel an Jackies Glaubwürdigkeit auf. Recherchen der „Washington Post“ und anderer Zeitungen stellen heraus, dass ihre Schilderungen Widersprüche enthalten.

  • Außerdem werden seit November Vorwürfe gegen US-Fernsehstar Bill Cosby publik. Er soll mehrere Frauen vergewaltigt oder sexuell missbraucht haben.

Dezember


Mädchen, warum tragt ihr die Haare nie offen?

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Die Jungsfrage:




Liebe Mädchen,
 
heute geht es um eine Beobachtung, die empirisch auch nicht ein bisschen belegt ist, mir aber gefühlt absolut valide erscheint. Ihr tragt die Haare momentan entweder kurz – oder zusammengebunden. Letzteres dann schon auch variantenreich in Dutt, Pferdeschwanz, geflochten oder Hochsteck-Irgendwas. Aber offen gibt es fast nie.

Offenes, wallendes Haar ist eher nur noch etwas für den Kosmos roter Teppich. Zu Abendroben und Gucci-Kleidchen. Wir finden das offengestanden (!) ein kleinwenig schade. Ihr seht schließlich meistens sehr gut aus, wenn eure Mähnen das Gesicht rahmen. Wenn sie euch über die Schultern fallen oder beim Laufen ein bisschen wehen. Wenn ihr reingreifen und drin rumstrubbeln könnt. Dann besonders.
 
Ihr seht dann, eh klar, weniger streng aus. Aber es geht noch drüber hinaus. Euer Gesicht, eigentlich sogar euer ganzes Wesen, wirken plötzlich weniger zurückgebunden, einladender auf eine überhaupt nicht billige Art. Offen eben. Wir sehen das gerne. Hin und wieder jedenfalls.
 
Deshalb fragen wir uns und hiermit auch euch: Warum tragt ihr die Haare nicht öfter offen? Weil ihr genau so nicht wirken wollt – einladend? Oder nur ganz gezielt, als Effekt und auch nur für bestimmte Personen? Wenn der Haargummi aufgeht und die Strähnen fluten, dann ist das ein Anblick, den sich Einzelne erstmal verdienen müssen? Fühlt ihr euch ein bisschen angreifbarer, wenn die Haare offen sind? Oder hat es ganz praktische Gründe – sind immer im Weg, bleibt man überall mit hängen und sehen tut man auch ständig nix? Aber wenn sie euch wirklich so nerven würden, könntet ihr sie ja auch gleich ganz abschneiden, das kann's also nicht sein. Öffnet euch da doch mal schnell.

Auf der nächsten Seite liest du die Mädchenantwort von christina-waechter.
[seitenumbruch]Die Mädchenantwort:
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Während ich deine Frage lese, zuppel ich an meinem zusammengeschwurbelten Haarnest herum, das an 359 Tagen im Jahr unmotiviert in meinem Nacken hängt. Darin befindlich: ein guter halber Meter rotblondbraune Haare, gar nicht mal so schlechter Qualität und ganz ohne splissige Enden. Also durchaus vorzeigbar. Und trotzdem trage ich sie immer in einem unansehnlichen Knödel versteckt.

Und ich bin in meinem näheren und ferneren Umfeld beileibe nicht die einzige, die so einen Haaarwuschel im Nacken trägt. Warum? Tja...


Der wichtigste Grund: Es ist einfach sehr, sehr, SEHR, sehr praktisch, am Morgen schnell vor dem Duschen die Haare zusammenwuscheln, damit sie nicht nass werden. Dann anziehen, fertig. Wenn’s mal schnell gehen muss, wie ja eigentlich immer.


Der zweitwichtigste Grund: Meine Haare sind aus dem Weg. Ich klemme sie mir nicht zwischen Rücken und Stuhllehne, unter den Achseln, im Rucksack ein. Sie hängen nicht ins Essen und sie nerven mich nicht abgesehen von dieser einen widerspenstigen Strähne, die mir immer aus dem Gummiband heraus fällt und dann saublöd in meinem Sichtfeld herumbaumelt.


Der dritte Grund sind all die Möglichkeiten, die in diesem Haarbommel schlummern. Ich habe meine langen Haare nämlich ungefähr aus demselben Grund, warum bei mir tief im Schrank auch ein kurzes Kleid liegt und im Schuhschrank ein paar hochhackige Schuhe stehen: Weil ich sie anziehen könnte. Wenn sich einmal die Gelegenheit ergäbe und es angemessen wäre, zur Abwechslung mal nicht in Jeans und Turnschuhen, sondern eben in Kleid und Stöckelschuhen zu erscheinen. Nur: Man kann heutzutage fast überall mit Jeans und Turnschuhen erscheinen.


Meine langen Haare sind Turnschuhe und Stöckelschuhe zugleich. Was man nämlich alles mit ihnen anstellen könnte. Flechtkunstwerke à la Timoschenko! Atemberaubende Hochsteckfrisuren! Lockengebirge! Bloggerinnen-Bommel! Sollte ihr in einer ruhigen Minute gar nichts vorhaben, könnt ihr mal bei Pinterest vorbeischauen und euch die hunderttausend „super simplen“ Frisurenideen für langes Haar anschauen. Haha, genau. Super simpel! Wenn man sehr flexible Arme, Glätteisen, Haarspray, Haarwachs, Schaum, Dings, Bums und ungefähr drei Stunden Zeit hat.


Viertens und peinlich: Lange Haare sind sehr viel billiger als kurze. Mit langen kann ich es mir nämlich leisten, jahrelang den Friseurgang zu meiden. Mit kurzen dagegen sollte man mindestens alle zwei Monate zum Nachschneiden gehen, sonst sieht’s schnell komisch aus.


Fünftens und ziemlich idiotisch: Für mich sind meine langen Haare auch ein bisschen Beweis meiner Weiblichkeit. Obwohl ich sonst recht burschikos daherkomme, habe ich Angst vor dem Kurzhaarschnitt als Haarknubbel-Alternative. Es hat viel mit einer Grundschul-Traumatisierung zu tun, als ich – mit von Mutter im Bad verpassten Kurzhaarschnitt – mehrere Monate von Fremden für einen Jungen gehalten wurde und irgendwann nur noch aufs Jungsklo gegangen bin, damit ich nicht mehr des Mädchenklos verwiesen wurde.


Aber jetzt, wo ich die Gründe fein säuberlich aufgelistet habe, stelle ich fest: Ich muss wirklich dringend einen Termin beim Friseur machen. Kennt jemand einen in München, der gut Kurzhaarfrisuren kann?



Survival-Guide: Familienweihnachten

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Es ist Weihnachten. An keinem anderen Fest verbringt man so viel Zeit mit der Familie und alten Freunden. Das ist manchmal schön und meistens anstrengend. Wir haben deswegen ein paar sonnige Worte für dich zusammengestellt, mit der du jede Situation retten kannst - egal ob Onkel Ede betrunken über seine Ehefrau lästert oder Pfarrer Lunsen wissen will, wie du seine Predigt fandest.



Mit der Familienkonversations-Fibel läuft die nächste Unterhaltung mit deiner ungeliebten Cousine vielleicht sogar ohne unangenehmes Schweigen ab.

1. Was ist guter Gesprächstoff für die Unterhaltung mit deiner seltsamen Cousine, mit der du immer noch an der "Kinderecke" des Familientischs sitzen musst? Und für eine Unterhaltung mit ihrem noch komischeren neuen Freund (17 Jahre älter als sie)?

Unbedingt an Serien halten. Und dabei eher von oben nach unten arbeiten, bis es eine Übereinstimmung gibt: Silicon Valley, Fargo, True Detective, Mad Men, Sopranos, Sons of Anarchy, Breaking Bad, Homeland, How I Met Your Mother, Friends, King of Queens, Roseanne, Tatort, Alarm für Cobra 11.

Dabei unbedingt immer das Wort „wir“ benutzen: „Wir haben jetzt mit True Detective angefangen. Kennt ihr das?“

Lass dir von ihrem letzten gemeinsamen Urlaub erzählen und ganz viele Bilder zeigen. Sag ab und an „Maaann, das ist ja echt schön, habt ihr davon noch die Adresse?“

Lass dir alle 250 Bilder ihres süßen Schnuffelhasen/Katze/Kind zeigen, die sie auf ihrem Handy hat.

Teilt eure Kindheitserinnerungen von den gemeinsamen Ferien bei eurer Oma. Wie ihr euch nach dem Mittagessen immer eine Kindersendung im Fernsehen anschauen durftet...

2. Was sagst du zu alten Schulfreunden, die du in der Kneipe triffst?

„Bevor wir über irgendwas anderes reden: Erstmal Prost!“

Mit denen kann man gut über konservative Lebensplanung sprechen. „Heiraten? Total veraltetes Konzept!“; „Ich bau doch kein Haus, bin ich blöd? Ich investiere in 'ne Wohnung in Ostdeutschland, Leipzig ist Hypezig, sag ich euch!"

Das ist dein Moment! Hol alle alten Witze raus, die du in deiner neuen Stadtclique nicht mehr machen kannst. Am besten du guckst dir vorher noch einmal das „TV Total-Nippleboard Best of von 2004“ an.

Lästern geht natürlich auch! Was machen denn die anderen jetzt so? Na der Martin, dass der mal so ein Wirtschaftsschnösel wird, das war doch damals schon klar.

3. Was ist ein guter Kommentar für deinen besoffenen Onkel, der um zwei immer noch in der Küche sitzt und mit dir den Ernst des Lebens besprechen will?

„Ach Onkel Ede, Leben ist Leben und Schnaps ist Schnaps. Prost!”

„Die wirklich krasse Frage ist doch: Wenn nichts an Teflon haftet, wieso haftet Teflon dann an der Pfanne?!“

Stimme ein Volkslied an und animiere ihn zum Mitsingen. „Ahhh, weißt du noch, wie es nach der Stelle weitergeht?“ Alte betrunkene Männer singen gern.

Oder sag ihm, dass er jetzt ins Bett muss, wenn er nicht möchte, dass seine Mutter (deine Oma) ihn morgen den ganzen Tag missbilligend und eisern anschweigen wird.

Auf der nächsten Seite: Sprechen mit Oma, Umgang mit Miese-Laune-Opa.

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4. Gesprächsstoff für Oma, mit der du wie immer viel zu früh in der Kirche bist.

Wann denn das erste Urenkelchen wohl geboren wird.

Und: Lästern! Über die Leute sprechen, die auch in der Kirche sind. Geht immer! Über Frisuren und Klamotten, wer dick geworden ist und wer dünn, wie der eine früher immer war, warum der eine auf einmal hinkt, wer aber auch echt nur Weihnachten in die Kirche geht, um gesehen zu werden.

Darüber reden, dass der junge Pfarrer ein schöner Mann ist und ob er wohl dadurch Probleme bei der Ausübung seines Berufs hat.

Sag ihr, dass sie wirklich eine sehr schicke Oma ist. Und was für ein toller Hut! „Andere ältere Damen lassen sich ja immer so gehen.“

„Mei Oma, wie lang ist das wohl her, dass du zum ersten Mal in dieser Kirche warst. Und wie sah’s da hier aus?“

5. Gesprächstoff für den zornigen Opa, dem die Weihnachtsfeierei viel zu viel ist und der in die Kirche gehen blöd findet.

„Wetten, dass mein Flachmann schneller leer ist als deiner?!“

„Hast du eigentlich schon mal gekifft?“

„Ach Opa, mir ist das hier gerade viel zu laut. Wollen wir eine kurze Runde mit Rollo drehen?“ Auf dem Weg nach draußen schnappst du dir noch zwei Flaschen Bier und verfrachtest Opa auf die nächste Parkbank, wo ihr einträchtig nebeneinander sitzt und die Ruhe genießt, bis die Flaschen leer sind.

6. Gesprächsopener beim gemeinsamen Warten aufs Abendessen am Familientisch.

„Bevor wir über irgendwas anderes reden: Erstmal Prost!“

Anknüpfen ans Vorjahr! „Wisst ihr noch, wie wir letztes Jahr...“

Das Ende von „Wetten,....dass!??“ aufgreifen – da kann wirklich jeder mitreden!

Rede über den Baum! Zwar nicht perfekt, aber wenigstens nicht so ein trauriges kahles Geäst wie letztes Jahr. Und optimal geschmückt – nur die Kugeln, die gehören eigentlich näher an den Stamm...

Auf der nächsten Seite: Schwiegermutter-Talk bis Familienspaziergang.
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7. Komplimente für die Schwiegermutter oder Mutter deines Partners beim ersten Weihnachtsessen.

Das Essen auf jeden Fall. Oder was zum Geschirr: „So eine Sauciere hätte ich ja auch echt gern!“

„Wer von euch hat denn das Auge für Inneneinrichtung?“

Erzähl eine nette Geschichte, in der ihr Kind so richtig glänzt. („Das habt ihr als Eltern wirklich gut hingekriegt!“) Oder – falls die Stimmung lockerer wird: erzähl, wie ihr Kind einmal betrunken fast dein Zimmer abgefackelt hätte und dann mit einer Gurke im Arm eingeschlafen ist. („Das habt ihr als Eltern wirklich gut hingekriegt!“)

8. Warme Worte für den neuen Freund der Schwester, der das erste Mal nach Hause kommt.

„Bevor wir über irgendwas anderes reden: Erstmal Prost!“

„Du wirst schnell merken: Diese Familie ist ein bisschen speziell – aber sehr nett! Folgende Regeln solltest du beachten: Niemals die linke Hand in die Hosentaschen stecken, wenn du Papa die rechte gibst, immer zwei zueinander passende Socken tragen und lachen, wenn Opa einen Witz macht. Der Rest läuft dann wie von selbst.”

Stecke ihm unauffällig, dass du ihren Ex-Freund richtig blöd fandest und trinke noch einen Schnaps mit ihm darauf.

9. Was sagt man beim Händeschütteln mit dem Pastor nach dem Gottesdienst?

„Frohe Weihnachten! Beste Predigt seit Jahren! Können Sie mir die per Mail schicken?”

„Ganz nah am Menschen! Wirklich! Man merkt einfach, dass Sie Ihre Schäfchen noch wirklich kennen. Toll! Wirklich!“

„Gerade für Menschen wie mich, die alles nur noch am Bildschirm erleben, sind diese Momente Gold wert. Danke.“

10. Familienspaziergang: Worüber redet man? Und worüber redet man mit „befreundeten" Familien, die euch zufällig über den Weg laufen und dich früher immer mit ihrem unheimlichen Sohn oder ihrer seltsamen Tochter verkuppeln wollten?

Oh, das ist sicher der beste Moment, um anzusprechen, was du noch ansprechen musst! Eine bisher verschwiegene Trennung. Eine bisher verschwiegene Schwangerschaft. Ein anstehender Umzug. Ein verlorener Job. Ein neuer Job (in Nairobi). Dass man morgen schon wieder fahren muss.

Und wenn einem dann die befreundeten Familien begegnen, sagst du so etwas wie: „Naaa, auch so viel gegessen? Ja, so ein bisschen Bewegung tut ja schon gut...”

Oder du kommentierst die Predigt von gestern Abend aus der Kirche und tastest ab, ob sie a) darüber lästern wollen („Also Pfarrer Lunsen hat ja wieder ein hochgeistliches Zeug dahergeredet!“) oder b) es total schön fanden („Endlich wird man malwieder heruntergeholt von diesem ganzen Konsumwahn!“)

Auch gut: „Nein, wie schön. Ihnen geht es richtig gut, gell?! Das sieht man Ihnen an.“
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