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Eine Welt ohne Bienen

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Weil die Insekten allmählich verschwinden, greifen die Behörden in Europa und jetzt auch in den USA durch: Sie verbannen gefährliche Pestizide. Für Landwirtschaft und Industrie geht es um einen Milliardenmarkt

New York - Natürlich gibt es hier keinen Honig. Aber auch keine Möhren und keine Mangos, keine Gurken, keine Zwiebeln, keine Äpfel. Da stapeln sich noch ein paar Orangen, aber die Regale des Supermarkts sind fast leer. Es ist ein Bild von einer Welt ohne Bienen. Die US-Biosupermarkt-Kette Whole Foods hat alle Waren aus den Regalen geräumt, die es ohne die Biene und ihr stetes Bestäuben nicht mehr geben wird, 237 von 453 Produkten allein in der Obst- und Gemüseabteilung. Es ist eine Warnung: Menschheit, rette die Biene!

"Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr." Albert Einstein soll das einmal gesagt haben. Ohne Biene habe die Menschheit noch maximal vier Jahre zu leben. Ganz so schlimm wäre es sicher nicht, weiß die Forschung heute, aber die Menschheit müsste ohne die Biene auf gut ein Drittel der Nahrung verzichten, insbesondere auf gesunde Nahrung.



Menschheit, rette die Biene!

Die Warnung vor dem Ende der Biene hat einen Grund: Gerade in einer Zeit, in der die Biene so beliebt ist wie nie zuvor, geht es ihr am schlechtesten. Auf Dutzenden Dächern in New York machen sich Hobbyimker zu schaffen. Die New York City Beekeepers Association hat momentan Zulauf. In Berlin und London gibt es die gleiche Sehnsucht nach ein bisschen mehr Natur. Doch seit 2006 sterben immer mehr Bienenvölker in den Wintermonaten. Imker, die ihre Bienenstöcke prüfen, finden sie immer öfter leer vor, Honig ist drin, Wachs und Waben - aber keine Bienen. Die Insekten verschwinden einfach. In den Vereinigten Staaten starben früher 10 bis 15 Prozent der Tiere pro Winter, in den vergangenen Jahren lag der Schnitt laut der Umweltbehörde EPA bei 30 Prozent. Seit 2006 sind in Amerika zehn Millionen Bienenvölker verschwunden - das kostete die Imker zwei Milliarden Dollar. Auch aus Teilen Europas und Asiens werden hohe Verluste gemeldet. In Deutschland lag die Sterberate im vergangenen Winter mit 15,2 Prozent über dem Schnitt. Wissenschaftler sprechen von Colony Collapse Disorder.

Imker ziehen sich aus dem frustrierenden Geschäft zurück. Die Folgen für die Landwirtschaft sind fatal. Bislang werden die Bienen hunderte Kilometer weit durch Amerika gefahren, um gezielt die Felder zu bestäuben, etwa Kaliforniens Mandelbäume. Es ist eine Milliardenindustrie. Und die Angst wächst. Das amerikanische Magazin Time hat in dieser Woche die Titelgeschichte der Biene gewidmet, das Cover ist schwarz: "A world without bees." Das Erschreckende ist, dass niemand genau weiß, woran die Bienen sterben.

Die Behörden der Welt versuchen, die Biene zu retten. Hauptansatzpunkt sind Pestizide, vor allem die als Bienenkiller bekannten Neonikotinoide. Die Amerikaner machen vorerst nur einen kleinen Schritt: Die EPA hat in dieser Woche ein neues Label für Pestizide vorgestellt. Künftig sollen auf der Verpackung Hinweise stehen, die vor der Gefahr für Bienen warnen und Bauern dazu anhalten, sie möglichst eingeschränkt zu verwenden. Umweltgruppen verlangen einen Bann und verklagen die EPA. "Trotz aller Versuche, die Behörde vor Neonikotinoiden zu warnen, ignoriert die EPA Warnzeichen einer Landwirtschaft, die in Schwierigkeiten steckt", sagt Paul Towers vom Pesticide Action Network.

Die EU hatte im Frühjahr bereits den Einsatz dreier hochwirksamer Pestizide aus der Gruppe der Neonikotinoide ab Dezember verboten. Die Nervengifte werden erstmal nur für den Einsatz beim Anbau von Mais, Sonnenblumen, Raps und Baumwolle verbannt - diese Pflanzen lieben Bienen besonders. Die Sperre gilt zunächst für zwei Jahre. In Deutschland sind die Neonikotinoide außerdem nicht für Wintergetreide zugelassen. Bei der Aussaat kann Staub abdriften, der sich auf andere Blühpflanzen ablegen kann und dadurch das Bienenwohl gefährdet. Es gibt viele Studien, die belegen, wie schädlich die Neonikotinoide für die Bienen sind.

Kürzlich haben Forscher von der University of Dundee gezeigt, dass sie die Funktion des Bienenhirns schädigen, zum Beispiel die Orientierungsfähigkeit, ihre Lernfähigkeiten und den Erfolg beim Futtersammeln. Die Bienen finden schlicht nicht wieder nach Hause. Eigentlich sind die Neonikotinoide ein Mittel, hinter dem eine gute Idee steckt. Statt die Pestizide aufzusprühen, wenn die Pflanzen schon gepflanzt sind, werden die Samen in ihnen getränkt, bevor sie aufs Feld gebracht werden.

Dadurch können die Pestizide sehr gezielt eingesetzt werden und verteilen sich weniger in der Luft, was vor allem für die Feldarbeiter gut ist. Das Pestizid dringt aber in jeden Teil der Pflanze, auch in die Pollen, was den Bienen schadet. Die Verbreitung der Neonikotinoide - die ja erfunden wurden, um Insekten zu töten - begann ungefähr gleichzeitig mit dem großen Bienensterben. Den Pestiziden die Schuld am Bienensterben zu geben, ist eine charmante Lösung, schließlich kann man sie einfach verbieten; das Problem wäre aus der Welt.Allerdings gibt es viel, das gegen die Theorie spricht. In Australien etwa werden Neonikotinoide seit Jahren verwendet und australische Bienen sind kerngesund. In Frankreich dagegen, wo die Pestizide seit 1999 kaum noch verwendet werden dürfen, sterben die Bienen genauso wie im Rest Europas und in Amerika.

Lautester Verfechter der Pflanzenschutzmittel sind - wenig überraschend - die Lobbyisten der Agrarchemiebranche. Hersteller der Neonikotinoide sind unter anderem Bayer und der Schweizer Konzern Syngenta. Es gebe etliche Gründe für das Bienensterben, sagen die Konzerne. Auch Viren und Milben seien schuld. Außerdem würden die Tiere oft nicht artgerecht gehalten. Gerade die hunderte Kilometer, die Bienenvölker zurücklegen, um gezielt etwa die Mandelhaine in Kalifornien zu bestäuben, stressen die Tiere und machen sie krank. Insgesamt ändert sich die Umwelt zum Nachteil der Honigbiene: Es gibt nicht mehr so viele wilde Wiesen und Felder, stattdessen mehr Monokulturen, die Bienen weniger mögen, vor allem Mais und Sojabohnen. Manche Bienen müssen schlicht verhungern. Aber was sollen die Menschen ohne Bienen tun?

Gewalt erfasst viele Städte in Ägypten

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Die Islamisten machen ihre Drohung wahr und demonstrieren am "Freitag der Wut" gegen die Armee. Bei Straßenschlachten gibt es Tote und Verletzte. Auswärtiges Amt rät von Reisen eindringlich ab

Kairo - In Ägypten ist es am Freitag in mehreren Städten zu neuen blutigen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi gekommen. In Kairo folgten Zehntausende einem Aufruf der islamistischen Muslimbrüder, mit einem "Freitag der Wut" gegen die gewaltsame Räumung zweier Protestcamps durch die Sicherheitskräfte zu protestieren. Bei dieser hatte es fast 700 Tote gegeben.

Die Demonstranten marschierten vom Nordosten Kairos Richtung Innenstadt. Auf dem Ramses-Platz fielen am Nachmittag Schüsse; vier Menschen sollen dort ums Leben gekommen sein. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein, schwarzer Rauch stieg über der Hauptstadt auf. Armee und Polizei hatten an strategisch wichtigen Orten starke Einheiten postiert. In der Hafenstadt Damiette wurden nach Angaben von Sanitätern acht Demonstranten getötet, bei Protesten in Ismailia am Suezkanal vier weitere. Das Innenministerium hatte angekündigt, hart durchzugreifen. Die Polizei hat Befehl, mit scharfer Munition auf Plünderer und Saboteure zu schießen. Von 19 Uhr an gilt in weiten Teilen des Landes eine Ausgangssperre.



Die Lage in Ägypten eskaliert weiter. Bei heutigen Straßenschlachten gab es wieder zahlreiche Tote und Verletzte.

Das Auswärtige Amt verschärfte am Freitag nochmals seine Sicherheitshinweise und rät nun generell von Reisen nach Ägypten ab. Eine Reisewarnung gibt es aber weiter nur für den Nordsinai und das Grenzgebiet zu Israel. Das US-Außenministerium forderte in Ägypten lebende Amerikaner auf, das Land zu verlassen, und warnte US-Bürger, sie sollten geplante Reisen verschieben. Die meisten großen Veranstalter in Deutschland sagten alle Reisen nach Ägypten bis einschließlich 15.September ab und bieten zum Teil auch für später geplante Urlaube kostenlose Umbuchungen und Stornierungen an. Touristen, die bereits vor Ort seien, könnten ihren Urlaub jedoch fortsetzen, erklärten die Unternehmen. Sie sollten sich allerdings an die Vorgaben der Reiseleitungen halten.

Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande schlugen laut dem Präsidialamt in Paris eine Dringlichkeitssitzung der EU-Außenminister zu Ägypten vor, um über die "Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Ägypten" zu beraten und "gemeinsame Antworten" zu finden. Diese könnte am Montag bei einem Treffen der 28 EU-Botschafter in Brüssel vereinbart werden. Die Gewalt müsse "sofort" enden, erklärten die beiden Regierungschefs. Die Ägypter müssten einen "Dialog" aufnehmen und "so schnell wie möglich auf den Weg der Demokratie zurückkehren". Italien will vorschlagen, Waffenlieferungen an Kairo auszusetzen. Die Ausfuhr von Rüstungsgütern solle zumindest während des Ausnahmezustands ausgesetzt werden.

Kanzlerin Merkel zeigte sich "sehr besorgt" über die Situation. Deutschland habe in enger Abstimmung mit den USA, anderen europäischen Ländern und arabischen Staaten versucht, in Ägypten zu vermitteln. "Wir können den Ländern der Region helfen, aber den richtigen Weg können die Gesellschaften nur alleine finden", sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Entwicklungsminister Dirk Niebel setzte ein Kooperationsprogramm im Umfang von 25 Millionen Euro im Bereich Umweltschutz aus.

Mädchen, wie erinnert ihr euch an eure Liebhaber?

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Immer zum Wochenende: Jungs fragen Mädchen fragen Jungs. Weil manches kapiert man einfach nicht bei denen. Heute: Schwelgen in alten Liebeserinnerungen





Mädchen, ihr müsst jetzt kurz tapfer sein: Selbst wenn wir noch so froh mit euch sind, bekommen wir manchmal so eine Stimmung. Sie wird durch bestimmte Situationen getriggert, zum Beispiel nächtliche Spaziergänge in fremden Städten oder eine Zigarette an einem geöffneten Dachfenster unter Sternenhimmel. Man kann das vergleichen mit einem Daumenkino, in dem ganz viele Mädchengesichter hintereinander durchflackern. Ja, in diesen Momenten rattern wir einmal durch unsere verflossenen Liebhaberinnen, Bettgenossinnen, Pyjama-Affären und was da sonst noch an zwischengeschlechtlichen Episoden passiert ist in unserem Leben vor euch. Dafür hatten wir bisher keinen Ausdruck, aber ein Blogger hat diese Stimmung jetzt getauft: Als „Greatest Hits"-Moment. Das schlechte Gewissen fährt in diesen Momenten immer auf dem Gepäckträger mit, deshalb kommen die „Greatest Hits"-Momente meist erst nach vier Pils oder einsamen Spaziergängen, wenn unser Herz eh ein bisschen besser durchblutet ist.

Wir beziehen diese Momente auch gar nicht auf euch, wenn wir euch gerade als Freundin haben – im Gegenteil, nicht mal die wasserdichteste Beziehung kann verhindern, dass wir ab und zu diese Best Of-Platte auflegen. Uns treibt dann eher das Bedürfnis an, uns nochmal ganz kurz zu vergewissern: Yep, unser Leben war doch eigentlich ziemlich gut und irgendwie sogar abenteuerlich. Und wir können die Platte schnell wieder verpacken, ins Regal stellen und getrost weiter mit euch zusammen sein.

Kennt ihr solche Momente auch? Und welche Jungs rattern da in eurem Daumenkino runter: die, denen ihr mal euer Herz geliehen habt, bei denen es noch immer ein bisschen ziept? Oder auch die, die euren Weg nur kurz gekreuzt haben und bei denen ihr eigentlich nicht mal mehr wisst, wie die mit Klamotten aussahen?

Auf der nächsten Seite findest du die Antwort von martina-holzapfl.




Nein, also, ja, also – wie soll ich anfangen? Denn: Natürlich kennen wir dieses in-der-Erinnerung-kramen auch. Ich kann natürlich nur von mir sprechen, aber ich persönlich denke dabei interessanterweise selten an die schönen Seiten meiner vergangenen Beziehungen oder Affären. Ich erinnere mich eher an die Momente, in denen es kaputt ging oder in denen irgendetwas so seltsam wurde, dass mir klar war, dass es vorbei ist. Offensichtlich bedurfte es erst deiner Frage, dass ich überhaupt darauf komme, mal wieder daran zu denken, welche Seiten an meinen vergangenen Liebeserfahrungen eigentlich aufregend, toll, wahnsinnig waren.

Ich habe den Verdacht, dass hinter meinem Hang zum Erinnern des Negativen ein System der Schmerzvermeidung steckt. Es hat ja auch etwas sehr Erhebendes zu denken: „Komischer Typ, was habe ich mir da nur gedacht? Gut, dass ich heute einige Schritte weiter bin!" Oder: "Boah, wie der Arsch mich damals verletzt hat! Was fiel dem eigentlich ein, mich so zu behandeln? Und überhaupt! Eigentlich war er nicht nur ungehobelt, sondern vielleicht auch einfach etwas dumm!" Oder: "War ja ganz nett, aber es hat schon was Gutes, dass es vorbei ist, denn niemals hätte der verstanden, was ich heute so mache". Es ist so ein Vergewisserungsmechanismus, der mir klar macht: Aha, sehr gut, ich habe mich weiterentwickelt. Ich bin heute glücklicher, allgemein zufriedener als damals.

Stattdessen einfach mal an die Sachen zu denken, die irre waren und berauschend und ganz und gar verschlingend romantisch und sexuell und strahlend, das ist bei mir immer mit einer gewissen Angst belegt, im Erinnern plötzlich reumütig zu werden. So dumme Gedanken zu denken, wie: „Vielleicht war früher alles besser. Vielleicht bin ich abgestiegen! Vielleicht bin ich gerade dabei, zu versagen!"

Und neben dieser Angst ist da dann natürlich auch noch die Scham, gekoppelt mit der Frage, ob solche heimlichen Erinnerungen an vergangene Abenteuer mit anderen Männern den aktuellen Mann abwerten oder schon die Grenze zum sogenannten "Betrug" übertreten.

Aber so, wie du das beschreibst, und wie der Blogger das nennt: „Greatest Hits", das ändert irgendwie etwas. Das macht das Erinnern tatsächlich zu etwas sehr Schönem. Warum auch nicht? Während ich nach deiner Frage gleich begonnen habe, an meine „Greatest Hits" zu denken, ist mir aufgefallen, dass sich das alles gar nicht im Weg steht.

Denn nach all der Erinnerungsschwärmerei weiß ich ja doch, wenn ich wieder zu mir komme, warum heute alles so ist, wie es heute ist. Und dass ich froh darüber bin. Und dass es aber dennoch irre schön ist, zu begreifen: Yep, ich hab doch eigentlich ein ganz gutes Leben. Und dass das ein ganz genau gleich guter, ach Quatsch, noch viel besserer Selbstvergewisserungsmechanismus ist als der Negative.

Oder hattest du das schon gesagt? Jedenfalls: So ist das, glaube ich. Danke dafür.

"Wir wollen gar nicht wissen, wer da schreibt"

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Seit der Ausspäh-Affäre tun sich immer mehr angeblich sichere Instant Messenger hervor. Eine der vielversprechendsten WhatsApp-Alternativen ist "Whistle.im" der beiden Studenten Michael Bank und Daniel Wirtz. Seit einer Woche ist ihre App jetzt online. Wir haben mit ihnen über den Whatsapp-Gruppenzwang und das Recht auf Privatsphäre gesprochen.

Der Maschinenbau-Student Michael Bank, 27, und der Informatik-Student Daniel Wirtz, 30, aus Mechernich in Nordrhein-Westfalen haben mit Whistle.im eine der interessantesten WhatsApp-Konkurrenten entwickelt. Seit einer Woche kann man ihren verschlüsselten Messenger in der Beta-Version im Browser oder als Android-App testen. Mehr als 10.000 User haben das bereits getan. Noch läuft nicht alles rund, manche Nachrichten werden doppelt oder verzögert angezeigt. Der Ansatz der beiden Studenten gilt aber als eine der vielversprechendsten auf dem Markt.
Wir haben mit den beiden über den
WhatsApp-Zwang, neugierige Geheimdienste und ihre Pläne für die Zukunft gesprochen.  

jetzt.de: Michael und Daniel, euren Messenger feiern viele als
DIE WhatsApp-Alternative. Habt ihr WhatsApp überhaupt auf euren Smartphones installiert?
Daniel:
Nur gezwungenermaßen, weil meine Freunde es nutzen. Ich hatte das Gefühl, damit ich was mitbekomme, muss ich wenigstens angemeldet sein. Die Sicherheit dieses Dienstes war mir aber immer schon suspekt, ich war schon oft kurz davor, es wieder vom Handy zu werfen.
Michael:
Ich hatte bis vor kurzem gar kein Smartphone. Und dann hatten wir ja schon die Idee, Whistle.im zu entwickeln.  

Jetzt braucht ihr WhatsApp ja nicht mehr...
Daniel:
Stimmt. Wir zwei nutzen inzwischen ausschließlich unseren eigenen Messenger, viele unserer Freunde haben ihn installiert und manche ganz gegen WhatsApp getauscht.  



Michael Bank und Daniel Wirtz.

Wie seid ihr darauf gekommen, Whistle.im zu programmieren?
Michael
: Die Idee hatten wir vor viereinhalb Wochen. Wir haben den Abhörskandal um Prism und Tempora in den Nachrichten verfolgt und dachten uns, dass man eigentlich einen verschlüsselten Instant Messenger bräuchte, der es nicht mehr ermöglicht, dass Firmen und Geheimdienste die Nachrichten im Klartext mitlesen können – dass man eine Privatsphäre hat, die man so im Moment nicht hat. Wir haben recherchiert und herausgefunden, dass es ähnliche Programme gibt. Seit der Abhöraffäre tun sich immer mehr WhatsApp-Alternativen hervor. Aber die sind auch nicht unproblematisch.  

Warum das?

Daniel:
Ein Problem von WhatsApp ist die ziemlich lange Liste an Berechtigungen, der man zustimmen muss. WhatsApp kann Kontakte lesen und ändern, SMS empfangen und senden, auf den Standort zugreifen. Aber auch bei der angeblich sicheren WhatsApp-Alternative "Threema" ist es so, dass die App ziemlich viele Berechtigungen verlangt, zum Beispiel den Zugriff auf die Kontakte. Das vermittelt nicht wirklich das Gefühl von Privatsphäre. Wir wollen diese Berechtigungen gar nicht. Wenn man unsere Android-App installiert, sieht man das auch.  

Wozu muss man bei eurer App zustimmen?

Michael:
Bei uns gibt es nur vier Punkte: dass die App das Handy vibrieren lassen darf, dass sie ins Internet gehen kann, dass sie den Ruhezustand deaktivieren darf, das bedeutet, dass sie trotzdem im Hintergrund prüfen kann, ob neue Nachrichten da sind, und dass sie beim Start ausgeführt werden darf.  

Was macht ihr noch anders?

Daniel: Wir verwenden eine SSL-Verbindung, die mit 4.096 Bit verschlüsselt ist, die Nachrichten, die in der Verbindung hin- und hergeschickt werden, sind mit 2.048 Bit verschlüsselt, zum Vergleich: Der Messenger "Hike" verwendet, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, eine 128-Bit-Verschlüsselung. Bei uns wir das, was ein Nutzer schreibt, direkt auf seinem Gerät verschlüsselt und erst auf dem Gerät des anderen Users entschlüsselt. Die Daten gehen dazwischen über unseren Server, wir können aber nichts mit ihnen anfangen, weil wir den privaten Schlüssel desjenigen nicht haben. Wir sehen also nicht, was die User schreiben. Bei WhatsApp sind die Nachrichten gar nicht verschlüsselt, das heißt, alles geht im Klartext an deren Server. Die Alternativen sind aber nicht unbedingt besser. "Hike" verschlüsselt nur, wenn man den Messenger via W-Lan nutzt. Was die Privatsphäre angeht, ist das natürlich Unsinn.

Wie garantiert ihr, dass die Nachrichten verschlüsselt sind und bleiben?

Daniel:
Wir haben eine Datenschutzerklärung und unsere Kryptographie veröffentlicht, das heißt, jeder kann sich den Quellcode ansehen und nachvollziehen, nach welchem Prinzip die Anwendung arbeitet. Wir bieten aber auch allgemein mehr Privatsphäre als andere verschlüsselte Nachrichtendienste.  

Inwiefern?

Michael: Um unseren Messenger zu nutzen, muss man keine Mailadresse angeben oder sich mit seinem Facebook- oder einem anderen Profil anmelden. Wir wollen gar nicht wissen, wer da schreibt. Wir sehen nur ein Pseudonym und können keine Rückschlüsse ziehen, wer mit wem schreibt. Das hat noch einen Vorteil: Unser Messenger ist kostenlos, das soll er auch bleiben. Viele Apps finanzieren sich durch Werbung. Wir wissen nicht, welche Zielgruppe wir haben. Wir haben nur die Pseudonyme und da können wir gar nicht sagen, welche Interessen die Nutzer haben. Aus dem Grund können wir gar keine zielgerichtete Werbung schalten.

Seht ihr eine andere Möglichkeit, mit eurem Messenger Geld zu verdienen?
Daniel:
Wir haben uns noch keine Gedanken darüber gemacht, wir wollten erst einmal eine funktionierende App entwickeln. Damit sind wir gerade auch noch gut beschäftigt. Wir machen das neben dem Studium, zur Zeit sind Semesterferien, da arbeiten wir von früh bis spät immer bei einem von uns in der Wohnung an dem Messenger. Ein paar Nutzer haben geschrieben, dass sie spenden würden, das bieten wir jetzt auch auf der Website an, weil wir dadurch die Entwicklung noch schneller vorantreiben können.



 

Warum habt ihr euren Messenger auch für den Browser konzipiert?

Daniel:
Wir haben gemerkt, dass da ein großer Bedarf besteht, und wenn uns Leute Feedback geben, sagen sie oft, dass sie es großartig finden und ihnen das bei WhatsApp gefehlt hat. Immer wieder bauen Menschen selbst Desktop-Clients für WhatsApp. Da scheint mehr dahinter zu sein.  

Ihr schreibt auf eurer Website, dass jeder eingeladen ist, an eurem Messenger mitzuarbeiten. Wie funktioniert das bis jetzt?

Michael:
Viele haben angeboten, gegen Geld Sachen zu programmieren, nur: Wir finanzieren das derzeit alles aus eigener Tasche und können keine Leute zahlen, die Sachen für uns programmieren. Auf unserer Projektseite auf der Plattform für Software-EntwicklungsprojekteGithub kann man sich melden, wenn man einen Fehler entdeckt hat oder Aufgaben übernehmen kann, für die wir noch Unterstützung brauchen, oder auch helfen will, die App in andere Sprachen zu übersetzen. Momentan sind Englisch und Deutsch unterstützt.
 
Der verschlüsselte E-Mail-Service Lavabit, den wohl auch Edward Snowden nutzte, musste gerade schließen. Könnte euch das auch passieren?

Daniel:
Deren Nachteil war, dass sie, wie WhatsApp, in Amerika sitzen. Aufgrund der Gesetzgebung dort ist WhatsApp verpflichtet, die Daten, die sie haben, an Geheimdienste und Regierungsinstitutionen weiterzugeben. Wir sind in Deutschland, hier gelten vernünftige Gesetze, wir haben ein Briefgeheimnis und keinen Patriot Act. Bei uns wäre es nicht so einfach möglich gewesen, so ein Portal zu schließen. Die USA könnten uns allerdings verbieren, unseren Messenger in den USA anzubieten.  

Könntet ihr euch vorstellen, euer Angebot auf E-Mails ausweiten?

Daniel:
Zuerst wollen wir die alltägliche Kommunikation mit einem Instant Messenger abdecken, aber wenn eine große Nachfrage besteht, möchte ich das nicht ausschließen, die Technik könnte man darauf anwenden.  

Wie soll es weitergehen?

Michael: Whistle.im kann man im Moment als Android-App oder mit jedem modernen Browser verwenden, wir arbeiten daran, dass es bald als iOS- und Windows-Phone-App verfügbar ist. Danach wollen wir es ermöglichen, Bilder verschlüsselt untereinander zu verschicken oder auch in Gruppen zu kommunizieren.  

Würdet ihr euren Messenger einem großen Unternehmen verkaufen?

Michael:
Es gibt noch keine Angebote. Wenn es eine amerikanische Firma wäre, würden wir unser Projekt selbst ad absurdum führen. Abgesehen davon wäre mit der Gesetzgebung dort eine Verschlüsselung, wie wir das machen, gar nicht möglich.   

Der Sonntag mit: Christian Brandes, Blogger

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Kein Tag in der Woche ist so frei wie der Sonntag. Für jetzt.de dokumentieren interessante Menschen ab sofort diesen Tag in Bildern. Zum Start: Christian Brandes, der mit seinem Blog Schlecky Silberstein Platz vier der deutschen Blogcharts belegt.

"Chronist des Blödsinns" hat ihn der Tagesspiegel mal genannt. Das war 2011, als sein Blog noch "Spiegel Offline" hieß und relativ neu war. Da zeichnete sich schon ab, dass Christian Brandes, einem Werbetexter aus Berlin, mit der Seite ein besonderer Wurf gelungen war. Spiegel Offline oder Schlecky Silberstein, wie das Blog inzwischen heißt, versammelt sorgsam kuratierte Brüller-Videos aus aller Welt: tollpatschige Katzen, tanzende Chamäleons, betrunkene Russen. Wobei Brandes die Komik dieser Filmschnipsel durch seine liebevoll formulierten Überschriften und Vorspänne nochmal gehörig steigert - manche behaupten gar, sie läsen Schlecky Silberstein nur wegen der Texte über den Videos.





9:00 Uhr. Kurz nach neun sagt die Echtheit. Kurz vor acht sagt der Weckzeiger. "Wodka Mate!" sagte gestern Abend noch Freund Joseph und da bin ich mit einer Stunde Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch ganz gut dabei.  



9:45 Uhr. Bei mir beginnt kein Tag ohne die obligatorischen zehn Kilometer Freistil. Lüge. Mein Orthopäde zwingt mich zum sonntäglichen Planschen. Das Knie.  



10:45 Uhr. Brötchen holen. Enough said.  



12:30 Uhr. Arbeiten. Das wichtigste ist ein konstanter Artikel-Flow – auch am Wochenende. Man kann es so toll und leidenschaftlich machen wie man will. Passiert zwei Tage lang gar nichts, hat Dich gefühlt die halbe Leserschaft vergessen.  



13:30 Uhr. Bloggen geht ganz klar auf die geistige Gesundheit. Meine Leser haben ja keine Ahnung davon, welchen Traumata ich täglich ausgesetzt bin.  



14:00 Uhr. Schon lange bin ich auf der Suche nach talentierten Schreibern. Momentan plane ich sowas wie DSDS auf Blogger-Basis. Die grobe Idee steht, jetzt geht's an die Detailplanung.  



14:30 Uhr. Gaaaaaaanz lange Geschichte. Ich habe diesen Krieg nicht angefangen, aber ich werde ihn beenden. Wer die Spinner aus dem Nebenhaus kennt, weiß, dass ich das Richtige tue. Ich komme mir trotzdem gerade unendlich alt vor.  



15:00 Uhr. Seit ich denken kann, üben Tiere ein magische Anziehungskraft auf mich aus. Mein Favorit ist momentan das Schaf. Aber die sind im Berliner Stadtbild leider noch viel zu unterrepräsentiert.  



15:30 Uhr. Schöööööönhauser Alleeeeee. Kann man super zur Melodie von "Oh Champs Elysee" singen. Hier in der rechten Herzklappe vom Prenzlauer Berg ist das wilde, das ungezügelte, das fiebrig vibrierende Berlin… ganz weit weg.    



16:00 Uhr. Wir Werbetexter mokieren uns gern über Plakate, die es nicht auch auf die Art Basel schaffen würden. Aber das hier ist verdammt noch mal eine Arbeit, die verkauft. Lob an unbekannt.  



16:30 Uhr. Noch ein Hund. Und was für einer! Checkt die Frisur.    



17:00 Uhr. Ich habe es schon oft gesagt und sage es noch mal: Zu einem perfekten Sonntag gehört eine 11 Freunde.    



17:30 Uhr. Ich werde eine Göttin heiraten. Einen Engel. Eine Schaumgeborene. Dieses Himbeermuß soll ab jetzt meine einzige Nahrung sein.  



18:30 Uhr. Der richtige Berliner geht sonntags in den Club. Der Falsche schlurft zur Kneipe. Schön in den Sonnenuntergang blinzeln. 



19:00 Uhr. Meine Tankstelle. Dort sollen sie mich beerdigen. Ich kann leider keine Details nennen – ist auch so schon immer super voll da.    



21:00 Uhr. Ich möchte an dieser Stelle ein Lanze für die Institution Spätkauf brechen. Und wenn wir eines Tages alle Waren über das Internet beziehen, diese Läden sind nicht zu ersetzen. Für mich Standortfaktor Nummer eins bis zehn.           

Bach und die besten Tänze von Axl Rose

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Wo sollte man diese Woche unbedingt hingehen? Welchen Film sehen und was auf keinen Fall verpassen? jetzt-Mitarbeiter planen ihre Woche. Diesmal mit amerikanischen Reportagen, Open-Air-Kino und Bergsehnsucht.

Wichtigster Tag der Woche: Gibt es eigentlich keinen. Ich setze allerdings etwas Hoffnung in den Freitag, beziehungsweise darin, dass da die Baustelle in meiner Wohnung endlich ein Ende hat. Kein Baustaub mehr. Keine Fräsgeräusche. Keine Löcher in der Wand, aus denen Kabel züngeln wie giftige Schlangen kurz vorm Angriff. Das wäre so schön. Angesichts der Erfahrungen der letzten Wochen ist das aber eine sehr scheue Hoffnung...

Politisch interessiert mich...
wie es in Ägypten weitergeht. Und fast noch etwas mehr, wie sich die Lage in Tunesien entwickelt. Ich war dort während des Wahlsiegs der Ennahda gerade auf einer Recherchereise und habe unter anderem den Parteivorsitzenden Rachid al-Ghannouchi interviewt.

Wochenlektüre: Ich muss unbedingt endlich „Pulphead“ von John Jeremiah Sullivan fertig lesen. Das Buch ist eine Sammlung der besten Reportagen des amerikanischen Journalisten. Texte über „Das finale Comeback des Axl Rose“, über Darsteller einer Reality-Show, über Michael Jackson, Disneyland oder Höhlenmalerei. Was in Summe nicht weniger ergibt, als einen unglaublich detailreichen Überblick über die amerikanische Gesellschaft und Kultur. Sullivan hat die gigantische Gabe, sich jedem Thema mit großem Interesse, mit – so fühlt es sich jedenfalls an – ehrlicher Neugier zu nähern. Deshalb geraten seine Reportagen auch nie herablassend, nie überheblich. Und deshalb ist es nicht nur völlig legitim, sondern beinahe Pflicht, dass er in der hierzulande noch immer etwas verpönten Ich-Form schreibt.  



Seinen Tänzen wurde in John Jeremiah Sullivans Reportageband "Pulphead" ein Denkmal gesetzt: Axl Rose.

Lieblingsstelle: „Auch wenn ich nicht behaupten kann, dass Axl an diesem Abend genauso gut tanzt wie früher, als seine Fersen noch fließend von der Körpermitte weg nach außen glitten und es aussah, als seien beide mit einem Zauberstab berührt worden, der sie von Widerstand und Masse erlöst hat, und auch wenn er mich in gewissen Augenblicken an meinen besoffenen Redneck-Onkel erinnert, der nach einer Super-Bowl-Party versucht, »seinen Axl Rose« darzubieten: Er schlägt sich ehrenvoll. Er macht den »Scheiße, mir ist eine Bowlingkugel auf den Fuß gefallen«-Mikroständer-Drehtanz; er macht den »Tänzel mit dem Mikroständer seitwärts wie ein angreifender, speerschwingender Ritualkrieger«-Tanz zwischen den einzelnen Strophen. Und nach jeder Zeile starrt er die Menschen aus diesen merkwürdig verwunderten und trotzdem furchtlosen Augen an, die aussehen, als hätte man ihn gerade dabei überrascht, wie er sich in seinem Bau über ein Stück Aas hermacht.“ 

Kinogang?
Au weh. Da bin ich gerade ziemlich blank. Weil im Sommer, da treibt's mich nicht so ins Kino. Ich würde mir aber tatsächlich nochmals "Lone Ranger" ansehen, in der Hoffnung, beim zweiten Mal für mich klären zu können, ob's der schönste Slapstick seit Jahren oder kompletter Blödsinn ist. Eigentlich sollte man es aber so herum angehen: Mir ist fast egal, welcher Film – Hauptsache, ich schaffe es noch mindestens einmal (besser fünf) ins „Kino, Mond und Sterne“. Meiner Meinung nach das schönste Open-Air-Kino Münchens. Wobei ich am Wochenende endlich mal im Viehhof war. Hat auch was. Vor allem guten Wein!

Soundtrack:


http://www.youtube.com/watch?v=2LUPtADLYjM

Momentan für mich definitiv Chris Thile. Johannes Waechter vom SZ-Magazin hat vor kurzem ein Interview mit Thile veröffentlicht, in dem es unter anderem um dessen neues Album „Sonatas & Partitas“ geht. Ein irrwitzig gutes Stück Musik ist das. Thile interpretiert Bach-Stücke auf der Mandoline – und zwar technisch gewaltig und mit Ausdrucksmöglichkeiten, die der Violine tatsächlich fehlen. Für die ist die Musik ursprünglich geschrieben. Sonst spielt Thile übrigens Bluegrass. Das höre ich gerade parallel und stelle fest: funktioniert grotesk gut zusammen.

Wenn ich diese Woche woanders sein könnte... dann in den Bergen. Ich bin müde.  

Noch schnell erledigen: Ich schließe mich den Flüchen des Kollegen von der vergangenen Woche an: Urlaub planen! Himmelherrgott noch mal, den verfluchten Urlaub endlich planen! Auch wenn es erst Mitte September losgeht. Nach Italien übrigens.

Wenn das Licht angeht

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Die Party ist vorbei und die Stadt wie in Watte verpackt: Kurz vor dem Sonnenaufgang bündelt sich die ganze Poesie einer Nacht. Ein Rundgang in München.

Das Schöne an den Morgenstunden nach dem Ausgehen ist, dass sie so zeitlos sind. Der alte Tag ist längst vorbei und der nächste Tag hat noch nicht begonnen; er beginnt ja erst, nachdem man geschlafen hat. Die einzelnen Stunden liegen jetzt so dehnbar und pflichtbefreit vor einem wie sonst nur auf einem Langstreckenflug oder während der Zeitumstellung.    

Die, die im Morgengrauen schon arbeiten müssen, sind Protagonisten einer Parallelwelt und man selbst ist wie aus dem Off dabei, eine Art Spieler in einer virtuellen Welt, in der man nichts zu verlieren hat. Die Stadt zeigt sich einem von ihrer intimen Seite und ausnahmsweise ist man ein klein bisschen mehr allein mit ihr als sonst, weil all die anderen schon schlafen.    

Es ist jetzt alles erlaubt, denn es guckt kaum noch jemand zu, und selbst wenn: Der ausklingende Rausch schützt einen vor der Scham vor eventuell Gewesenem oder noch zu Passierendem. Oft sind diese Stunden deshalb auch am nächsten Tag halb vergessen, verwaschen und unvollständig erinnerbar wie ein seltsam echter Traum, von dem man sich nicht sicher ist, ob es ihn wirklich gab oder ob er doch nur Teil des Rausches war. Die erinnerten Geschehnisse sorgen vielleicht für späte Scham, vielleicht für ein paar Lacher, die dann Kopfweh machen wegen des Katers.   

Klar ist: Auch wenn man sich schwört, das nächste Mal früher nach Hause zu gehen – er wird wieder kommen, der Moment, in dem es plötzlich hell ist, wenn man nach dem Tanzen auf die Straße tritt. Wenn sich alles wie in Watte gepackt anfühlt nach all der lauten Musik. Die Hauswände haben plötzlich wieder eine Struktur, der Asphalt schmutzige Flecken und die Schuhe auch. Der Himmel flimmert ein bisschen, wenn man versucht hineinzugucken, und in den Straßen duften schon die Brötchenschwaden. Das letzte Bier vom Kiosk schmeckt nicht mehr, Spezi wäre jetzt besser, ein Kaffee vielleicht, oder auch einfach nur ein Bett.      




4:37 Uhr: Miri, 23, und Wolfgang, 26, haben die Nacht im Atomic Café verbracht, die neue Frau ihres besten Freundes kennengelernt und für gut befunden. Gehen jetzt noch zu McDonald’s und dann nach Hause.      






4:51 Uhr: My, 21 und Camilla, 22. Haben sich bei My zu Hause getroffen, wollten zusammen in der Rubybar tanzen gehen. Haben das Haus aber erst um drei Uhr nachts verlassen und dann eine Trittleiter auf der Straße gefunden, die sie auf die Reichenbachbrücke getragen haben. Hier warten sie jetzt auf den Sonnenaufgang.   

   




5:05 Uhr: Sandra, 22 und Paul, 29, kommen gerade aus dem Paradiso und gehen jetzt ihre Jacken holen, die sind nämlich im Yip Yab geblieben. Danach gehen sie ins Pimpernel, bis sie richtig müde werden.    

 




5:35 Uhr: Solvi, 22, hat eine dieser Nächte verlebt, die vielleicht gerade deshalb so gut sind, weil man keine Erwartungen an sie hatte. Sie war zuerst im Hans im Glück zum Burgeressen, ist dann im Sausalitos und später im Jack Rabbit gelandet.      






6:30 Uhr: Andreas, 28 hat Besuch von seinem Kumpel Benjamin, 28. Die beiden haben die ganze Nacht im Sauna-Club in der Marsstraße verbracht. Sie sind gerade mit dem Taxi zum Reichenbachkiosk gefahren, um sich noch ein Spezi zu kaufen vor dem Schlafen.

Wahlkolumne (Folge 11): Ungültig wählen aus Protest?

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Manche unzufriedenen Menschen geben absichtlich ungültige Stimmen ab, als Denkzettel für die Parteien. Aber: Bringt das wirklich etwas?

Vor vielen Wochen hatte ich eine seltsame Begegnung: Ich war mit einem Freund verabredet, nach drei Kneipen trafen wir einen Kollegen von ihm, beide promovieren in Philosophie. Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich in Schräglage. Bei Bar-Etappe vier oder fünf erzählte ich von dieser Kolumne. Der Nachzügler-Kollege schielte mich an, knallte sein Schnapsglas auf den Tresen und erläuterte mir sowie allen drumherum, dass er seit Jahren ungültig wähle. Aus Protest. Cheers!    

Meine Nachfragen prallten an ihm ab, er versuchte seinen Standpunkt zwar philosophisch zu erklären, aber irgendwie funzte das nicht mehr richtig. Nicht, dass ich promillemäßig ein besseres Publikum gewesen wäre. Was ich aber noch weiß: Auf dem Weg nach Hause dachte ich mir: „Wie bescheuert ist das denn? Als ob dieser Protest irgendwen interessiert. Dann kann man auch gleich daheim bleiben.“ Aber ist das wirklich so?

Kurz zu den Fakten: Wann ist ein Stimmzettel überhaupt ungültig? Das Wahllexikon sagt: Wenn mehr Stimmen abgegeben werden als erlaubt sind. Wenn der Stimmzettel durchgestrichen ist. Oder wenn man seinen Namen und seine Telefonnummer draufschreibt. Das Wahlrecht sagt aber außerdem: Ungültige Stimmzettel haben keinen Einfluss auf das Wahlergebnis. Es gibt nur einen Ausnahmefall, nämlich im Berliner Abgeordnetenhaus. Da werden alle Stimmzettel benutzt, um die Fünf-Prozent-Hürde zu errechnen, egal ob gültig oder ungültig. So können ungültige Stimmzettel das Zünglein an der Waage sein, ob eine Partei einzieht oder nicht. Das aber nur am Rande. Wer also glaubt, damit seinem Protest gegen die aktuelle Parteienlage öffentlich Ausdruck zu verleihen, irrt. Und zwar komplett.    



Am 22. September ist Bundestagswahl. Bis dahin ist unsere Autorin auf der Suche nach einer vernünftigen Entscheidung. Gar nicht so leicht.


Trotzdem gibt es ein paar Star-Wahlboykotteure, die in Talkshows und Printmedien krawallig propagieren, dass sie ungültig wählen. Der Soziologe Harald Welzer zum Beispiel. Er behauptet in einem Spiegel-Essay: „Allein der Entzug der Zustimmung nötigt die Parteien, sich ihrem Legitimationsverlust zu stellen und sich daran zu erinnern, wer in der Demokratie der Souverän ist.“Äh, nein. Denn der Zettel landet im Papierkorb. Es wird sich wohl kaum ein Politiker denken: „Oh, die Ungültigwähler haben mich nicht lieb, daran muss ich was ändern!“   

Wie viele Menschen ungültig gewählt haben, wird ja auch in keiner Fernsehsendung am Wahlabend genannt oder überhaupt irgendwo thematisiert. Einzig die Höhe der Wahlbeteiligung gilt als Richtwert für das Interesse der Bevölkerung. Und auch da ist nicht zu unterscheiden, ob das ein Protest ist oder ob die Leute schlicht zu faul sind, um sonntags zur Urne zu marschieren. Außerdem: Frau Merkel ist es grad recht, wenn Leute nicht zum Wählen gehen oder ungültig abstimmen. Dann bleibt nämlich sicher alles so wie es ist. Historisch betrachtet wählen die Deutschen nämlich nur dann die SPD oder kleinere Parteien, wenn es echte Aufregerthemen gibt. Man erinnere sich: Gerhard Schröder hat 2002 vor allem deshalb eine zweite Amtszeit bekommen, weil er den USA die Zustimmung zum Irak-Krieg verweigerte. Da hatten die Leute nämlich Angst und Gerd haute werbewirksam auf den Tisch. Im Moment aber scheint im europäischen Vergleich bei uns alles bene. Griechenland, Spanien, Italien... Mann, geht's uns gut!    

Man könnte sich den Gang zur Urne also sparen, wenn man ungültig wählen will. Eigentlich. Vor ein paar Monaten war ich davon überzeugt, dass ich immer wählen gehen werde, im Moment bin ich mir da nicht mehr so sicher. Je mehr ich mich mit Politik beschäftigt habe, desto klarer wird mir, dass Schwarz und Rot kaum voneinander zu unterscheiden sind und dass meine Stimme bei kleinen Parteien möglicherweise verschenkt ist. Wie sollen die denn gegen die zwei wasserköpfigen Platzhirsche ankommen? Meine Entscheidung von Personen abhängig zu machen, halte ich ebenso für falsch.    

Ich würde meinem Groll gegen die Konturenlosigkeit von SPD und CDU auch gerne Ausdruck verleihen und ich verstehe meine Alkoholbekanntschaft, dass er diesen Weg nimmt. Vielleicht ist das so ein Philosophen-Ding, zu glauben, dass auch der kleinste Protest einen Unterschied macht. Irgendwo muss man ja mal anfangen. Vielleicht probier ich's doch mal mit den kleinen Parteien. Dann macht wenigstens die Opposition ein bisschen Krawall im Bundestag.

Sanfte Angreiferin

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Yasemin Karakasoglu kommt freundlich daher. Doch Steinbrücks Bildungsexpertin hat Umwälzendes vor.

Es gab eine Zeit, Ende der Siebzigerjahre in der norddeutschen Provinz, als Mitschüler und Lehrer die Teenagerin Yasemin in einer Ecke abstellten. Als Proletenmädchen, das hinter eine Ladentheke gehöre und nicht in eine Bibliothek. So erzählt sie das. 'Keiner hat mir geglaubt, dass ich zu Hause kein Kopftuch tragen muss und auch nicht von meinem Vater unterdrückt werde, zumindest nicht mehr als andere Mädchen.' Später dann, bei der Suche nach einer Studentenwohnung: 'Mit einem Namen wie Karakasoglu' (sprich: Karakascholu) 'können Sie gleich einpacken', erinnert sie sich. Ihre Mutter ist Deutsche; mit deren Mädchennamen, Renken, hätte sie es vielleicht einfacher gehabt, 'natürlich habe ich darüber nachgedacht', sagt sie, 'in schwachen Momenten'. Und manchmal, wenn wieder ein potenzieller Vermieter den Telefonhörer aufgelegt hatte mit den Worten: 'Hören Sie, Frau Karaka..., die Wohnung ist schon vergeben', rief sie eine halbe Stunde später noch einmal an und nannte sich Sabine Schmidt. Dann war die Wohnung oft plötzlich wieder frei.

Die Aufgabe, in Peer Steinbrücks 'Kompetenzteam' dem Thema Bildung ein Gesicht zu verleihen, hat Yasemin Karakasoglu, 48, erst vor Kurzem übernommen. Sie liest, wenn es heute um ihr politisches Programm geht, noch immer vom Blatt ab. Es ist das erste Mal, dass sie eine Rolle auf der politischen Bühne spielt. Sie strahlt beim Vorlesen. Dabei könnte man diese Sätze, hinter denen eine Überzeugung steckt, die auch aus ihren persönlichen Erfahrungen erwachsen ist, auch mit geballter Faust ausrufen: Die Abschaffung des Kooperationsverbots bei Schulen und Hochschulen zum Beispiel, eine von Karakasoglus zentralen Forderungen, das bedeutet ja übersetzt: einen Griff nach der Macht.



In Steinbrücks Kompetenzteam zuständig für Bildungsfragen: Yasemin Karakasoglu

Wenn die parteilose Karakasoglu schaffen sollte, was sie sich vorgenommen hat, nämlich im Herbst Bundesbildungsministerin anstelle von Johanna Wanka (CDU) zu werden, dann möchte sie die Reformen der vergangenen Jahre um ein gutes Stück zurückdrehen, mit denen Bildungskompetenzen auf die Länder verteilt wurden. Universitäten und auch Schulen würden es dann wieder öfter mit Berlin zu tun bekommen, mit zentral gesteuerten Integrations- und Förderinitiativen. Und: mit ihr.

Karakasoglu hat ihre bisherigen Kämpfe nicht im politischen Apparat ausgefochten. Das unterscheidet sie von ihrer Kontrahentin Johanna Wanka, einer vormaligen Landesministerin und Fraktionschefin im Landtag. Der Ort, an dem Karakasoglu groß wurde, ist sogar eher ruhig, ein überschaubarer Siebzigerjahre-Campus. Von den hochschulpolitischen Stürmen der vergangenen Jahre kamen an der Universität Bremen nur vergleichsweise leise Brisen an. Nie mussten Studenten dort gegen die Einführung von Studiengebühren auf die Barrikaden gehen. Stets hatten sie die Politik auf ihrer Seite. Über die Pädagogik-Professorin Karakasoglu, eine von drei Konrektorinnen, hört man dort Gutes; als fair und umgänglich haben Studentenvertreter sie erlebt, als Gesprächspartnerin ohne Dünkel. Man kann sich vorstellen, wie gut jetzt auch ihre Wahlversprechen bei den Studenten ankommen: Mehr Geld für Unis, mehr Geld auch für die 'soziale Dimension des Studiums', wie es in einem SPD-Positionspapier heißt. Die Frage ist nur: Kann man sich auch vorstellen, wie sie mit 16 Landesministern am Tisch sitzt, bis tief in die Nacht verhandelt - und am Ende als Gewinnerin vom Platz geht, mit einem gewaltigen Pensum an neuen Zuständigkeiten, die sie den Ministern abgetrotzt hat? Denn genau das ist ihr Programm.

In der politischen Arena hat Karakasoglu sich bislang nur als unabhängige Expertin bewegt. In Fragen der Integration beriet sie Politiker aller Couleur, auch CDU-Männer wie Armin Laschet und Roland Koch. Die schickten sie in Expertenkommissionen, wo sie sich hohes Ansehen unter den Kollegen erwarb; als eine, die eher vorprescht, als abzuwarten und zu moderieren, wie es heißt. Mitunter fing sie sich auch Kritik ein - für ihre angeblich zu große Nachsicht gegenüber muslimischen Patriarchen. Eine Gelegenheit, Durchsetzungskraft im politischen Ring zu zeigen, hat ihr die SPD allerdings bislang nicht geboten. Das bildungspolitische Programm für 2013 kam aus dem Willy-Brandt-Haus - nicht aus der Feder Karakasoglus.

Also fragt man sie zu einem Thema, das die SPD bislang noch nicht entschieden hat: Wie sie denn zur Einführung einer Kita-Pflicht stehe? Karakasoglu hütet sich, das heiße Eisen anzufassen; sie wolle sich erst einmal Zeit nehmen, sagt sie. Zweiter Versuch: Wie sie zu der Debatte um rassistische Begriffe in Kinderbüchern stehe? Zu Hause bei ihren zwei Kindern, so sagt sie, setze sie auf die Kraft des guten Vorbilds, 'wir spreche nicht von Negerküssen, wenn wir Schokoküsse meinen'. Aber Astrid Lindgren zu zensieren, das gehe dann doch zu weit.

Wenn Yasemin Karakasoglu sich nach der Bundestagswahl daranmachen würde, den Ländern Kompetenzen in Sachen Bildung streitig zu machen, dann würde sie auch mit dem eigenen politischen Lager Kämpfe anfangen müssen. Rote und Grüne in den Ländern sind von den Vorstellungen der Bundes-SPD, die Macht über die Schulen teilweise in Berlin zu bündeln, wenig angetan. Jüngst hat das Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident, der frühere Lehrer Winfried Kretschmann, vorformuliert: Geld aus Berlin nehme man ja gerne, Anweisungen aber nicht.

Und kann man sich vorstellen, wie Karakasoglu einem Bundesfinanzminister gegenübersitzt und 20 Milliarden Euro zusätzliche Bildungsinvestitionen heraushandelt? So viel würde ihr Programm kosten. Die bloße Abschaffung des Betreuungsgeldes, so rechnen sie bei der SPD, würde nur zwei Milliarden davon einbringen. Für die restlichen 18 Milliarden, so sagt Karakasoglu, müsste man eben Steuern erhöhen, was ja nicht zuletzt bedeutet: sich Feinde machen. Man nennt es Politik.

Kommentar: Verwirrte Träume

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So wichtig die Freiheit des Internets ist: Es darf aber kein rechtsfreier Raum ohne staatliche Kontrolle werden.

Viele meinen, das Internet sei ein verschlossenes Netz für private Nachrichten. Das ist ein grundlegender und naiver Irrtum. Seinen Ausgangspunkt findet diese Illusion im Schlagwort von der 'informationellen Selbstbestimmung'. Denn jede einzelne Information hat im Internet einen schreibenden und mindestens einen lesenden User, zudem Zugangs- und Inhaltsprovider und nahezu immer einen Betroffenen, auf den sich die Information bezieht. Informationen im Netz sind also immer personenbezogen, und dies gleich mehrfach. Wem nun sollen die Daten 'gehören'? Wer soll entscheiden dürfen, wer sie in welcher Weise erheben und verarbeiten darf?

Jeder User ist im Internet als Jäger nach Informationen unterwegs. Dabei hinterlässt er technische Spuren, einen Kometenschweif, dessen Partikel ihm mit und ohne Cookies zugeordnet werden können. Sie wiederum sind für andere Jäger interessant, aber auch für Anbieter und Hacker. Alle sind im Netz Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Alle diese wunderbaren Angebote, Werbung, Apps, Youtube, Wikies und alles, alles, was wir sehen und erfahren wollen, bezahlen wir - mit unseren Daten! Ein Glück, dass das meiste im Netz, wie auch sonst im Leben, dünne Suppe ist.



Wie frei darf das Netz sein?

Man kann Privates auch im Netz schützen, also verschlüsseln; diese Mühe müssen wir uns machen. Die Schlüssel gehören uns.

Eine 'informationelle Selbstbestimmung' gibt es - nichts anderes sagt das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 - prinzipiell nur gegenüber dem Staat, weil er gesetzlich gebunden ist. Im Verhältnis der Privaten untereinander gilt eine solche Selbstbestimmung nicht, auch nicht gegenüber international agierenden Konzernen. Denn sie haben weder ein Gewaltmonopol noch sind sie unsere Zwangspartner.

Das EU-Recht setzt sich lächerlich in Widerspruch zur Realität im weltweiten Netz, aber auch zu freien Märkten und freien Einzelnen, wenn es, abgekupfert vom deutschen Bundesdatenschutzgesetz 1977, für jede Datenverarbeitung eine Befugnis verlangt - also ein Gesetz, einen Vertrag oder gar eine Einwilligung, schriftlich wohlgemerkt.

Im Informationszeitalter wäre es eine unerträgliche Knebelung, wenn man von Privaten und Unternehmen verlangt, dass sie sich jede Datenverarbeitung von den Betroffenen genehmigen lassen. Denn die Rezeption, das auch heimliche Aufspüren und Verknüpfen personenbezogener Daten, ist Inhalt aller persönlichen Freiheit. Alle Grundrechte sind ohne informationelle Freiheit leere Hülsen. Daten sind das Fluidum, in dem wir schwimmen und wachsen.

Nicht die mit Mühe und Findigkeit erreichbaren Informationen dürfen uns verboten werden, sondern nur Verletzungen des Persönlichkeitsrechts unserer Mitmenschen. Irgendwie muss der Gesetzgeber des Bundesdatenschutzgesetzes das geahnt haben, denn das dort geschützte Rechtsgut ist keineswegs die 'informationelle Selbstbestimmung', sondern 'das Persönlichkeitsrecht'. Das steht als 'sonstiges Rechtsgut' neben dem Leben, der Freiheit, der Ehre im Zentrum der Rechtsordnung. Übergriffe in die ersichtlich abgeschirmte Privatsphäre sind als unerlaubte Handlung verboten und lösen Unterlassungs- und Schadenersatzansprüche aus, so will es das private Deliktsrecht des BGB. Im Privatrecht ist der Datenschutz folglich schon durch diese Lehre vom Persönlichkeitsrecht garantiert.

Ist es zudem nicht richtig, dass die Strafverfolgungsbehörden Daten dann, wenn es um den begründeten Verdacht schwerer Taten geht, aufsuchen und auswerten? Gilt das Gleiche nicht auch, um Urheber- und Verwertungsrechte zu sichern? Und wenn Gefahrenabwehr - eben ohne Verdacht - noch wichtiger als die vorgenannten Zwecke ist, müssen dann nicht Polizei und Geheimdienste die Daten regelmäßig elektronisch durchkämmen und im Fall eines schweren Gefahrenverdachts personengenau zur Verhütung und Aufdeckung nutzen und wenn möglich entschlüsseln dürfen? Wer ist dagegen?

32 Schriftsteller behaupteten am 26. Juli 2013 in der FAZ: 'Deutschland ist ein Überwachungsstaat'. Man stelle sich vor, es würden zehn Passagiermaschinen der Lufthansa gesprengt, und der Bundesnachrichtendienst hätte erreichbare Informationen aus datenschutzrechtlichen Gründen ungenutzt gelassen. Die gleichen Intellektuellen, die jetzt jammern, sie alle würden betreten schweigen. Geheimdienste, die nicht alle technischen Methoden nutzen, um heimlich Informationen aus allen Bereichen zu ergattern und intelligent auszuwerten, sind nichts wert.

Der Unterschied zwischen den Geheimdiensten eines Rechtsstaats und eines Überwachungsstaats ist weder die technische Aufrüstung, weder die Totalität der beobachteten Bereiche noch die Impertinenz der Ausspähung, sondern die Gesetzesbindung an ausschließlich erlaubte und gesetzlich begrenzte Zwecke - der Gesetzgeber hat dort einen Spielraum - und die parlamentarische, datenschutzrechtliche, exekutive und justizielle Kontrolle der Dienste, sprich die strenge, aufwendig und lückenlos überwachte Zweckbindung der Daten.

Da liegt der Hase im Pfeffer: Systemimmanente Faulheit, Kumpanei, fachliches Unvermögen und politisches Gezänk der Kontrolleure gefährden den Rechtsstaat. Wenn die Geheimdienste gegenüber der Kontrolle mauern oder ihre Zweckbindung verlassen, wenn sie sich etwa zugunsten 'befreundeter Dienste' von ihrer Bindung entfernen, muss das scharfe persönliche, strafrechtliche Konsequenzen haben.

Das Netz als unzensierter Raum, zugänglich für jeden und für alle noch so verdorbenen Inhalte? Das sind die verwirrten Träume von Woodstock. Wir müssen uns trauen, sie zu überwinden. Das Internet muss der Rechtsaufsicht des Staates unterstellt werden, weil es real wirksam und keineswegs 'virtuell' ist. Dennoch kann und muss es ein Ort der Freiheit sein, eben nicht im Sinne einer Vermummung und Zügellosigkeit, sondern als internationale Börse der Meinungsfreiheit. Das Internet ist weder ein Ort der Enthemmung noch eine Parallelwelt.

'Politische Zensur' ist das Totschlagswort, um jeden Staat, eben auch den Rechtsstaat, in die böse Ecke zu stellen. Dem staatlichen Gewaltmonopol - es ist eine mühsam erkämpfte Errungenschaft - ist das 'Wissensmonopol' hinzuzufügen, also die Netzkontrolle zur Sicherung des rechtsstaatlichen Einflusses und zum Schutz des Persönlichkeitsrechts. Das ist ein angstvoller, aber mutiger, notwendiger Schritt. Wir müssen ihn gehen.

"Und die ganze Welt drehte die Köpfe weg"

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Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wirft dem Westen vor, in Ägypten die eigenen Werte zu verraten.

Die türkische Tageszeitung Hürriyet veröffentlichte in ihrer Sonntagsausgabe (18. August) ein Vorabdruck aus Orhan Pamuks neuem, noch unvollendetem Roman. Eingeleitet wird dieser Vorabdruck mit einem Interview, in dem der 61 Jahre alte Schriftsteller auch auf die jüngsten Ereignisse in Ägypten eingeht. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung erläutert Orhan Pamuk, was ihn dabei so irritiert.



Literaturnobelpreisträger Orham Pamuk

SZ: Wie nahe sind Ihnen die Ereignisse in Ägypten, was empört Sie so sehr daran?

Orhan Pamuk: Mir ist die ganze Zeit gegenwärtig, was da geschieht. Ich sitze an meinem Schreibtisch, aber dann gehe ich immer wieder hinüber zum Computer oder zum Fernseher und verfolge die Berichterstattung zu Ägypten. Und immer ist da ein Gefühl von Schuld. Abdel Fattah al-Sisi, der Oberbefehlshaber der Armee, hat ja etwas getan, was man nach dem Titel eines berühmten Romans von Gabriel García Márquez die 'Chronik eines angekündigten Todes' nennen könnte. Zwei Tage, bevor das Militär die Macht übernahm, kündigte er der ganzen Welt seinen Coup an. Und die ganze Welt drehte die Köpfe weg, allen voran der Westen, und wollte nichts wissen. Und jetzt tötet die Armee und tötet, und nicht nur die Regierungen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, sondern auch die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern tut so, als gäbe es da gar keine Verantwortung.

Das könnte ja etwas damit zu tun haben, dass die Möglichkeiten, etwas zu verändern, begrenzt sind, auch für die Vereinigten Staaten. Der ganze Nahe Osten befindet sich ja in Aufruhr.

Es kann schon sein, dass der Westen nach dem sogenannten arabischen Frühling weniger Einfluss in den arabischen Ländern besitzt. Aber das ist nicht der Punkt. Manhätte wenigstens 'Nein' sagen können, laut und deutlich, 'Nein, ein Militärputsch darf kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein'. Stattdessen waren die wichtigsten politischen Institutionen des Westens nicht einmal zwei Tage nach dem Putsch in der Lage zu sagen, dass die Machtübernahme durch das Militär eben ein solcher war.

Nun, man demonstriert seine Machtlosigkeit, wenn man etwas öffentlich missbilligt und der Kritik dann keine Taten folgen.

So kann man schlecht argumentieren. Lassen Sie uns die Sache ganz altmodisch betrachten: Entweder gibt es so etwas wie westliche Werte, wie die Ideale von Demokratie, Meinungsfreiheit und so fort, oder es gibt sie nicht, weil sie immer wieder politischen oder ökonomischen Kalkülen unterworfen werden.

Und warum soll diese Unterscheidung so wichtig sein?

Weil etwas auf dem Spiel steht. Denn hinter diesem Problem erhebt sich die Frage, ob die Ideale von Demokratie und freier Meinungsäußerung noch etwas gelten, wenn sich die Bevölkerung eines Landes gegen eine politische Nähe zu den westlichen Ländern entscheidet. Kann der Westen eine Demokratie dulden, in der sich die Wähler für eine nicht-westlich gesonnene Partei entscheiden? Um diese Frage ging es ja auch in meinem Roman 'Schnee', nur bezogen auf türkische Verhältnisse. Jetzt aber existiert dieses Problem global, dieses Missverhältnis zwischen demokratischen Idealen auf der einen, den westlichen Interessen auf der anderen Seite.

Verloren im American Dream

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Der Berliner Filmemacher Thomas Arslan hat seine Stadt verlassen und im kanadischen Norden gedreht - "Gold", mit Nina Hoss als Pionierin

Doch, es ist schon gut, dass die Deutschen fürs Erste unter sich bleiben in dieser Geschichte, die Dutchmen, wie man sie damals nannte, im Jahr 1898, als aus aller Welt die Menschen nach British Columbia strömten, ins kanadische Klondike-Land, wo es dort faustgroße Goldnuggets geben sollte und das man nur erreichte durch einen wochenlangen, strapaziösen, gefahrreichen Ritt durch die Wildnis, bei dem nur wenige das Ziel erreichten. Aber - etwas Besseres als den Tod, so sahen es diese Menschen, fänden sie allemal.



Nina Hoss als Pionierin in "Gold"

Thomas Arslan hat - überraschend - außerhalb seiner Stadt Berlin gedreht, in einem fremden Land, jenseits der Zivilisation und an den Ursprüngen des Kinos. Es beginnt mit der Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von Ashcroft, das ist die letzte Station vor der Wildnis, dem Nichts. Emily Meyer ist unter denen, die aussteigen, eine junge Deutsche, die von Bremen über den Atlantik kam, sie spricht kaum von der Heimat und der Vergangenheit, hat keine Zukunft dort für sich gesehen. Sie geht, einen Koffer und eine Tasche in den Händen, langsam voran, an dem Corral mit seinen Pferden vorbei, dann die erste Straße des Ortes, ein Schluck Wasser aus einem kleinen Brunnen am Straßenrand. Nina Hoss ist Emily Meyer, sehr aufrechte Haltung, Blicke nach links und nach rechts, sich selbst behauptend als Frau in einer Männergesellschaft, sie macht das sehr pragmatisch und spröde und manchmal auch ein wenig kokett. Sie schließt sich einem kleinen Trupp Deutscher an, alles bürgerlich-biederer Mittelstand, dem 19.Jahrhundert verhaftet und in keiner Weise fähig, dem American Dream, der modernen Zeit sich zu öffnen.

Es ist eine neue Dimension und eine neue Dynamik, die Thomas Arslan hier probiert, seine Berliner Filme, von 'Dealer' bis 'Im Schatten', waren zirkulär, folgen einsamen Männern und Frauen auf ihren Wegen durch die Stadt, beim Versuch, zwischen den verschiedenen Orten ein Muster zu etablieren fürs Leben und Handeln. In 'Gold' gibt nun ein Ziel den Weg vor, und die Bewegung dorthin scheint endlos und monoton. Nahe an den Figuren zu sein und die Weite des Raums zu erzählen, das war das Programm, sagt Arslan, der Film wechselt zwischen langsamen durchrittenen Totalen und der Klaustrophobie dichter Wälder, in denen man sich ohne Orientierung bewegt und in die sich schließlich einer der letzten Überlebenden freiwillig verliert.

Es sind sehr deutsche Motivationen und Besessenheiten, die dem Film dramatisches Potenzial geben, in der besten Tradition deutscher Wildwestgeschichten, von Friedrich Gerstäcker bis Karl May. Exodus, sagt Arslan, der türkisch-deutscher Abstammung ist, das ist kein wirklich deutsches Thema, man empfindet sich, heute, vor allem als Immigrationsland. Die Elemente sind alle da - Pferde, Planwagen, Lagerfeuer, Flussüberquerung, Rache & Verfolgung & Shootout -, aber es ist kein wirklicher Western, das Genre interessiert Arslan nicht unbedingt. Er dokumentiert den Stoizismus der kleinen Handlungen, den seine Akteure entwickeln, wenn sie mit Zaum- und Sattelzeug hantieren, auf- und absteigen, sich auf den Pferden halten.

Noch lieber als Nina Hoss schaut man dabei Uwe Bohm zu, der in diesem Film die Kindlichkeit und Unschuld zurückgewinnt, die er in den Siebzigern hatte in 'Nordsee ist Mordsee' und 'Moritz, lieber Moritz'. Er ist ein Reporter, der anfangs eher angeberisch und unprofessionell daherkommt, aber dann merkt man, er kann mit seiner Kamera mit dem Land eine Beziehung eingehen, mit den Leuten kommunizieren, die es sich erobern wollen.

Gold, D 2013 - Regie, Buch: Thomas Arslan. Kamera: Patrick Orth. Musik: Dylan Carlson. Schnitt: Bettina Böhler. Mit: Nina Hoss, Marko Mandic, Uwe Bohm, Lars Rudolph, Peter Kurth, Rosa Enskat, Wolfgang Packhäuser. Piffl Medien, 101 Minuten.

Hoffnungslos, aber nicht ernst

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Die SPD feiert in Berlin mit einer großen Sause ihren 150. Geburtstag nach, samt Riesenrad, Bratwurst und einem Auftritt von drei Märchenonkeln, die einst die Troika waren. Die Stimmung ist gut - gemessen an der Lage.

Da sitzen die drei wieder in einer Reihe, die Herren der einstigen Troika, die angeblich alle einmal von der Kanzlerkandidatur träumten und sich angeblich trotzdem so gut verstanden. Der, der Herausforderer wurde, kräht, der zweite bellt, der dritte i-aht. Peer Steinbrück, Parteichef Sigmar Gabriel und der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier lesen in einem Zelt unweit des Brandenburger Tores das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vor. Und weil diese Truppe bekanntlich kein Trio, sondern ein Quartett war, musste noch eine Frau her - Schatzmeisterin Barbara Hendricks mimt die Katze. Sie miaut.

Im Programm steht, es handele sich um eine Lesung für Kinder. Die sind aber klar in der Minderheit. Ein gutes Dutzend Jungen und Mädchen krabbelt auf dem Boden, man bohrt in der Nase. Drumherum sitzt und steht eine halbe Hundertschaft SPD-Anhänger, angereist aus allen Ecken Deutschlands, die ihre Führungsleute einmal aus der Nähe erleben wollen. Kein Problem. Auf dem Mini-Podium wird aufgeräumt und gut gelaunt kein Wahlkampf gezeigt, sondern Familienprogramm. Und Stimmungspflege natürlich. Gabriel sagt in der Rolle des Hundes: 'Etwas Besseres als den Tod findest du allemal'. Ein klassischer Mutmacher-Satz. Den kann auch die SPD gut gebrauchen, in diesen Tagen. Nicht nur Funktionäre, sondern auch viele Mitglieder können nicht mehr daran glauben, dass es tatsächlich etwas wird mit einem rot-grünen Wahlerfolg. Eine Dame, angereist aus Nordrhein-Westfalen, schaut etwas wehmütig auf den Märchenonkel Steinbrück. Wird das was mit ihm als Kanzler? 'Nein. Leider, leider nein', seufzt die Dame, erklärtermaßen seit Jahrzehnten SPD-Anhängerin.



Die ehemalige Troika mimte beim SPD-Geburtstagsfest drei von vier Bremer Stadtmusikanten: Steinbrück, Gabriel, Steinmeier.

Die Mega-Party der Sozialdemokraten am Brandenburger Tor, tituliert als Feier zum 150-jährigen Bestehen der Partei, hat die trüben Gedanken nicht verscheuchen können. Aber gemessen an der Lage ist die Stimmung gut. Hunderttausend sind am Samstag auf die Straße des 17. Juni gekommen, wo die Massen sonst Fußball-Spieler feiern oder auch Silvester. Um die Sause hatte es zuvor Ärger gegeben, mit der Stadtverwaltung. Die für Mitte zuständigen Politiker sahen nicht ein, warum man die Straße sperren sollte, ausgerechnet für eine Parteiveranstaltung. Die SPD beteuerte, es sei keine Wahlveranstaltung, sondern ein Bürgerfest, zu dem jedermann eingeladen sei. Der SPD-geführte Senat Berlins erlaubte am Ende die Veranstaltung. Am Samstag schließlich, als all die Leute zwischen Bier-, Wurst- und Infoständen bummeln, mal wieder der Sängerin Nena, den Prinzen und den SPD-Promis lauschen, macht Gabriel auch keinen Hehl mehr aus dem wahren Sinn der Party. So viele Menschen wie die SPD habe die CDU zu ihrer offiziellen Wahlkampferöffnung längst nicht auf die Beine bekommen, verkündet er stolz. Gekommen sind nicht nur Genossen, sondern auch Touristen aus aller Welt und viele Berliner. In der Stadt liebt man Straßenfeste und kostenlose Unterhaltung. Hätten die Sozialdemokraten auch noch eine Wasserrutsche aufgebaut, die Meile wäre sofort wegen Überfüllung geschlossen worden. Immerhin gibt es ein Riesenrad.

Und einen der im Wahlkampf bislang seltenen Großauftritte von Steinbrück. Der zieht bekanntlich kleinere Veranstaltungen vor, bei denen er mit den Zuhörern ins Gespräch kommt. Nicht so vor dem Brandenburger Tor. Auf der Bühne, auf der tags darauf Roland Kaiser seine Midnight Lady besingen wird, steht Steinbrück am Samstag vor der Menge, die SPD-Fahnen und Peer-Plakate schwenkt. Er ist beeindruckt. Und redet dann 50 Minuten lang. Etwas umständlich erklärt er, warum ausgerechnet das Brandenburger Tor der richtige Platz für die SPD-Party ist, die ihren Geburtstag bekanntlich schon im Mai in Leipzig gefeiert hatte.

Folgt man Steinbrück, so ist das Tor nicht nur Symbol für die wechselhafte neuere deutsche Geschichte, sondern auch die der SPD. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann hatte vom Balkon des Reichstags, quasi um die Ecke, am 9. November 1918 die erste deutsche Republik ausgerufen. Im Januar 1933 zogen Nazis durch das Tor, die SPD wurde alsbald aufgelöst. Einen großen Geburtstag konnten die Sozialdemokraten bis 1989 hier nie feiern, Deutschland war geteilt, in der DDR war die SPD verboten. Eine der Geschichtslektionen, die der Kandidat stets hat, diesmal vielleicht auch als Nachhilfe gemeint für die störrischen Bezirkspolitiker von Berlin-Mitte.

Politische Neuigkeiten hat Steinbrück nicht mitzuteilen, man kennt die Versprechen Mindestlohn, bessere Gleichstellung und mehr Geld für Bildung. Aber deutlicher als bisher bekundet er seinen Willen, das Land nach dem 22. September zu regieren. Ein halbes Dutzend Mal sagt er, was er tun werde, wenn er Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sei. Steinbrück hält, wenn man so will, eine Art Probe-Regierungserklärung vor dem Reichstag. Er macht damit Mut - den Anhängern und auch sich selbst.

Exzess mit System

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Die New Yorker Polizei darf jedermann anhalten und durchsuchen. Fast immer trifft es Schwarze und Latinos. Eine US-Bundesrichterin erklärte die Taktik nun für diskriminierend. Wieder einmal ist das Land gespalten

Einige Fragmente aus dem New Yorker Stadtleben:

Am 20. August 2008 steht der schwarze Leroy Downs vor seinem Haus in Staten Island und telefoniert. Zwei Zivilbeamte halten an, sagen, dass er Gras rauche; er solle sich 'verdammt noch mal gegen den Zaun stellen'. Downs erklärt, dass er bloß Suchtberater sei. Die Polizisten tasten ihn ab, ziehen Geldbeutel, Schlüssel und Kekse aus seinen Hosentaschen. Downs verlangt ihre Dienstnummern. Die Beamten lachen und sagen, er könne froh sein, dass sie ihn nicht eingesperrt hätten.

Am Abend des 20. März 2010 ist der 13-jährige Schwarze Devin Almonor in Harlem auf dem Heimweg. Ein Streifenwagen ist unterwegs, weil sich Anwohner über 40 Jugendliche beschwert haben, die sich prügeln und Mülltonnen werfen. Am Straßenrand sehen die Polizisten den jungen Almonor. Ohne ihm auch nur eine Frage zu stellen, drücken sie ihn auf die Motorhaube, legen ihm Handschellen an und durchsuchen ihn. In seinen Hosentaschen finden nur ein Telefon und ein paar Dollar, nehmen ihn aber mit auf die Wache.

David Ourlicht, ein Student mit schwarzen und weißen Vorfahren, geht am Nachmittag des 30. Januar 2008 nördlich von Manhattan nach Hause. In seiner Jacke stecken Geldbeutel, Schlüssel, Telefon, ein dickes Notizbuch. Ein Polizist fragt, wo er hingehe. Ourlicht fragt, warum man ihn aufhalte. Schließlich zeigt Ourlicht seinen Ausweis und verlangt den des Polizisten. Der Polizist sagt, 'jetzt gibt es das volle Programm'. Ourlicht muss sich gegen eine Wand stellen, die Beamten räumen seine Taschen aus. Sie finden nichts.



Die Stop-and-Frisk-Taktik der New Yorker Polizei verstößt laut einer US-Bundesrichterin gegen Grundrechte.

Diese drei Fälle - unter vielen anderen - hat die US-Bundesrichterin Shira Scheindlin in ihrer Entscheidung vom 12. August rekonstruiert. Ihr Ergebnis lautet, dass die 'Stop and Frisk'-Taktik der New Yorker Polizei ('Anhalten und Abtasten'), gegen Grundrechte verstoße, weil sie übermäßig gegen dunkelhäutige Menschen eingesetzt wird. Sie sei diskriminierend und illegal. Die Richterin hat die Taktik nicht unmittelbar verboten, sondern Auflagen angekündigt und mehr Aufsicht verlangt. Linke Kommentatoren haben Scheindlins Mut gepriesen, rechte nennen sie inkompetent und voreingenommen.

Scheindlin stellt eine Taktik in Frage, die als äußerst erfolgreich gilt. Kaum jemand bestreitet, dass die Zahl der Tötungsdelikte und anderer schwerer Straftaten in New York historisch niedrig ist. Die Richterin weist deshalb darauf hin, dass sie nicht über die Effektivität der Taktik befinde; sie konzentriere sich allein auf die Frage, schreibt sie, ob die Polizei im Einklang mit der Verfassung handle.

In der US-Rechtspolitik scheint das Pendel zurückzuschwingen. Politik und Behörden hatten angesichts der Crack-Epidemie und massiver Kriminalität in den Innenstädten der achtziger Jahre vielerorts einen drakonischen 'Law and Order'-Ansatz verfolgt. Schon auf kleine Drogendelikte folgte Haft. Inzwischen aber wachsen Zweifel an der harten Linie. Eine Mehrheit der Amerikaner verlangt, dass weniger weggesperrt wird, allein wegen der Kosten. US-Justizminister Eric Holder hat seine Staatsanwälte aufgefordert, bei Drogendelikten mildere Strafen anzupeilen.

Das jüngste Urteil zeigt, wie demütigend 'Stop and Frisk' auf Betroffene wirkt. Zwar passiert nicht viel, oft ist die Kontrolle nach wenigen Minuten vorbei. Aber die dunkelhäutigen Stadtbewohner, die im Verhältnis öfter aufgegriffen werden als Weiße, fühlen sich kriminalisiert. Selbst wenn sie sich korrekt verhalten, können Polizisten sie jederzeit rüde ansprechen, ihre Hosentaschen durchsuchen und ihnen unlautere Absichten unterstellen.

Der Exzess ist im System angelegt. In den drei geschilderten Fällen folgert die Richterin, dass die Polizei ihre Kompetenzen überschritten habe. Im Fall Leroy Downs, der vor seinem Haus stand, habe es an jedem 'vernünftigen Verdacht' gefehlt. Im Fall des 13-jährigen Devin Almonor habe zwar Unruhe im Viertel geherrscht, Almonor selbst aber habe nichts getan. Selbst wenn er sich verdächtig benommen haben sollte, hätte es genügt, ihn zu befragen, statt Handschellen anzulegen. Und im Fall des Studenten David Ourlicht habe sich schnell herausgestellt, dass das Notizbuch seine Jacke ausbeulte, nicht eine Waffe. Damit hätte die Sache enden müssen.

Meist bleiben Beschwerden folgenlos, es gibt kaum Beweise für die genauen Abläufe. Die Polizisten müssen die Kontrollen kaum protokollieren, kreuzen bloß auf einem Formular an, warum sie Verdacht geschöpft haben, oft vage Kriterien wie 'verstohlene Bewegungen', oder 'verdächtige Ausbeulung' (in der Kleidung).

Die Polizisten stehen unter großem Druck. In Besprechungen mahnen Chefs, dass jeder seinen Fleiß mit möglichst vielen Aufgriffs-Formularen nachweisen müsse, sonst gebe es Fragen von oben. Das spiegelt sich in den Zahlen. Von 2004 bis 2012 'stoppte' die Polizei 4,4 Millionen Personen, wobei sich die Zahl jährlicher Kontrollen in diesem Zeitraum verdoppelt hat. Nur zehn Prozent der Kontrollierten waren weiß. Nur bei einem Bruchteil der Kontrollen fand man Drogen oder Waffen.

Bereits 1999 hatte ein Bericht der New Yorker Justiz Zweifel an 'Stop and Frisk' aufgeworfen, aber Stadtspitze und Polizei haben es beharrlich ignoriert. Scheindlin zitiert sogar leitende Beamte, die sich verächtlich über Bewohner mancher Gegenden äußern. 'Uns gehört das Viertel. Das Viertel gehört nicht denen', sagte ein Chef laut Mitschrift. Viele Kontrollen haben also vor allem mit Statistik und Schikane zu tun. Es ist kein Geheimnis, dass die Polizei bewusst einschüchtert: Die Furcht vor Kontrollen soll junge Männer davon abhalten, Waffen zu tragen. Das ist einerseits gelungen, andererseits aber bringt es ganze Stadtviertel gegen den Staat auf.

Als Gegenbeispiel nennen Experten ausgerechnet Watts, den schwierigen Stadtteil von Los Angeles mit seinen berüchtigten Bandenkriegen. Seit die Polizei dort auf Kooperation setzt, seit sie Bewohnern ihre Arbeit erklärt, seit sie deren Sorgen anhört, seit sie Respekt zeigt, nimmt die Gewalt auf den Straßen ab. Feldversuche zeigen, dass die Zahl schwerer Straftaten sinkt, wenn die Polizei nicht nur konsequent verfolgt, sondern auch als fair wahrgenommen wird. Das New Yorker Modell gilt längst als eines, das Abschreckung über Fairness stellt. Das hat schon deswegen Nachteile, weil die Polizei die Abschreckung aufrechterhalten muss, indem sie immer weiter kontrolliert. Die Richterin vergleicht dies damit, als brenne man ein Haus ab, um die Mäuse loszuwerden.

New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg hat die Richterin Scheindlin jüngst als 'irgendeine Frau' bezeichnet, die 'null Ahnung' von Polizeiarbeit habe. Aus seiner Sicht retten die flächendeckenden Kontrollen Menschenleben, weil Waffen aus dem öffentlichen Raum verschwinden, und sie retten auch das Leben junger Schwarzer und Latinos - die statistisch nicht nur unter den Tätern, sondern auch unter den Opfern stärker vertreten sind als Weiße. Aber Bloombergs Worte müssen nicht die letzten Worte sein. Bloomberg tritt bald ab, und der Wahlkampf um seine Nachfolge beginnt jetzt erst richtig. 'Stop and Frisk' steht nunmehr zur Debatte.

"Ausgerechnet jetzt muss ich krank werden!"

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80 Kinder im Ferienlager - und auf einmal sind 50 davon krank. In welcher ungünstigen Situation bist du schon mal krank geworden?

Sommer, Sonne, Urlaubszeit! Da denkt man ganz sicher nicht daran, wie es ist, krank im Bett zu liegen, mit Kamillentee, Zwieback und Fieberthermometer. Aber manchmal lässt sich eine Krankheit eben nicht davon abhalten, dass gerade nicht Erkältungssaison ist, und überfällt einen einfach trotzdem. So zum Beispiel aktuell in einem Ferienlager im Sauerland, in dem 50 von 80 Kindern mit einem Magen-Darm-Infekt zu kämpfen haben.



Kranksein kommt immer ungelegen - aber manchmal eben besonders ungelegen.

Gerade im Urlaub ist Kranksein furchtbar. Aber gerade im Urlaub passiert es relativ häufig. Viele behaupten, es läge daran, dass der Körper sich nicht mehr gegen irgendwelche Erreger wehrt, wenn er nicht die ganze Zeit leistungsbereit sein muss. Das klingt ein bisschen esoterisch und vor allem, wenn man verreist, liegt es wohl eher an der Klimaanlage im Flugzeug oder dem fremden Essen, dass man auf einmal mit Halsschmerzen im Bett liegt oder die Toilette drei Tage lang nicht verlassen kann. Und nicht nur im Urlaub kommt eine Krankheit besonders ungelegen, sondern auch, wenn man mit Fieber eine wichtige Prüfung schreiben oder sehr, sehr heiser eine mündliche Prüfung absolvieren muss. Wenn man den eigenen Geburtstag oder Weihnachten mit Grippe auf dem Sofa verbringen muss. Wenn man sein Abi- oder Abschlusszeugnis in Empfang nehmen soll, inklusive großer Feier drumrum. Oder wenn man Besuch von jemandem bekommt, den man seit Ewigkeiten nicht gesehen hat.

In welchem äußerst ungünstigen Moment hat dich schon mal eine Krankheit umgehauen? Im Urlaub oder als du Geburtstag hattest? An einem hohen Feiertag oder zu einem Zeitpunkt, an dem du dich ganz besonders auf etwas gefreut hast – das du dann absagen musstest?

Rap Rendezvous: Wir hören neue Platten mit Tone

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Rap-Musik, das bedeutet immer auch Sprache, Austausch, Kommunikation. Aus diesem Grund plaudert jetzt.de jeden Monat mit einem Vertreter aus dem HipHop-Kosmos über aktuelle Rap-Veröffentlichungen. Heute mit Tone über die Neuerscheinungen von MC Fitti, Genetikk, RAF 3.0, J. Cole und Wale.



Tone.

In Sachen Flow und Rap-Technik hat der Frankfurter Rapper Tone früh Maßstäbe gesetzt. Mit seiner damaligen Crew Konkret Finn (mit Iz und DJ Feedback) beeinflusste er Rapper wie Kool Savas, Curse und Azad. Ihr legendärer Song „Ich diss dich“ gilt als einer der ersten deutschen Battle-Rap-Tracks.  

Trotzdem hat es Tone nie wirklich geschafft, aus seinen Fähigkeiten eine große Karriere zu flechten. Das ist unter anderem seinen Alkoholproblemen geschuldet, die er selbst auf dem Track „Du brauchst mich“ von 2005 thematisiert. Er hat zwar immer wieder mit Leuten wie Azad, Curse, Savas oder Xavier Naidoo zusammengearbeitet und 2009 seine „Phantom“-Platte rausgebracht - doch erst jetzt scheint Tone wieder richtig Biss und Ehrgeiz entwickelt zu haben, seine Rap-Karriere noch einmal voranzutreiben. Nachzuhören auf seinem aktuellen Album „T.O.N.E.“.

http://www.youtube.com/watch?v=ZC7pSEAkgpo 

Aber jetzt geht es los mit dem Rap Review Rendezvous und...
 

MC Fitti – Geilon 

jetzt.de: Wie findest du die Platte?

Tone: Das ist nicht meine Abteilung. Ich habe das Gefühl, dass er selbst nicht ernst meint, was er da rappt. Ich selbst habe sehr große Ehrfurcht vor HipHop als Kunstform, aber MC Fitti in seinem overhypten Hahaha-Modus ignoriert das völlig. Damit kann ich nichts anfangen.  

Du giltst ja als Flow-King und als reimtechnisch sehr versiert. Fitti geht eher grobschlächtig zu Werke. Wie bewertest du das?
Seine Ernstlosigkeit finde ich schlimmer als seine Grobschlächtigkeit beim Rappen. Da er durchgängig auf diesem Simpel-Level rappt und das als vermeintliches Stilelement vor sich herschiebt, muss ich allerdings davon ausgehen, dass er gar nicht anders kann – selbst wenn er wollte. Fitti ist ein gutes Beispiel für ein generelles Phänomen unserer Zeit: Es gibt viel zu viel Applaus für Scheiße. 

 http://www.youtube.com/watch?v=Ak1KhIrQ6VY 

Fitti tritt ja sehr 80er-Jahre-mäßig auf; die Zeit also, in der du angefangen hast, dich für Rap zu interessieren. In die „gute alte Zeit“ fühlst du dich aber dennoch nicht zurückversetzt?

Nein. Denn selbst, wenn die Stimmung von einem Beat beim ersten Anspielen ganz cool war, haben seine schlechten Raps das gleich wieder gekillt.  

Weil Fitti eben nicht so „HipHop“ wirkt, fühlen sich auch Leute von ihm und seiner Mucke angesprochen, die sonst nicht viel mit Rap zu tun haben. Findest du das nicht gut?
Letztlich ist das wie früher bei den Fantastischen Vier. Das waren für uns die größten Hampelmänner überhaupt. Das blanke Grauen. Dennoch haben die durch ihren Erfolg natürlich Türen geöffnet, weil generell mehr Aufmerksamkeit auf Rap-Musik gelenkt wurde – der typische Nebeneffekt. Schlimm ist für mich aber vor allem, dass dann immer tausende Leute auf diesen Zug aufspringen, und diese Trittbrettfahrer dann einen Pop-Faktor etablieren, der mit der ursprünglichen Idee des Genres häufig nicht mehr viel zu tun hat.
 

Genetikk – D.N.A. 

Sind Genetikk für dich so was wie der komplette Gegenentwurf zu dem, was MC Fitti macht?

Ja, allerdings – und ich find’s geil. Die erzählen Geschichten. Die können flowen. Und die meinen es ernst. Bei denen fühle ich mich viel mehr zuhause als bei MC Fitti und habe nicht das Gefühl, verarscht zu werden, wenn ich mir schon die Mühe mache, denen zuzuhören. Über die gesamte Spielzeit war es mir von den Beats her aber ein bisschen zu eintönig und 90er-Jahre-mäßig.  

Hat es dich überrascht, dass ein solches Album hierzulande auf Platz 1 der Charts eingestiegen ist?

Ich freue mich auf jeden Fall, dass echte Rap-Fähigkeiten offensichtlich wieder geschätzt werden, bei denen nicht nur Bullshit erzählt wird, um einem Image zu entsprechen. Ich finde es immer gut, wenn sich ein Künstler die Freiheit nimmt, sich zu entfalten und seine Gefühle kreativ ausdrückt, anstatt bloß einem Hype hinterherzurennen und dasselbe zu erzählen wie alle anderen auch.    

http://www.youtube.com/watch?v=phbry03j0So 

Zu deiner Zeit gab es noch nicht viel deutschen Rap. Heute wachsen Jugendliche von Anfang an damit auf. Wie findest du das?

Ich finde es auf der einen Seite super, dass eine Generation heranwächst, die damit groß wird und für die Rap auf Deutsch eine Selbstverständlichkeit darstellt; die dementsprechend keine Berührungsängste damit hat. Auf der anderen Seite kann das natürlich auch dazu führen, dass mit der Zeit bestimmte Werte verloren gehen.  

Wie meinst du das?

In den 90ern waren Skillz und Styles am wichtigsten. In der 2000er-Gangsta-Rap-Welle ging es dann vor allem um Images. Und wenn du als Jugendlicher in diese Image-Zeit hereingeboren wirst und nur diese heruntergebrochene Reim-Stile kennst, bei denen keine geraden Sätze gesprochen werden, weil die sprachlichen Fähigkeiten dafür nicht ausreichen, dann besteht natürlich die Gefahr, dass etwas verloren geht. Das ist ja auch ein bisschen meine Mission: dass ich den Leuten durch Rap-Technik, Styles und Flows zeige, dass es auch anders geht. Aber viele werden sich auch dagegen sträuben, weil das eben mit Arbeit und Fleiß verbunden ist. Und darauf haben die meisten Leute keinen Bock.  

Ist der Umgang mit der deutschen Sprache denn besser geworden?
Das kann man so nicht sagen. Es gibt ja eh nur ein paar Leute, die den Anspruch haben, die deutsche Sprache rund zu bekommen und sich dementsprechend Mühe geben. Viele geben sich ja mit mittelmäßigem Output zufrieden. Ich glaube deshalb, dass man in den 90ern viel besser rappen musste, weil der Fokus damals viel stärker auf der Rap-Technik lag als heute.
 

RAF 3.0 – Hoch 2 

R.A.F. 3.0 hat versucht, auf seinem Album seine Grunge-Sozialisation durch Gruppen wie Nirvana, Soundgarden und Alice In Chains zu verarbeiten. Hast du das herausgehört?

Auf jeden Fall. Der Typ ist krass musikalisch, produziert ja auch viel selbst. Man hört, dass er eine Vision verfolgt hat. Das klingt alles sehr ausgereift. Die Platte war mein Highlight der fünf Alben.  

Kannst du das noch etwas konkretisieren?
Genetikk klangen mir von den Beats insgesamt zu rückwärtsgewandt und 90s-mäßig. RAF 3.0 hat zwar auch Sound-Bezüge zu damals, dennoch klingt alles total modern und fresh. Und sehr atmosphärisch. Das finde ich geil.  

Es ist dir also nicht too much, wenn er da synthetische Sounds wie Claps oder Vocoder-Elemente mit Geigen und E-Gitarren zusammenbringt?
Nein, gar nicht. Das ist alles total durchdacht und klingt super. Man merkt, dass er sich damit auf der einen Seite total selbst verwirklicht hat, gleichzeitig aber auch seine Hörer nicht vergessen hat, die ihm ohne Probleme folgen können.

  http://www.youtube.com/watch?v=8HdlrpxzhIg 

So wie man bei dir einen leichten hessischen Einschlag hört, kann man bei R.A.F. 3.0 heraushören, dass er lange in Österreich gelebt hat. Wie gefällt dir das?
Den Wiener Akzent habe ich bei ihm gar nicht so rausgehört, muss ich gestehen. Der spricht ja doch eher Hochdeutsch.  

Wie stehst du denn generell zu Dialekten im Rap? Du nutzt deinen Dialekt schließlich auch sehr stark.
Ach, ich halte mich sogar noch zurück. Wenn ich richtig loslegen würde und Handkäs mit Musik machen würde, würden mich kaum noch Leute verstehen. Einige finden das bestimmt cool, andere aber eben auch nicht. Einen Dialekt mit reinzubringen hat zwar immer etwas Authentisches, aber es kommt auf das richtige Maß an. Man sollte es nicht übertreiben.
 

J. Cole – Born Sinner 

J. Cole wurde in deiner Heimatstadt Frankfurt geboren. Wusstest du das?
Ja, das hat man mir vor ein paar Tagen gesagt. Finde ich geil. Wir waren also in einer ähnlichen Situation, weil ich auch einen amerikanischen Vater habe – der war allerdings schon wieder weg, bevor ich auf die Welt kam.  

Fühlst du dich dadurch mehr mit J. Cole verbunden?

Ja, irgendwie ist das schon so. Sein Album finde ich auf jeden Fall brutal geil: Sein Flow, wie er sich auf die Beats legt. Der kann’s einfach. Und die Beats sind auch krass. 

 http://vimeo.com/63701853 

Cole hat sich zu Beginn seiner Karriere vor allem durch Mixtapes einen Namen gemacht. Was hältst du davon, zwischen regulären Alben noch mal Mixtapes zu veröffentlichen – zumal dann, wenn die Mixtapes besser aufgenommen werden als die Alben?

Ich hatte es ja noch nie so mit Mixtapes. Ich bin jemand, der lieber Songs für ein geiles Album sammelt. Und ganz ehrlich: Wenn du jedes halbe Jahr einen Release raushaust, verfeuerst du dich total. Du brauchst schließlich auch Input, um Output zu haben. Und woher soll der kommen, wenn du dich permanent nur im Studio einschließt?  

Cole sieht sich selbst bereits in einer Liga mit Nas, Kanye West und Jay-Z. Siehst du das ähnlich oder ist das vermessen?

In Bezug darauf, was die anderen schon für HipHop geleistet haben, kann J Cole natürlich nicht mithalten. Nas hat außerdem geile Stories, Überlegungen und Perspektiven, da kommt Cole noch nicht ganz ran, aber was die Rap-Styles angeht, kann Cole ihm durchaus das Wasser reichen.
 

Wale – The Gifted 

Die Platte trägt den Titel „The Gifted“, also „Der Begnadete“. Ist Wale das in deinen Augen?

Von den Raps her finde ich den geil. Der hat ein paar sehr musikalische Tracks am Start. Aber zwischendurch kommt dann immer ein Bruch, wo er plötzlich so Crunk-mäßig abgeht. Die Zusammenhänge bei der Albumaufteilung habe ich irgendwie nicht ganz verstanden.  

Du meinst die Aufteilung zwischen Party-Tracks und nachdenklichen Stücken?

Ja, genau. Die Balance mag stimmen, aber die Aufteilung nicht. Vom Prinzip finde ich Kontraste ja gut, aber irgendwie fand ich die hier komisch. 

 http://www.youtube.com/watch?v=LW7LHSLvSj4 

Wale hat die Platte als sehr autobiografisch beschrieben. Ist dir das aufgefallen?
Nein. Aber mein Englisch ist auch nicht so gut, dass ich immer alles verstehen würde. Ich muss aber sagen: Manchmal bin ich auch ganz froh darüber. Denn wenn ich jedes Wort verstehen würde, würde ich viele Rapper wahrscheinlich gar nicht mehr so geil finden.  

Der Refrain im Song „Vanity“ stammt ursprünglich vom Song „Mad World“ von Tears For Fears. Was sagst du dazu: Cool oder uncool?
Den Song fand ich prinzipiell geil, aber genau diese Stelle fand ich uncool. Das war zu viel und vollkommen überflüssig. Das hätte er sich schenken können.
 

Tones Alltime-Album-Top-5: 

Eric B. & Rakim – Follow The Leader
Beim Flow von Rakim war mir klar: Genau so muss das sein. Das war das erste Mal, das man von einem Fluss sprechen konnte, so wie der mit den Worten über den Beat gebrettert ist.  

Paris – The Devil Made Me Do It

Auf der Platte haben mir gar nicht mal alle Songs gefallen, aber diejenigen, die mir gefallen haben, bei denen war echt alles zu spät. Der hat einen ähnlichen Flow wie Rakim, bei ihm kommt aber noch diese aggressive Komponente dazu. Von seinen Grundstrukturen beim Reimen hat mich das sehr geprägt.  

Big Daddy Kane – Long Live The Kane

Kane hat nicht nur derbe geflowt, bei dem kamen auch noch diese Reimstrukturen dazu, wo schnell klar war: viel mehr geht fast nicht mehr. Big Daddy Kane hat das Limit dessen, was an Worten und Silben bei korrekter Grammatik in eine Line passt, ausgereizt. Er hat das auf die Spitze getrieben und damit Maßstäbe gesetzt.  

AZ – Doe Or Die
Die Platte hat mir einen richtigen Schock verpasst. Nach Big Daddy Kane ging die Raptechnik einige Jahre eher wieder nach unten, aber AZ hat das Spiel mit verschiedenen Techniken beherrscht. Die Platte habe ich krass studiert.  

Big Punisher – Capital Punishment

Gute Nacht! Bei dem war alles zu spät. Als die Platte rauskam, habe ich kaum noch Ami-Rap gehört, aber bei diesem Album bin ich echt ausgeflippt. Der hat eine gewisse Härte mit Reimtechnik, heftigen Sprüchen, einem unfassbaren Sprachschatz und geilen Beats verbunden. Damit hat er echt den Vogel abgeschossen.

Fladenbrot und Saft-Gelage

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Gegessen wird immer, aber jeder macht es anders. In der Kolumne Kosmoskoch dokumentieren jetzt-User und jetzt-Redakteure jeweils eine Woche lang, was am Abend bei ihnen auf den Tisch kommt, und schreiben auf, warum. Heute: jetzt-Userin ShesSoHigh

Diese Woche hat sich jetzt-User ShesSoHigh die Mütze des Kosmoskochs aufgesetzt.


Montag:



Die Woche geht schonmal ungesund los. Zu Hause bei Mama in Deutschland gewesen, und da isst man natürlich, was man sonst nicht kriegt, vor allem bei 30 Grad. Zu Mittag daher: ein großer Erdbeerbecher.




Dinner gibt es am Flughafen, eine Brezel und das einzige pfandfreie Getränk am Flughafen: Wasser im Tetra Pak.  

Dienstag:



Erster Tag richtig kochen, der Enthusiasmus hat mich gepackt, und ich versuche mich an einem neuen Rezept, das ich auf einem Foodblog gefunden habe: Tomaten-Ricotta-Zuccini-Stapel und dazu Butterbrot. Sieht recht schön aus und schmeckt lecker. Als Getränk gibt's Waldbeersmoothie, gemacht aus Tiefkühlobst: bei dem Wetter angemessen.  

Mittwoch:



Es ist immer noch heiß, es gibt daher weiterhin eher sommerliches Essen. Heute griechischen Teller mit vielen Erinnerungen an den Urlaub auf Rhodos im vergangenen Jahr: Die Idee, Feta einfach mit Gewürzen und Olivenöl im Ofen zu backen, habe ich von dort mitgebracht. Dazu selbstgemachtes Tzatziki, Salat, Halloumi und etwas Brot. Getränk heute: Weisse-Traube-Pfirsich-Saft. Gut war's.  

Donnerstag:



Mein Kollege hat Geburtstag, deswegen geht das Team zum Lunch auswärts essen. Es gibt den besten Burrito der Stadt (auch wenn es auf dem Foto alles etwas blass aussieht) - zumindest habe ich noch keinen besseren angetroffen als diesen: Slow cooked pork burrito bei Wahaca. Nachos gibt's dort auch umsonst, und dazu Hibiskuswasser. Lecker wie immer, darauf kann man sich wirklich verlassen. Ganz schön satt macht mein Lieblingsburrito aber auch. Abends hab ich deshalb keinen Hunger mehr.  

Freitag:



Zum Lunch gibt's Salat mit Fetaresten und Tzatziki von Mittwoch. Habe mir neulich eine Lunchbox gekauft und habe nun ernsthaft Spaß daran, diese zu füllen. Der Enthusiasmus geht sogar so weit, dass ich früher aufstehe und mir wirklich fast jeden Morgen - sofern Zutaten im Kühlschrank sind - einen Salat zurecht mache. Momentan kann man diesen sogar auf dem Dachgarten meines Büros (klingt fancy, ist aber nur ein zum Garten umfunktionierter Teil des Parkdecks) im Sonnenschein genießen.




Abends ist absolutes Resteessen ist angesagt. Der Kühlschrank ist voll mit Salat, Tomaten und Paprika, Hackfleisch ist noch eingefroren und Tzaziki von Mittwoch übrig, große Lust zu kochen hab ich freitagabends aber eher selten. Also wird alles zu einem schnell gemachten Wrap verwurstet, der gar nicht mal soo schlecht schmeckt und immerhin bunt aussieht. Dazu gibt's Eistee Pfirsich.   

Samstag:



Es ist Samstag, die Sonne scheint, wir gehen auswärts frühstücken und lassen es krachen. Beerensmoothie, Limonade, zwei pochierte Eier auf Bagel und, nicht im Bild, Birchermüsli und frischer Obstsalat. Sehr guter Start in den Tag.




Abends in einer Cocktailbar gibts zum Abendessen statt nur Pommes dank eines Fehlers der Bedienung Burger und Pommes. Gratis Burger nimmt man dann doch gerne. Foto leider grauenhaft. Ziemlich fettige Angelegenheit beim Essen, schmeckt aber ganz gut, und die Waffelpommes sind schön. Dazu gibt's einen Cocktail namens "The Fat Russian".   

Sonntag:



Und schon wieder nicht gekocht! Denn alle sechs Wochen geht es mit ehemaligen Kollegen zum Lunch - heute. Ich bestelle Flatbread mit Butternut Squash, Ziegenkäse, Spinat, Nüssen, Pesto und roten Zwiebeln. Dazu Karotte-Orange-Beeren-Saft. Alles tatsächlich sehr lecker, aber auch riesig!




Statt des geplanten schicken gekochten Dinners zum Abschluss der Woche gibt es daher nur: einen Teller Wassermelone.

Auf der nächsten Seite liest duShesSoHighs Antworten auf den Fragebogen zur Kochwoche.

Welchen Stellenwert hat Essen in deinem Leben?
Essen ist mir ziemlich wichtig. Ich mag es, neue Sachen auszuprobieren. Das gilt für neue Restaurants genauso wie für neue Rezepte. Ich bin da ziemlich abenteuerlustig und schrecke vor kaum etwas zurück. Ich esse zum Glück auch fast alles und bin auch relativ schnell genervt, wenn ich mit schwierigen Essern konfrontiert werde, die dies und das nicht mögen und gerade auf jener Diät sind.            

Was ist dir beim Essen und Einkaufen besonders wichtig?
Eigentlich vor allem ausgewogene Ernährung. Ich versuche, möglichst vielseitig zu kochen/zu essen und versuche, eingermaßen ordentliche Zutaten zu kaufen, wobei ich da zugegebenermaßen oft noch mehr drauf achten könnte.

Erinnerst du dich, wann du zum ersten Mal für dich selbst gekocht hast und wer dir das Kochen beigebracht hat? 
Muss irgendwann mit etwa 13 gewesen sein, aber ich glaube, Spaghetti Miracoli gehen eher nicht als "Kochen" durch. Richtig beigebracht hat es mir eigentlich keiner, ich habe mir aber Vieles bei meiner Oma und meinen Eltern abgeschaut und rufe da auch manchmal an, wenn ich ein Rezept oder Zubereitungstipps brauche.

Was war dein Lieblingsessen als Kind?
Dampfnudeln mit Vanillesoße, von Oma gekocht.

Was ist dein aktuelles Lieblingsessen?
Eientlich immernoch Dampfnudeln mit Vanillesoße, hehe. Ich habe auch kein Problem damit, das als Hauptgericht zu essen. Bei Oma zu Hause war das ein vollwertiges Mittagessen.

Was magst du gar nicht?
Rosenkohl.

Mittags warm und abends kalt oder andersrum? 
Meistens abends warm, mittags kalt, aber das ist eine reine Zeitfrage. Abends habe ich Zeit zu kochen, mittags bin ich im Büro. Bin da aber auch überhaupt nicht so streng, es gibt also auch manchmal zwei Mal kalt oder zwei Mal warm am Tag – je nachdem wie viel Zeit ich habe, wie viel Lust ich habe zu kochen, was es gerade in der Kantine gibt und wie meine Freizeitgestaltung aussieht. Da mache ich mir keinen Druck.

Wo isst du am liebsten, am Tisch oder auf dem Sofa?
Sofa. Seit ich zu Hause ausgezogen bin, habe ich immer nur auf dem Sofa gegessen, auch immer schön mit eingeschaltetem Fernseher – es sei denn natürlich, es sind Gäste da, da will man ja nen guten Eindruck machen.
 
Was trinkst du zum Essen? 
Wie man diese Woche gesehen hat – sehr unterschiedlich. Meistens irgendwelche Säfte, die gerade im Angebot sind, oder Wasser, oder worauf ich spontan Lust hatte. Im Winter aber eigentlich immer Tee (Tee geht sowieso immer).

Wie oft gehst du auswärts essen und hast du ein Lieblingsrestaurant? 
Wie man diese Woche gesehen hat – oft. Es gibt einfach so viele Restaurants, quasi wöchentlich kommen neue, spannende dazu, und ich habe einfach Spaß daran, Neues auszuprobieren. Lieblingsrestaurant – nein, zu schwer. Habe einen Lieblingsitaliener, Lieblingsinder, Lieblingsmexikaner, ein Lieblingssushi, aber mich da auf eins festzulegen, ist unmöglich.

Was isst du, wenn es schnell gehen muss? 
Brot oder Salat, auf jeden Fall irgendwas, das man nicht kochen muss.

Was war das aufwändigste Gericht deines Lebens? 
Vergangenes Jahr haben wir für Gäste ein Rezept aus dem Masterchef-Kochbuch gekocht, ich kann es nicht mal anständig ins Deutsche übersetzen: Saag paneer on a pumpkin rosti with tamarind glaze and coconut cream. Allein den Kürbis für die Rösti zu raspeln war ne Heidenarbeit, ich glaube, insgesamt standen wir etwa drei Stunden in der Küche, und ich habe keine gesteigerte Freude daran, Stunden in der Küche zu verbringen und werde schnell ungeduldig, ich erfreue mich eigentlich eher am fertigen Essen. Es hat sich aber gelohnt, es sah spektakulär aus, hat echt Eindruck gemacht und geschmeckt hat’s auch.

Hast du ein Standard-Gericht, wenn Eltern oder Freunde zu Besuch kommen? 
Früher Lasagne, die kann ich wirklich blind einigermaßen gut zubereiten, inzwischen traue ich mich, siehe oben, auch an ausgefallenere Sachen. Ein Standard-Gericht gibt’s da also nicht.  

Welchen jetzt-User oder -Redakteur möchtest du als Kosmoskoch sehen? 
Kochprofi guglhupf_, die hoffentlich noch nicht dran war, mir fehlt da gerade etwas der Überblick.

"Wenn du Rebecca kennst, sende ihr eine Freundschaftsanfrage"

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In Sofia Coppolas neuem Film "The Bling Ring" ist eine beendete Freundschaft nur noch an einem abgefilmten Facebook-Profil zu erkennen. Eine Szene, die unsere Eltern nicht verstehen werden.

Wir sehen Marc am Computer. Er blickt auf den Bildschirm. Dort hat er das Facebook-Profil von Rebecca aufgerufen, mit der er in den vergangenen Monaten Häuser reicher Hollywoodstars ausgeraubt hat. „If you know Rebecca personally“, steht dort, „send her a message or add her as a friend“. Marcs Gesicht ist wie erstarrt. Schnitt.  

Diese kurze Szene in Sofia Coppolas Film „The Bling Ring“, der seit vergangenen Donnerstag in den deutschen Kinos läuft, ist eine der traurigsten in den 90 Minuten, die sonst fast nur aus wilden Partys, euphorischen Raubzügen und Autofahrten mit lauter Musik bestehen. Es ist eigentlich sogar die Szene, die am tiefsten in das emotionale Gerüst der räubernden Teenager blicken lässt, die zeigt, was sie einander bedeuten oder bedeutet haben. Denn was wir hier sehen ist: eine gekündigte Freundschaft. Marc darf Rebeccas Allerheiligstes, ihre Pinnwand voller Fotos, auf denen sie eine Schnute macht und ihren Lindsay-Lohan-Look präsentiert, nicht mehr sehen. Sie verschließt sich vor ihm. Dieser nur sekundenlange Schwenk auf den Computerbildschirm ersetzt, was früher in einem Film ein Dialog gewesen wäre. Ein Gespräch, in dem Rebecca zu Marc gesagt hätte: „Das mit uns ist aus. Ich will dich nie wieder sehen, ab jetzt kenne ich dich nicht mehr.“ Weil dieser Dialog nun ausbleibt und das Ende einer Freundschaft per Einstellung auf ein Facebook-Profil ausgedrückt wird, können unsere Eltern diese Szene wahrscheinlich nicht verstehen.  



Sich gegenseitig fotografieren, die Fotos bei Facebook hochladen: Marc und Rebecca in "The Bling Ring"

Die Jugendlichen in „The Bling Ring“ sind natürlich ein Extremfall, was die Nutzung sozialer Netzwerke und mobiler Kommunikation angeht. Fast ihr gesamtes Leben spielt sich darüber ab. Wenn sie zusammensitzen, verbringen sie die meiste Zeit damit, mit den Handys Gruppenfotos von sich zu machen, und laden sie nachher bei Facebook hoch. Oder sie beklagen sich wie Nicky, gespielt von Emma Watson, tippend darüber, dass Jude Law einfach nicht aufhöre, sie mit Nachrichten zu bombadieren. Trotzdem hat Sofia Coppola etwas geschafft, was vielen Filmen und Serien noch nicht gelingt, aber in Zukunft immer öfter gelingen muss: diese Art der Kommunikation einzubinden, ihre Präsenz und vor allem die Gefühle, die sie auslösen kann, zu transportieren. Der schweigende Marc, alleine vor seinem Computer, vor den Trümmern seiner Freundschaft. Mehr Einsamkeit geht nicht – das weiß jeder, der sich einmal zu oft oder zu sehr auf soziale Medien verlassen hat oder in dessen Leben sie zumindest mehr als nur eine kleine Rolle spielen.  

Lena Dunhams Serie „Girls“ schafft es ähnlich gut, diesen Teil unseres Lebens abzubilden. Zum Beispiel in einer Szene, in der die Protagonistin Hannah minutenlang an einem einzigen Tweet feilt, bis er ihr perfekt erscheint. Auch in der US-Polit-Serie „House of Cards“ wird die heutige Kommunikation so eingebunden, dass ihre Darstellung möglichst nah an die Realität heranreicht: Wo vor ein paar Jahren als höchstes der Gefühle Handydisplays abgefilmt wurden, um SMS zu zeigen, ploppen dort nun die Nachrichten als Schriftbild neben den agierenden Charakteren auf. Sie sind zum Beispiel zu sehen, während Hauptdarsteller Kevin Spacey als Francis Underwood läuft oder spricht. Sie überlagern seine aktuelle Aktion also ebenso, wie sie es in unserer Realität tun, in der wir lesen und tippen, während wir gehen und sprechen. Sogar in deutschen Soaps kommt das Prinzip langsam an und wir sehen „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“-Charaktere, deren Nachrichten auf unserem Fernsehbildschirm erscheinen, während sie sie schreiben.  

Das Einbinden dieser Netzwerke und Kommunikationsformen verändert das Erzählen. Es wird in Zukunft immer mehr Szenen geben, in denen Menschen im Gegenlicht eines Computerbildschirms einsam eine Reaktion zeigen und wir den Bildschirm selbst sehen müssen, um sie zu verstehen. Mehr Szenen, in denen sich die Realität der Figuren und ihre virtuelle Realität überlagern und wir auf zwei Ebenen abstrahieren müssen, um die Geschichte zu verstehen, die erzählt wird. Es ist wichtig, dass sich das Erzählen dahingehend verändert, weil es sonst zu weit von unserer Welt entfernt ist. Aber es ist auch schwierig, die richtige Methode dafür zu finden und die Gleichzeitigkeit von Außenwelt und medialer Welt oder die Tragik, die eine Anzeige auf einem Bildschirm auslösen kann, darzustellen. Damit experimentieren Filme wie „The Bling Ring“ oder Serien wie „House of Cards“ und wir können uns wohl noch auf eine Menge neuer Experimente in dieser Richtung freuen.  

Aber Fernsehabende mit unseren Eltern werden sich dadurch wohl auch verändern. Denn wenn das Erzählen die Gegenwart und ihre Möglichkeiten eingeholt hat und sie einzubinden versteht, dann wird es sich auch von der Welt entfernt haben, die unsere Elterngeneration kennt. Bisher haben wir uns dort, im Erzählten, noch mit ihnen getroffen. Weil im Film Menschen mir knochengroßen schnurlosen Telefonen herumliefen und ab und zu mal ein Foto mit dem Handy machten, während wir in der Realität schon Schwierigkeiten hatten, unseren Eltern unsere Smartphone-Nutzung zu erklären. Bald müssen wir ihnen vielleicht auch erklären, wieso der Junge im Film gerade so traurig ist, obwohl er bloß vor seinem Computer sitzt. 

Paranoid sein ist alles

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John Grishams Schelmenroman "Das Komplott"

Eigentlich geht es ganz zivilisiert zu im Camp Frostburg, Maryland, es gibt "Therapeuten, Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Assistenten aller Art und Dutzende von Verwaltungsbeamten, die in Verlegenheit kämen, wenn sie wahrheitsgemäß erklären müssten, was sie acht Stunden am Tag tun ... Auf dem Mitarbeiterparkplatz am Haupteingang stehen jede Menge gepflegte Autos und Pick-ups."

Camp Frostburg ist eine Strafanstalt mit minimaler Sicherheitsstufe, das heißt keine Mauern, keine Wachtürme, kein Stacheldraht, keine Ganggewalt im Innern. Vom Leben in einem solchen Camp berichtet ein Insider in diesem Buch, ein Insasse, Malcolm Bannister: "Was Gefängnisse angeht, ist ein Camp so etwas wie ein Urlaubshotel ... In den Vereinigten Staaten geben wir pro Jahr vierzigtausend Dollar für die Inhaftierung eines Häftlings und achttausend Dollar für die Ausbildung eines Kindes an der Grundschule aus." Malcolm Bannister wird seinen eigenen Sohn wohl nie wieder sehen, wenige Monate nach seiner Verurteilung hat seine Frau die Scheidung eingereicht, inzwischen ist sie wieder verheiratet.



John Grisham ist in seinem neuer Roman "Das Komplott" mehr an Abläufen interessiert, als an dramatischen Spannungen

Malcolm Bannister ist der einzige Schwarze im Camp. Wegen seiner Hautfarbe hat er deshalb nie die ganz große Karriere geschafft als Anwalt. Dann ist er ungeschickt in eine dumme Geschichte geraten, die, ohne sein Zutun, mit einer Geldwäsche endete - und zu zehn Jahren verurteilt worden. Fünf Jahre hat er abgesessen. Noch einmal fünf will er nicht im Camp bleiben. Die miserabilistischen Tupfer in Bannisters Erzählung täuschen niemand, dieser Mann ist entschlossen und resolut. Er sieht seine Chance, er hat einen Plan.

Ein Richter ist ermordet worden mit seiner Geliebten, in seiner Hütte auf dem Land, und keiner weiß von wem und warum. Nur Bannister - er hat in den Anstalten, wo er einsaß, seine Mithäftlinge in Rechtsfragen beraten und dabei eine Menge merkwürdiger Informationen gesammelt. Er macht einen Deal mit den Behörden, Erlassung der Reststrafe, 150000 Dollar Belohnung, Zeugenschutzprogramm, Gesichtsoperation, neue Identität. Aus Malcolm Bannister wird, in atemberaubendem Tempo und mit verblüffender Gradlinigkeit, Max Baldwin.

Das Tempo, das die Geschichte entwickelt, macht irgendwann misstrauisch, ihr Schwung treibt weit über das gesteckte Ziel hinaus. Es gibt Andeutungen, dass es mit der wiedergewonnenen Freiheit nicht getan ist für Malcolm Bannister. Er will Entschädigung für die Demütigung, die die Gesellschaft ihm bescherte, er will Rache. Er treibt ein böses Spiel, auch die Leser müssen sich in Acht nehmen. Es passieren einige sehr ungewöhnliche Sachen. Das Zeugenschutzprogramm, auf das das FBI so stolz ist, erweist sich ausgerechnet in diesem Fall als porös. Max Baldwin gründet eine Filmproduktion und startet ein Projekt über dubiose Polizeipraktiken. Die Dialektik von Wahrheit und Lüge zeitigt groteske Wendungen, und ein von ihr Verblendeter landet in einem Gefängnis, das in so ziemlich allem das Gegenstück zu Frostburg ist - als einziger Weißer in einer Fünfzehn-Mann-Zelle in einem schmutzigen Gefängnis in Jamaika.

John Grisham ist in seinen Romanen an Abläufen mehr interessiert als an dramatischen Spannungen. "Das Komplott" ist ein klassischer Schelmenroman, über die Eigengesetzlichkeit, mit der das System sich am Ende selbst austrickst, wenn man ihm mal die richtigen Anstöße gegeben hat. In diesem Wirbel ist auch der Urheber, der Akteur, der Held nicht mehr sicher: "Paranoid sein ist alles. Ich lebe, als würde ich ständig beobachtet und belauscht, und versinke von Tag zu Tag tiefer in meiner eigenen Welt der Täuschung."

John Grisham: Das Komplott. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya. Heyne Verlag, München 2013. 447 Seiten, 22,99 Euro.

Nein und nochmals nein

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Ein "gescheiterter Intellektueller" reüssiert als Twitter-Pausenfüller

Natürlich, wir müssen effizienter werden. Die Zeit besser nutzen. Das Leben und die Arbeit optimieren. Mehr Informationen in kürzerer Zeit aufnehmen und ausspucken. Und wenn das Ich dagegen aufbegehrt, oder nur das Es - beziehungsweise, wie die Deutschen autoaggressiv jammern: ihr innerer Schweinehund, ja dann daddelt der Mensch herum. Der eine verfängt sich in den Untiefen von Youtube-Videos, der andere muss unbedingt - wie in den vergangenen Tagen Zigtausende Internetsurfer - einem kalifornischen Straußenbaby beim Schlüpfen zuschauen, und das stundenlang. Leider aber lässt sich Schwachsinn nicht mit Schwachsinn bekämpfen, und der Hektik und Oberflächlichkeit entgeht man durch ausweichende Verdummung gerade nicht.



Unter dem Namen "Nein.@NeinQuarterly" unterhält ein amerikanischer Germanistikprofessor die Twittergemeinde mit konseqentem Neinsagen.

"Was tun?" fragt Lenin. "Sorry, Lenin. There"s nothing to be done." Sagt Herr Nein im Kurznachrichtendienst Twitter, dort zu finden unter dem Namen Nein.@NeinQuarterly. Herr Nein hat auf alles eine Antwort. Sie lautet: Nein, nein und nochmals Nein. Nichts und niemand ist die Lösung. Es lebe die produktive Hoffnungslosigkeit, denn: "Business models come and go. Despair is forever." Geschäftsmodelle kommen und gehen, die Verzweiflung bleibt. Herr Nein hat selbst ein Business-Modell, es heißt "something for nothing" und besteht darin, Twitternutzer dazu zu bringen, ihm mit Hilfe des Bezahlsystems Paypal Geld zu überweisen für Nein Quarterly, eine intellektuell ambitionierte Zeitschrift, die gar nicht existiert.

Und tatsächlich, die Leute geben dem Schlawiner Geld für sein großes Nichts. Weil er einem so liebenswert und klug die Zeit vertreibt mit seinem geballten Unsinn, seinen lakonischen Aphorismen über Hegel und die Frankfurter Schule, mit Zurufen wie "Nobody said Weltschmerz was going to be fun" oder Wortschöpfungen wie "Misskunst", "Bußfall", "Morgenmuffeldorado" und "Wax Meber" als Anspielung auf den Soziologen Max Weber, einen von Neins Heroen neben Susan Sontag, der jeden Sonntag gehuldigt wird.

Hinter dem missmutigen Adornogesicht mit Zwickel, als das Herr Nein einen in seinem Logo anschaut, steckt Eric Jarosinski, ein Germanistikprofessor aus Pennsylvania. Außer, dass "er beißt", wie einer seiner Schüler warnt, wissen Twitternutzer über Jarosinski fast nichts. Über seinen Doppelgänger dafür alles. Er ist ein an Walter Benjamin geschulter Flaneur, der auf Berlinbesuch Kaugummiautomaten, Seifenspender und Wahlplakate fotografiert ("Erst als Tragödie. Dann als Farce. Dann als Spitzenkandidat.") Abends hängt der nach Selbstauskunft "gescheiterte Intellektuelle" bei einem Glas Riesling in der Bar rum, auf einen Klönschnack mit Leo Trotzki, Jorge Luis Borges oder seinem Lieblingsbuchstaben, dem ü. Wenn es gut läuft, dann kann er nachts sagen: "I hugged a lonely hipster. And I liked it." Ich habe einen einsamen Hipster umarmt, und es gefiel mir. Wenn es nicht so gut läuft, bleibt abends in der Küche nur der Ausruf: "Erzähl mir von der Liebe, Gurkenfass."

Tagsüber hadert Herr Nein dann mit seiner Schreibtischarbeit: "Somewhere the author sits quietly at a desk, dead." Das Diktum vom Tod des Autors überwindet er derweil, indem er sich selbst zur Kultfigur stilisiert. Was gelingt: Mehr als 32000 Menschen saugen seine Twittersprüche auf, oft im Zehnminutentakt. So gescheit und gescheitert wie dieser Intellektuelle sich gibt, ist er die allerbeste Ablenkung. Ein Rebell für die Zeitverschwendung. Künftig werden wir nicht unseren Schweinehund loslassen, sondern unsere inneren Herrn und Frau Nein.
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