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Siggi und das weiße Gold

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Die Amerikaner lieben Jogurt. Ein isländischer Jungunternehmer profitiert von dem Boom des Milchproduktes.

Siggi Hilmarsson trägt langes Haar und Bart, so wie das in den Siebzigerjahren modern war. Wenn er von seinem Loft in Chelsea zu einer Stammkneipe am Broadway, dem Odeon, hinübergeht, schützt er sich mit einem Parka gegen die Kälte. Der 37-jährige Junggeselle ist sicher nicht der klassische Jungunternehmer. Niemand sieht Siggi jedenfalls an, dass er Herr über eines der am schnellsten wachsenden Unternehmen New Yorks ist. Um 60 Prozent legte der Umsatz der Icelandic Milk and Skyr Corporation 2013 zu.

Das Produkt des Unternehmens ist Joghurt. Genauer: Skyr, ein extrem verdickter Joghurt aus entrahmter Milch, der in Island als Nationalgericht gilt. Siggi ist Isländer und lebt seit über zehn Jahren in New York. Seine Firma lebt von der neuen und unglaublichen Begeisterung Amerikas für Joghurt. Besonders junge Leute sind regelrecht verrückt danach. Während des vergangenen Jahrzehnts hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch von 2,83 Liter auf 5,46 Liter mehr als verdoppelt. Das unbestrittene Zentrum des Booms ist New York.

Insgesamt 30 Joghurt-Fabriken arbeiten in dem Bundesstaat, doppelt so viele wie im Jahr 2000. Sie verarbeiten 1,2 Milliarden Pfund Milch im Jahr und beschäftigen 8070 Mitarbeiter. „Ich hoffe, New York wird die Joghurt-Hauptstadt der Vereinigten Staaten, wenn nicht gar der Welt“, sagt Sheldon Silver, Sprecher des Staatsparlaments in der Hauptstadt Albany. Und der Präsident des Farmbüros von New York, Dean Norton, träumt von einem neuen Silicon Valley, einem „Joghurt-Imperium“.

Mitten in dem Boom findet Siggis Aufstieg statt, eine klassische New Yorker Karriere. Siggi – der Zusatz Hilmarsson ist nur ein Hinweis auf seinen Vater; Isländer kennen keine Nachnamen – studierte Ökonomie an der Universität Reykjavik und arbeitete danach zwei Jahre bei einer Bank. Nach New York kam er 2002, um einen Abschluss an der Columbia University zu erwerben. „Dabei habe ich mich in die Stadt verliebt“, sagt er. Es gab nur ein Problem: Amerikanischer Joghurt schmeckte grauenhaft: „Die haben 107 Gramm Zucker in einen Becher getan, das ist mehr als in einer Cola.“ Richtig wären elf Gramm, sagt Siggi. Also besorgte er sich Joghurt-Kulturen und begann in seiner Küche mit Tüchern, Schüsseln und Eimern zu produzieren. Das Wissen hatte er von daheim. „Meine Eltern haben sehr traditionell gegessen – Fisch, Kartoffeln.“ Und eben Skyr.

Die ersten Ergebnisse von Siggis Bemühungen waren „gemischt“, wie er einräumt. Ende 2005 jedoch war er schließlich so weit, dass er sein Produkt unter Freunden verteilen konnte. Unter denen war auch eine gewisse Liz Thorpe, die bei Murray’s arbeitete, einem traditionsreichen Käsegeschäft im West Village. Liz meinte, Murray’s werde den Skyr sehr gerne in die Regale stellen, vorausgesetzt er könne „auf professioneller Basis“ liefern.

So beschloss Siggi, Joghurt zum Beruf zu machen. Er tat eine Fabrik in Norwich auf, einer Kleinstadt im Nordosten des Bundesstaats, und begann mit der Auftragsfertigung. Die Milch kam von Ökobauern in der Umgebung. Viele erklärten Siggi für verrückt. Es war die Zeit, als die Finanzspekulation in Island heiß lief. „Jeder, der einen Abschluss von der Business School hatte, ging zu einer Bank und wollte das große Geld machen.“ Siggi dagegen machte Skyr. Er begann mit dem Verkauf auf Farmermärkten und in Delikatessgeschäften in Manhattan. Dann kam der Durchbruch: Ein Einkäufer der Bio-Supermarktkette Wholefoods entdeckte Joghurt. Als in Island 2008 die Finanzblase platzte, war „Siggi’s“ bereits eine nationale Marke an der Ost- und der Westküste. Heute beliefert er mit 14 Mitarbeitern 3500 Geschäfte in den USA. Das Wachstum geht mit unverändertem Tempo weiter. Gerade hat Siggi eine neue Produktlinie gestartet: schwedische Sauermilch.

Siggi ist nur einer von vielen, die bei dem neuen Boom mitmachen. Wie vieles in Amerika, ist die Liebesgeschichte des Landes mit dem Joghurt eine faszinierende Geschichte, in der es um kulturellen Wandel, um Einwanderung und habituelle Neugier geht. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Joghurt in den USA praktisch unbekannt. Dann, im Jahr 1941 floh ein katalanischer Unternehmer namens Daniel Carasso vor den Nazis aus Frankreich nach New York. Dessen Vater hatte in Barcelona das Milchunternehmen Danone gegründet. Carasso öffnete einen Milchladen in der Bronx und begann Joghurt unter dem Markennamen „Dannon“ zu verkaufen. In den Fünfzigerjahren entschloss sich Carasso, sein Produkt zu „amerikanisieren“, wie er das damals nannte. Dem Joghurt wurden Früchte zugesetzt, der natürliche säuerliche Geschmack verschwand unter Zucker und Gelatine. Auch in Deutschland versuchte man damals, Joghurt so dem Massengeschmack anzupassen.

Aber Amerika änderte sich und eine neue Generation wollte nicht nur gesundes, sondern auch authentisches Essen. So entdeckte New York den griechischen Joghurt, oder das, was die Athener Molkerei Fage seit 1998 unter diesem Namen verkaufte. Es war durchgeseihter und dadurch fester Joghurt, ein bisschen ähnlich wie Siggis Skyr, der wirklich nach Joghurt schmeckte. Den eigentlichen Durchbruch für das griechische Produkt brachte ein Einwanderer aus der Türkei. Hamdi Ulukaya war als junger Student nach Troy in New York gekommen, um Englisch zu lernen. Er blieb im Land und fing an, weißen Schafskäse herzustellen, weil er in New York keinen vernünftigen Feta bekam. Im Jahr 2005 kaufte er eine stillgelegte Käsefabrik, die einmal Kraft Foods gehört hatte. Hier begann er griechischen Joghurt unter dem Markennamen Chobani zu produzieren. Heute, knapp neun Jahre später, ist Chobani der meistverkaufte Joghurt Amerikas. Ulukaya, mittlerweile 42, beschäftigt 2000 Mitarbeiter und steht mit einem Vermögen von 1,1 Milliarden Dollar auf der Forbes-Liste der reichsten Männer der Welt auf Platz 1268.

Der Boom hat inzwischen auch Deutsche angezogen. Im vorigen Jahr eröffnete Müller Quaker Dairy in Batavia unweit der Niagarafälle eine Joghurt-Fabrik – die Firma ist ein Gemeinschaftsunternehmen von Pepsico und Theo Müller aus Aretsried. Die Molkerei Ehrmann baute bereits 2011 in Brattleboro im benachbarten Vermont ein Werk. Die Produktion von Joghurt wuchs zuletzt so schnell, dass im Staat New York die Kühe ausgingen, allen Ernstes. Landwirtschaft ist in den USA, nicht anders als in Europa, streng reguliert, was bedeutet, dass die Farmer bei steigender Nachfrage nicht einfach die Preise erhöhen oder ihre Herden vergrößern können. Im vergangenen Jahr rief New Yorks Gouverneur Mario Cuomo daher einen „Joghurt-Gipfel“ zusammen. Als Ergebnis des Treffens erhöhte der Staat die Höchstgrenze für Milchkuhbestände von 199 auf 299 Tiere. Der Boom kann also weitergehen. Und niemand weiß, wo Siggi einmal landen wird.

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