NADINE
Im Kindergarten war man entweder „so“ (Daumen runter) oder „so“ (Daumen hoch) mit jemandem Freund. Zwar standen Freundschaften wegen Streitigkeiten über die Rollenverteilung von Vater-Mutter-Kind in der Puppenecke und über die Lieblingsklötze in der Bauecke manchmal auf wackligen Beinen. Doch selbst wenn sie gekündigt wurden – beim gemeinsamen Gummitwist, Gänseblümchensuppe-Kochen und Maoam-Essen mit Papierchen konnten sie im Nu wiederaufgenommen werden.
Von den Kindergartenkumpels über die Schulfreundinnen bis zur Studenten-Clique stieg der Aufwand, den man in die Gründung und Aufrechterhaltung einer Freundschaft stecken musste, stetig an. Hatte man im Kindergarten durch das Verschenken eines Turtles-Aufklebers beim anderen für immer ein Stein im Brett, musste man auf dem Gymnasium gute Ratschläge und heiße Ohren in stundenlange Telefonate investieren. An der Uni bestand hingegen die größte Hürde darin, in der plötzlich bunt durchmischten Gruppe von Geschlechtern und sexuellen Orientierungen nicht aus Versehen was mit dem besten Freund oder der besten Freundin anzufangen – was bei Sebi und mir auch nur mäßig funktioniert hat.
Je älter ich werde, desto lieber und teurer sind mir deshalb Freundschaften, die trotz allem Bestand haben. Dabei kann „trotz allem“ inzwischen die verschiedensten Ausprägungen annehmen: Trotz der Tatsache, dass man hunderte Kilometer voneinander entfernt wohnt, sich nur ein Mal im Jahr an Weihnachten sieht, dass es inzwischen Ehegatten gibt, Kinder und manchmal sogar richtige Jobs.
Doch nicht nur weil die Freundschaften sich gegen alle Widerstände bewährt haben, weiß ich sie zu schätzen, sondern auch, weil es so schwer ist, neue Freunde zu finden. Der eine passt einem nicht wegen seiner politischen Einstellung, der andere will immer im Mittelpunkt stehen, der dritte ist Workaholic und hat nie Zeit. Hinzu kommt, dass man als postmoderner Mensch ja auch gar nicht mehr weiß, wie man eigentlich Freundschaften schließt: Ab dem wievielten zufälligen Treffen kann man nach einer Handynummer fragen oder wirkt das grundsätzlich aufdringlich? Hat der andere überhaupt Interesse an neuen Freunden oder sowieso genügend soziale Verpflichtungen mit seinen alten? Kann man ohne Facebook-Account überhaupt erwarten, zu Partys eingeladen zu werden? Und mit wem soll ich (morgen) meinen Geburtstag feiern?
Das Traurigste an meinem Umzug zu Sebi war, dass ich von meinen Freunden in Berlin wegziehen und mich genau diesen Fragen wieder einmal stellen musste. Und obwohl ich mich inzwischen gut eingelebt habe, ist es immer noch das Traurigste geblieben.
Ich war nie so ein Schnell-Freundefinder wie Sebi, der mit ein paar Jungs kicken oder zocken geht und danach stolz berichtet, dass er schon wieder elf neue Freunde hat (von denen er nur noch nicht die Namen kennt). Ich brauche zum Freundefinden immer etwa ein Jahr.
In Ludwigsburg gibt es natürlich auch viele nette Leute, die aber meistens schon Sebis Freunde, Sebis frühere Mitbewohner und Sebis frühere Nachbarn sind. So kam es, dass bei der großen Hausparty mit der WG über uns Sebi 17 Gäste hatte und ich nur einen (meine Schwester). Unter anderem deshalb, weil Sebi in der Einladung meinen Namen vergessen hatte. Kurz vor der Party wollte ich mich verstecken, denn ich fühlte mich wie ein +1 und vermisste meine alten Freunde. Wegen dem einen eigenen Gast (meiner Schwester) ging das aber nicht. Als ich die Treppe zur Partywohnung hinaufstieg, wurden mir die Beine schwer. Eine halbe Stunde später mixte ich mit Maike hinter der Cocktailbar Drinks, verabredete mich mit Svenja zum „We invented Paris“-Konzert, tanzte mit Lukas und Petja und merkte, dass sie alle mich gar nicht wie ein +1 behandelten, sondern wie eine ganz normale 1.
Wenn man älter wird, denkt man oft, dass im Kindergarten alles einfacher war. Aber vielleicht traut man sich heute bloß nicht mehr, einfach mal zu fragen: „Sind wir jetzt eigentlich ‚so’ (Daumen hoch) oder ‚so’ (Daumen runter) Freunde?“
[seitenumbruch]SEBASTIAN
Eigentlich ist es mir nie schwer gefallen, Leute kennen zu lernen. Zumindest nicht mehr, nachdem ich verstanden hatte, dass in einer Gruppe von Leuten, in der niemand niemanden kennt, ein initiatives Bonbon den Unterschied zwischen Freund- und Feindschaft bedeuten kann. Und so hatte ich in solchen Situationen einfach immer eine Tüte Bonbons in der Jackentasche. Man kommt sich zwar selbst wie ein Kinderschreck vor, während man die Kamellen in der Tasche dreht, aber mit den Freunden klappt es ab diesem Moment in der Regel deutlich besser.
Nadine hatte es da schon schwerer. Denn erstens mag sie Bonbons nicht, weil ihr die zu klischeehaft sind (Bonbons seien das erste, was einem einfällt, wenn man an Süßigkeiten denkt) und zweitens redet sie nicht gern mit fremden Leuten.
Eine meiner größten Ängste war, dass Nadine nach ihrem Umzug nach Ludwigsburg stets allein zu Hause auf der Couch säße, niemanden kennen lernen, und immer, wenn ich mich mit Freunden träfe, traurig gucken würde. Daher nahm ich mir vor, ihr dabei zu helfen, ihr eigenes, tragfähiges soziales Netz aufzubauen – völlig uneigennützig, versteht sich! Und Nadines größte Angst war es, dass ich ihr die Bekanntschaft mit neuen, fremden Leuten aufzwingen würde. Das war natürlich zunächst mal ein Problem. Daher schlossen wir einen Deal: Nadine sollte drei Hobbys anfangen und ich mich mit diesem Engagement zufrieden geben. Solange sie das nicht erfüllt hätte, wäre jeder traurige Blick ihrerseits untersagt. Ein bombensicherer Plan! Wem würde es nicht gelingen, bei drei Hobbys zumindest einige wenige neue Freunde zu finden? Und dann kam sie mit folgenden Vorschlägen um die Ecke:
1. Schwimmen. Optimal für Nadines Strategie: Man ist einen Großteil der Zeit unter Wasser, so kann man niemanden ansprechen und hat seine Ruhe. Zudem sind die anderen Schwimmer meist über 70 und offenbar bereits bestens mit Freunden versorgt, immerhin sind sie ausschließlich in Formationen von drei bis fünf nebeneinander schwimmenden Omis anzutreffen.
2. Chor. Auch dieses neue Hobby bot sich an, um mit niemandem reden zu müssen, denn bekanntlich singt man die meiste Zeit und den Rest des Abends muss man sein Stimmchen schonen, für den großen Auftritt oder eine andere Probe oder für sonst irgendwas.
Für den dritten Vorschlag musste Nadine sehr lange überlegen. Triumphierend sprang ich in der Wohnung umher und umarmte schon die da kommende Freiheit, wie einen lange vermissten Freund. Bis Nadine freudig grinsend bekanntgab:
3. Space Alert - Spielegruppe. Weg war der Traum von Freiheit. Sie traf mich an meinem schwächsten Punkt. Denn Space Alert ist unser beider liebstes Spiel. Es zeichnet sich durch eine Spielanleitung aus, deren Erläuterung einen ganzen Abend benötigt. Leider sind die meisten Menschen (zu unserem blanken Unverständnis) davon eher abgeschreckt und so wurde es traurige Gewohnheit, dass von den vier zwingend benötigten Mitspielern selten mehr als einer nach dem Einführungsabend zum eigentlichen Spiel erschien. Mit der Folge, dass die schnell nachbestellten Mitspieler erneut eine Einführung von der Dauer eines Spieleabends erhalten mussten, was meist dazu führte, dass selbst der letzte verbliebene Veteran die Segel strich. Ein schreckliches Dilemma! Daher schwor ich mir damals, erst dann ein neues Spiel zu wagen, wenn ich die ideale Crew aus fünf wahnsinnigen Spielenerds zusammengestellt hatte, die keine Regelwindung schrecken könnte. Und wie Nadine sehr gut weiß, warte ich darauf noch heute vergeblich...
So kam es, dass es Nadine gelang, unseren Deal zu erfüllen und trotzdem niemanden ansprechen zu müssen. Seitdem sitze ich abends meistens neben ihr auf der Couch. Vorgestern sind wir übrigens bei Nico zum Raclette eingeladen worden. Und als ich da so saß und Nadine und die übrigen Gäste betrachtete, wurde für einen Moment die Hoffnung wach, dass es ja vielleicht auch so klappen könnte, mit den neuen Freunden.
sebastian-hilger
Im Kindergarten war man entweder „so“ (Daumen runter) oder „so“ (Daumen hoch) mit jemandem Freund. Zwar standen Freundschaften wegen Streitigkeiten über die Rollenverteilung von Vater-Mutter-Kind in der Puppenecke und über die Lieblingsklötze in der Bauecke manchmal auf wackligen Beinen. Doch selbst wenn sie gekündigt wurden – beim gemeinsamen Gummitwist, Gänseblümchensuppe-Kochen und Maoam-Essen mit Papierchen konnten sie im Nu wiederaufgenommen werden.
Von den Kindergartenkumpels über die Schulfreundinnen bis zur Studenten-Clique stieg der Aufwand, den man in die Gründung und Aufrechterhaltung einer Freundschaft stecken musste, stetig an. Hatte man im Kindergarten durch das Verschenken eines Turtles-Aufklebers beim anderen für immer ein Stein im Brett, musste man auf dem Gymnasium gute Ratschläge und heiße Ohren in stundenlange Telefonate investieren. An der Uni bestand hingegen die größte Hürde darin, in der plötzlich bunt durchmischten Gruppe von Geschlechtern und sexuellen Orientierungen nicht aus Versehen was mit dem besten Freund oder der besten Freundin anzufangen – was bei Sebi und mir auch nur mäßig funktioniert hat.
Je älter ich werde, desto lieber und teurer sind mir deshalb Freundschaften, die trotz allem Bestand haben. Dabei kann „trotz allem“ inzwischen die verschiedensten Ausprägungen annehmen: Trotz der Tatsache, dass man hunderte Kilometer voneinander entfernt wohnt, sich nur ein Mal im Jahr an Weihnachten sieht, dass es inzwischen Ehegatten gibt, Kinder und manchmal sogar richtige Jobs.
Doch nicht nur weil die Freundschaften sich gegen alle Widerstände bewährt haben, weiß ich sie zu schätzen, sondern auch, weil es so schwer ist, neue Freunde zu finden. Der eine passt einem nicht wegen seiner politischen Einstellung, der andere will immer im Mittelpunkt stehen, der dritte ist Workaholic und hat nie Zeit. Hinzu kommt, dass man als postmoderner Mensch ja auch gar nicht mehr weiß, wie man eigentlich Freundschaften schließt: Ab dem wievielten zufälligen Treffen kann man nach einer Handynummer fragen oder wirkt das grundsätzlich aufdringlich? Hat der andere überhaupt Interesse an neuen Freunden oder sowieso genügend soziale Verpflichtungen mit seinen alten? Kann man ohne Facebook-Account überhaupt erwarten, zu Partys eingeladen zu werden? Und mit wem soll ich (morgen) meinen Geburtstag feiern?
Das Traurigste an meinem Umzug zu Sebi war, dass ich von meinen Freunden in Berlin wegziehen und mich genau diesen Fragen wieder einmal stellen musste. Und obwohl ich mich inzwischen gut eingelebt habe, ist es immer noch das Traurigste geblieben.
Ich war nie so ein Schnell-Freundefinder wie Sebi, der mit ein paar Jungs kicken oder zocken geht und danach stolz berichtet, dass er schon wieder elf neue Freunde hat (von denen er nur noch nicht die Namen kennt). Ich brauche zum Freundefinden immer etwa ein Jahr.
In Ludwigsburg gibt es natürlich auch viele nette Leute, die aber meistens schon Sebis Freunde, Sebis frühere Mitbewohner und Sebis frühere Nachbarn sind. So kam es, dass bei der großen Hausparty mit der WG über uns Sebi 17 Gäste hatte und ich nur einen (meine Schwester). Unter anderem deshalb, weil Sebi in der Einladung meinen Namen vergessen hatte. Kurz vor der Party wollte ich mich verstecken, denn ich fühlte mich wie ein +1 und vermisste meine alten Freunde. Wegen dem einen eigenen Gast (meiner Schwester) ging das aber nicht. Als ich die Treppe zur Partywohnung hinaufstieg, wurden mir die Beine schwer. Eine halbe Stunde später mixte ich mit Maike hinter der Cocktailbar Drinks, verabredete mich mit Svenja zum „We invented Paris“-Konzert, tanzte mit Lukas und Petja und merkte, dass sie alle mich gar nicht wie ein +1 behandelten, sondern wie eine ganz normale 1.
Wenn man älter wird, denkt man oft, dass im Kindergarten alles einfacher war. Aber vielleicht traut man sich heute bloß nicht mehr, einfach mal zu fragen: „Sind wir jetzt eigentlich ‚so’ (Daumen hoch) oder ‚so’ (Daumen runter) Freunde?“
[seitenumbruch]SEBASTIAN
Eigentlich ist es mir nie schwer gefallen, Leute kennen zu lernen. Zumindest nicht mehr, nachdem ich verstanden hatte, dass in einer Gruppe von Leuten, in der niemand niemanden kennt, ein initiatives Bonbon den Unterschied zwischen Freund- und Feindschaft bedeuten kann. Und so hatte ich in solchen Situationen einfach immer eine Tüte Bonbons in der Jackentasche. Man kommt sich zwar selbst wie ein Kinderschreck vor, während man die Kamellen in der Tasche dreht, aber mit den Freunden klappt es ab diesem Moment in der Regel deutlich besser.
Nadine hatte es da schon schwerer. Denn erstens mag sie Bonbons nicht, weil ihr die zu klischeehaft sind (Bonbons seien das erste, was einem einfällt, wenn man an Süßigkeiten denkt) und zweitens redet sie nicht gern mit fremden Leuten.
Eine meiner größten Ängste war, dass Nadine nach ihrem Umzug nach Ludwigsburg stets allein zu Hause auf der Couch säße, niemanden kennen lernen, und immer, wenn ich mich mit Freunden träfe, traurig gucken würde. Daher nahm ich mir vor, ihr dabei zu helfen, ihr eigenes, tragfähiges soziales Netz aufzubauen – völlig uneigennützig, versteht sich! Und Nadines größte Angst war es, dass ich ihr die Bekanntschaft mit neuen, fremden Leuten aufzwingen würde. Das war natürlich zunächst mal ein Problem. Daher schlossen wir einen Deal: Nadine sollte drei Hobbys anfangen und ich mich mit diesem Engagement zufrieden geben. Solange sie das nicht erfüllt hätte, wäre jeder traurige Blick ihrerseits untersagt. Ein bombensicherer Plan! Wem würde es nicht gelingen, bei drei Hobbys zumindest einige wenige neue Freunde zu finden? Und dann kam sie mit folgenden Vorschlägen um die Ecke:
1. Schwimmen. Optimal für Nadines Strategie: Man ist einen Großteil der Zeit unter Wasser, so kann man niemanden ansprechen und hat seine Ruhe. Zudem sind die anderen Schwimmer meist über 70 und offenbar bereits bestens mit Freunden versorgt, immerhin sind sie ausschließlich in Formationen von drei bis fünf nebeneinander schwimmenden Omis anzutreffen.
2. Chor. Auch dieses neue Hobby bot sich an, um mit niemandem reden zu müssen, denn bekanntlich singt man die meiste Zeit und den Rest des Abends muss man sein Stimmchen schonen, für den großen Auftritt oder eine andere Probe oder für sonst irgendwas.
Für den dritten Vorschlag musste Nadine sehr lange überlegen. Triumphierend sprang ich in der Wohnung umher und umarmte schon die da kommende Freiheit, wie einen lange vermissten Freund. Bis Nadine freudig grinsend bekanntgab:
3. Space Alert - Spielegruppe. Weg war der Traum von Freiheit. Sie traf mich an meinem schwächsten Punkt. Denn Space Alert ist unser beider liebstes Spiel. Es zeichnet sich durch eine Spielanleitung aus, deren Erläuterung einen ganzen Abend benötigt. Leider sind die meisten Menschen (zu unserem blanken Unverständnis) davon eher abgeschreckt und so wurde es traurige Gewohnheit, dass von den vier zwingend benötigten Mitspielern selten mehr als einer nach dem Einführungsabend zum eigentlichen Spiel erschien. Mit der Folge, dass die schnell nachbestellten Mitspieler erneut eine Einführung von der Dauer eines Spieleabends erhalten mussten, was meist dazu führte, dass selbst der letzte verbliebene Veteran die Segel strich. Ein schreckliches Dilemma! Daher schwor ich mir damals, erst dann ein neues Spiel zu wagen, wenn ich die ideale Crew aus fünf wahnsinnigen Spielenerds zusammengestellt hatte, die keine Regelwindung schrecken könnte. Und wie Nadine sehr gut weiß, warte ich darauf noch heute vergeblich...
So kam es, dass es Nadine gelang, unseren Deal zu erfüllen und trotzdem niemanden ansprechen zu müssen. Seitdem sitze ich abends meistens neben ihr auf der Couch. Vorgestern sind wir übrigens bei Nico zum Raclette eingeladen worden. Und als ich da so saß und Nadine und die übrigen Gäste betrachtete, wurde für einen Moment die Hoffnung wach, dass es ja vielleicht auch so klappen könnte, mit den neuen Freunden.
sebastian-hilger