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Die Welt auf dem Steckenpferd

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Eine Ein-Mann-Redaktion macht höchst erfolgreich Mediensatire im Netz: Zu Besuch beim Grimmepreis-nominierten "Postillon".

Stefan Sichermann gibt in seinem Esszimmer einen seiner seltenen Liveauftritte. "Eine Packung Zucker enthält wirklich erschreckend viel Zucker", sagt er ernst. "Klar, es ist beschriftet, aber rechtfertigt das, dass da 100 Prozent Zucker drin sind?" Sichermann, 32, ist Chefredakteur des Postillons, der größten Mediensatire im Netz. Sichermann hat keine Abonnenten, aber fast 140000 Facebook-Fans. Viele von ihnen vermuten eine ganze Mannschaft hinter ihrer Lieblingsseite. Doch Sichermann ist alleine. Chefredakteur, Systemadministrator, Webdesigner, Gagautor, Fotoredakteur, Leserbriefbeantworter, Rechtschreibprüfer, Social-Media-Beauftragter, Anzeigenakquisiteur - und das alles sehr erfolgreich: Er ist einer der wenigen Blogger in Deutschland, der von den Werbeerlösen seiner Arbeit leben kann.



Hinter der erfolgreichen satirischen Seite Postillon, steht nur ein Mann.

Eine Million Besucher hatte der-postillon.com im Mai, etwa genauso viel wie der Internetauftritt des Satiremagazins Titanic. In der Netzgemeinde ist der Postillon beliebt, in den deutschen Blogcharts steht er seit Monaten auf dem ersten Platz, gemessen anhand der Social-Media-Reichweite. Seine Postings werden öfter auf Facebook geteilt als alle Artikel auf Tagesschau.de oder FAZ.net zusammen.

Das ist hart erarbeitet. Nach dem Studium beginnt er bei einer Werbeagentur in Hamburg zu texten, seinetwegen fahren Laster mit dem Astra-Logo und dem Aufdruck "Artgerechte Bierhaltung" durch die Stadt. Ein Kollege erzählt ihm, wie cool es sei, einen Blog zu haben. Ende 2008 schreibt er erste Beiträge ("Fakir im Schlaf verbrannt: von Nagelbettentzündung überrascht") und sichert sich die Webadresse der-postillon.com. Oft entstehen die Artikel in der Mittagspause. 2011 macht er sich selbständig, zieht nach Bayern, bekommt einen Gründerzuschuss und später ein Kind.

Die Redaktion des Postillon liegt nahe der Fürther Innenstadt. Etwa um neun Uhr setzt sich Sichermann in den Raum, der das Kinderzimmer wird, wenn das Baby größer ist, und fährt den Rechner hoch. Dann liest er Nachrichten und sucht den Aufhänger für den Artikel des Tages. Nach rund 2500 Veröffentlichung weiß er, was funktioniert: Die Artikelüberschriften sind oft ironische bis zynische Zwischenrufe zum Zeitgeschehen. Diese Woche etwa: "Erdogan lässt Demonstranten so lange verprügeln, bis sie aufhören, ihn als autoritär zu bezeichnen". Zum Transfer des Bundesligaspielers Mario Götze: "FC Bayern München kauft Borussia Dortmund komplett für 550 Millionen". Nach dem Boston-Attentat: "Syrische Bürgerkriegsopfer planen Marathon, um endlich wieder in die Medien zu kommen".

Die Artikel sind mit dem Kürzel "dpo" gekennzeichnet, in Anlehnung an die Nachrichtenagentur dpa. Sichermann betreibt Medienpersiflage, von Anfang an hat er sich an The Onion orientiert. Die US-Zeitung verbreitet seit den 1980er Jahren falsche Schlagzeilen. In Zeiten, in denen Nachrichten über immer mehr Kanäle verbreitet werden, hat sich daraus ein im Netz beliebtes Genre entwickelt. Neben dem Postillon gibt es in Deutschland noch Der Kojote, Leser von NewYorker.com wundern sich über die Meldungen im satirischen "Borowitz Report", die China Daily Show persifliert die chinesische Politik. Die falschen Nachrichten posten manchmal auch nur Nonsens, doch oft erschließt sich der Humor nur, wenn man die gesellschaftlichen Themen der Gegenwart kennt.

Sichermann hat nie programmieren gelernt. Wie man eine Webseite zusammenfrickelt, hat er sich ergoogelt. Das Logo, ein Posthorn und ein Steckenpferd, hat seine Freundin gezeichnet. Als er einmal in einer Testversion der Website ein neues Layoutelement ausprobieren will, aktiviert er es plötzlich für die ganze Website. Blöd - denn es funktioniert noch nicht, die Seite ist im Eimer und damit versiegt auch seine Einkommensquelle, die Anzeigenerlöse. In sozialen Netzwerken fragt er nach Hilfe, unter der Marke Postillon - und merkt, wie stark die Fangemeinschaft ist. Computerspezialisten melden sich, mailen Tipps und ihre Telefonnummern. Am späten Abend läuft der-postillon.com wieder.

Unterricht in Medienrecht bekam Sichermann in den Anfangsjahren ausgerechnet von Kai Diekmann. Dessen Anwälte verlangten 2009, dass Sichermann das Twitter-Profil löschte, mit dem er unter dem Namen "DerChefred" und mit Diekmann-Foto den Bild-Boss parodierte. "Heute würde ich da nicht klein beigeben", behauptet Sichermann.

Seit Januar gibt es den Postillon morgens auch auf Bayern 3, organisiert und eingesprochen vom Comedian Thieß Neubert. Zusammen mit Sichermann hat er auch Pilotfolgen eines Videoformats produziert, für das sie gerade Geldgeber suchen. Neubert moderiert, Sichermann bleibt hinter der Kamera. "Ich bin die Rampensau", sagt Neubert. Auch redaktionell baut der Postillon aus, Sichermann hat mittlerweile einen freien Mitarbeiter. Dan Eckert studiert in Heidelberg und mailt seine Artikelideen nach Fürth, Sichermann bestellt oder lehnt ab. Telefonate finden beide unnötig. Eckert passt gut zu Sichermann, auch er ist ruhig, besonnen, sarkastisch. "Ich würde mich nicht als lustig bezeichnen", sagt Eckert. Die Syrien-Marathon-Überschrift ist von ihm.

Vielleicht muss Sichermann, der nicht so gerne in der Öffentlichkeit steht, an diesem Freitag doch auf die Bühne. In Köln wird der Grimme-Online-Award vergeben, der Postillon ist nominiert. Natürlich in der Kategorie "Information".

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