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Fern vom Glück

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Ulla Schneider ist Ende 30. Sie ist selbständig. Mit ihrem Mann betreibt sie eine Agentur für Grafikdesign in Berlin, sie haben zwei Kinder. Ulla Schneider will alles haben und sein: unendlich kreativ, die perfekte Unternehmerin, die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter. Es gibt schöne Zeiten. Wenn die Geschäfte gut laufen und die Kasse voll ist, ist Party angesagt. Aber dann hat sie das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Wenn die Geschäfte nicht so gut laufen, plagen die Frau Existenznöte. „Es gibt Tage, da komme ich nicht mehr aus dem Bett“, erzählt Ulla Schneider. Sie schluckt Antidepressiva, um ihre „inneren Dämonen zu beruhigen“. „Die Hänger“, so nennt sie Ulla Schneider, die im wirklichen Leben anders heißt, ziehen sich manchmal über Wochen hin.



Circa vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an behandlungsbedürftiger Depression. Viele Menschen trauen sich nicht, über ihre Krankheit zu sprechen.

Es waren berührende Geschichten, die Stephan Grünewald, Mitgründer des Marktforschungsunternehmens Rheingold, und die anderen Psychologen in den Interviews für ihre Studie „Die geheime Logik der Depression“ zu hören bekamen, gerade weil die Menschen in den Gesprächen offen über ihre Not sprechen konnten. Die Studie wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt. Fazit: Depression sei immer noch ein Tabuthema. „Die Furcht, sich in seiner Praxis einem Arzt oder Psychologen zu öffnen, ist groß, weil die Betroffenen fürchten, gleich Psychopharmaka verschrieben zu bekommen oder im schlimmsten Fall eingewiesen zu werden“, erzählt Grünewald. Einfacher zu vermitteln seien die Symptome „innere Unruhe“ oder „Burnout“, der mittlerweile eine gesellschaftlich akzeptierte Krankheit sei, irgendwie ein Zeugnis des Aktivseins.

„Depressiv will niemand sein“, sagt Grünewald. Depressionen passten nicht zum Kulturideal einer auf die Maximierung des Glücks ausgerichteten Gesellschaft von Supertalenten. „Wir fühlen uns wie Gott, mit einem Fingerwisch auf dem iPad bewegen wir Welten.“ In ihrer „besinnungslosen Betriebsamkeit“ nehmen sich depressive Menschen keine Zeit, ihre Lage zu reflektieren. „Sie sind unfähig zu Kompromissen.“ Ihre Gedanken drehten sich nur um sich selbst, „die Welt um sie herum, ob Ebola oder Islamischer Staat, ist ihnen egal.“ Der Anspruch bleibe, die Nummer eins zu sein, und er wird in der Depression eingefroren, die Menschen legen sich, sagt Grünewald, selbst lahm, sie ziehen sich zurück.

Ulla Schneider ist nicht allein. „Depression ist eine Volkskrankheit“, sagt Ulrich Hegerl, Leiter der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Circa vier Millionen Bundesbürger leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression, schätzt die Stiftung. Jeder fünfte Bundesbürger erkranke einmal im Leben an einer Depression. Sie macht weit mehr als die Hälfte der psychischen Erkrankungen aus (siehe Text unten). „Es ist eine schwere Erkrankung, selbst in der leichten Form“, sagt Hegerl. „Depressionen senken die Lebenserwartung um rund zehn Jahre, etwa so viel wie schweres Rauchen.“

„Die Dunkelziffer der Erkrankten dürfte noch höher sein“, glaubt Grünewald. Es liegt in der Natur dieses Leidens, dass den Betroffenen oft selbst nicht klar ist, warum sie traurig und antriebslos sind – zumal wenn kein objektiver Anlass vorliegt wie Trauerfälle oder andere Schicksalsschläge. „In der Regel schlagen sich die Betroffenen drei Jahre mit ihrer Krankheit alleine rum, oft ohne Verwandten oder Freunden davon zu erzählen. Dann versuchen sie erst einmal mit freiverkäuflichen pflanzlichen Präparaten ihr Leiden zu mindern“, erzählten die für die Studie befragten Apotheker. Rheingold führte mehrstündige Gespräche mit 80 Patienten, Ärzten, Apothekern und pharmazeutisch-technischen Assistenten. Die Menschen berichteten vom Gefühl, nicht mehr „am Glück dieser Welt“ teilhaben zu können.

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden weltweit mehr als 350 Millionen Menschen jeden Alters an einer Depression. Sie sei die weltweit am stärksten verbreitete Erkrankung. Die volkswirtschaftlichen Schäden, verursacht etwa durch Fehltage in den Unternehmen und die Kosten der Behandlungen, sind beträchtlich. Die deutsche Volkswirtschaft kostet die Krankheit jedes Jahr zwischen 15,5 bis 21,9 Milliarden Euro, geht aus einer gemeinsamen Studie des Versicherers Allianz Deutschland und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung hervor. Das sind immerhin 0,88 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Die Untersuchung stammt aus dem Jahr 2011. An den grundlegenden Aussagen dürfte sich nichts geändert haben. Die Depression, schreibt Florian Holsboer, damals Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, im Vorwort der Studie, sei eine rätselhafte Erkrankung. Trotz aller Fortschritte könne die Forschung die Depressionsentstehung noch nicht exakt erklären. Auch für die Öffentlichkeit sei die Depression ein Mysterium. „Oft mag man sie gar nicht als Krankheit akzeptieren, ja nicht einmal eingestehen, dass man depressiv erkrankt ist“, schreibt Holsboer. So werden verschleiernde Diagnosen geschaffen, wie das Burn-out-Syndrom, um das Stigma einer Depression zu vermeiden. Die Depression ist eine heimliche, aber vor allem eine unheimliche Krankheit.

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund beobachtet seit Langem den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen sowie Verhaltensstörungen und Fehltagen und Frühverrentungen. Wie die Grafik zeigt, stieg seit Anfang dieses Jahrtausends die Zahl der Fehltage wegen Arbeitsunfähigkeit (AU-Tage) deutlich an auf knapp 60 Millionen im Jahr 2012, das waren 11,4 Prozent aller AU-Tage. Ein ähnliches Bild zeigt sich – in absoluten Zahlen – bei den Frühverrentungen. 2012 hörten etwa 74 500 Menschen wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze auf zu arbeiten, das waren rund 42 Prozent aller Frühverrentungen.

Es gibt viele Untersuchungen und Daten zum Thema Depression – mit großem Interpretationsspielraum. Für Petra Müller-Knöß, bei der Industriegewerkschaft IG Metall zuständig für Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz, belegen die Zahlen eindeutig: „Mit steigender Arbeitsintensität, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war, erhöht sich die Gefahr einer Depression.“ Termindruck, überlange Arbeitszeiten und ständige Erreichbarkeit seien für viele Beschäftigte Alltag, „der Job ist Stressfaktor Nummer eins“, ergab eine Umfrage der IG Metall vergangenes Jahr.

Der Leipziger Psychiater Hegerl sieht dagegen kein Anzeichen dafür, dass die Zahl der an Depression erkrankten Menschen deutlich zugenommen hat. „Die Gesellschaft geht nur offener damit um“, sagt er. Dazu haben auch – auf tragische Weise – prominente Fälle wie der Suizid des Torhüters Robert Enke im November 2009 beigetragen. „Die Menschen suchen heute öfters Hilfe“, sagt Hegerl, „und die Ärzte erkennen und benennen Depressionen besser.“ Das sei ein gutes Zeichen. Früher diagnostizierten Ärzte mitunter auch aus Unwissenheit eher Herz-Kreislaufbeschwerden oder ein Rückenleiden oder – in jüngerer Zeit – einen Burn-out, „das klingt modern und nach Arbeitseifer“. Hegerl ist kein Zyniker, sondern ein Arzt, der Daten analysiert. Die Zahl der Selbstmorde sei in den vergangenen 15 Jahren um 8000 auf 10000 zurückgegangen. Mehr als die Hälfte der Selbsttötungen gehen auf Depressionen zurück, sagt Hegerl. „Heute nimmt sich eine Kleinstadt weniger das Leben, vor allem auch weil Depressionen häufiger erkannt und behandelt werden.“

Wolfgang Panter ist Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte und seit mehr als drei Jahrzehnten Leitender Betriebsarzt bei der Hüttenwerke Krupp Mannesmann mit circa 6000 Beschäftigten. Sein Vater leitete eine psychiatrische Abteilung in einer Kleinstadt. „Damals war Depression ein Stigma, das ist heute nicht mehr in dem Maße so“, sagt Panter. In den Betrieben werde offener über die Erkrankung gesprochen, auch in seine Sprechstunde kommen mehr Menschen, die glauben, an einer Depression zu leiden. „Das hat ganz viele Gründe.“

Einer davon sei der Wegfall sozialer Netze. „Früher wandten sich die Menschen an ihren Pastor oder fanden Halt in der Familie und bei Freunden, heute gehen sie zum Betriebsarzt.“ Panter kann keine Unterschiede ausmachen, ob jemand in der Produktion arbeitet oder in der Verwaltung. Gewiss, die Arbeitsintensität habe mit der Einführung der 35-Stunden-Woche und der damit einsetzenden Rationalisierung zugenommen. Er glaubt aber nicht, dass dies der Grund für den eklatanten Anstieg der Arbeitsunfähigkeiten und Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen und Verhaltungsstörungen sei. „Es ist heute leichter, mit einer psychischen Erkrankung frühverrentet zu werden als mit einer somatischen Erkrankung wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Beschwerden.“

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