jetzt.de: Worin unterscheidet sich euer Projekt von anderen Hilfen für Flüchtlinge?
Mareike: Wir sind das erste Projekt, das sich dezidiert damit beschäftigt, geflüchtete Menschen privat unterzubringen und so ihre Wohnsituation zu verbessern. Dahinter steckt natürlich der Gedanke, geflüchtete Menschen ein Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen und sie nicht irgendwo am Stadtrand unterzubringen.
Nun fordert euer Projekt sehr großes persönliches Engagement, man kommt den Flüchtlingen näher als wenn man jetzt nur Klamotten spendet. Wie sind bisher die Reaktionen?
Mareike: Ich ging davon aus, dass sich in zwei Monaten vielleicht eine WG meldet und wir dann in Ruhe alle weiteren Prozesse planen können. Die Realität ist aber, dass wir bereits jetzt, nach einer Woche, knapp 80 ernsthafte Anmeldungen haben.
Jonas: Wir wollen mit dem Projekt die breite Masse ansprechen, nicht nur Leute, die sich eh bereits für Flüchtlinge einsetzen. Deshalb haben wir im Seitennamen auch das Wort "Flüchtlinge" verwendet, auch wenn wir das privat so nicht sagen würden. Das "ling" hat so etwas verniedlichendes. Wir bevorzugen "geflüchtete Menschen" oder "Refugees". Aber "Flüchtling" ist in der Ansprache verständlicher. Was uns auch sehr überrascht hat: Eigentlich hatten wir ja Studenten im Fokus. Allerdings haben sich auch viele ältere Leute gemeldet. Oft sind es Pärchen, die auf dem Land leben, die Kinder sind bereits aus dem Haus und deshalb stehen dort Zimmer leer. Das zeigt, dass unser Projekt die breite Masse anspricht und nicht nur die Leute, die sich eh immer für Flüchtlinge einsetzen. Das ist auch ein politisches Statement, die Leute wollen helfen!
Golde (25), Jonas (31) und Mareike (27) leben und arbeiten in Berlin. Golde ist Sozialarbeiterin, Mareike hat Religion & Culture studiert, Jonas ist Kommunikationsdesigner. Anfang dieser Woche haben sie ihr gemeinsames Projekt "Flüchtlinge Willkommen" online gestellt. Bereits jetzt häufen sich die Anmeldungen.
Eure Seite funktioniert ja in Teilen wie WG-gesucht: Menschen suchen online Mitbewohner. Nur, dass am Ende dann Flüchtlinge zum Casting kommen...
Mareike: Nicht ganz. Man gibt Informationen zu der angebotenen WG oder dem Zimmer an, wir leiten diese dann an Organisationen weiter, die vor Ort mit geflüchteten Menschen arbeiten. Die Organisationen suchen dann wiederum nach einem geeigneten Mitbewohner für die WG. Dann wird ein erstes Treffen zwischen Organisation, WG und der geflüchteten Person organisiert, bei dem man herausfindet, ob sich die zukünftigen Mitbewohner überhaupt sympathisch sind. Wir sind also eher der Matching-Point für Hilfsorganisationen und Menschen, die Wohnraum über haben. Wir entscheiden nicht, wer zusammen wohnen sollte. Außerdem helfen wir bei der Ideenfindung für die Finanzierung der Miete.
Kann es denn passieren, dass die WG die Miete für den Flüchtling mitfinanzieren muss?
Mareike: Das Prinzip funktioniert so, dass sich die WG um die Finanzierung kümmern muss. Erst wenn das geregelt ist, zieht der Refugee ein. Wir selber finanzieren nichts, geben aber Anregungen, wie die Finanzierung bewerkstelligt werden kann - zum Beispiel über Mikrospenden oder Crowdfunding, damit haben wir schon sehr gute Erfahrungen gemacht. Manche Länder, zum Beispiel Berlin, unterstützen den Auszug eines Flüchtlings aus einer Massenunterkunft auch finanziell. Außerdem haben sich bei uns mittlerweile auch viele gemeldet, die kein Zimmer zur Verfügung stellen können, andere WGs aber finanziell unterstützen wollen. Diese Leute bringen wir dann zusammen.
Was passiert, wenn man sich mit dem Mitbewohner nicht versteht? In einer WG zieht dann einer aus - der Flüchtling muss dann zurück in die Massenunterkunft.
Jonas: Wir versuchen natürlich, das Miteinander auf Augenhöhe zu halten, wie in einer normalen WG. Wenn man sich nicht versteht, sollte man erstmal versuchen, darüber zu sprechen und Lösungen zu finden, da bieten wir uns auch als Ansprechpartner an. Wenn es trotzdem nicht funktioniert, ist es halt leider doch nicht ganz wie in einer normalen WG. Dann wird man als Mitbewohner zweimal darüber nachdenken, die WG-Entscheidung rückgängig zu machen. Schließlich kann es bedeuten, dass der geflüchtete Mensch dann obdachlos wird oder in eine ungute Massenunterkunft kommt. Aber im schlimmsten Fall muss man diesen Schritt machen.
Verändert das Bewusstsein, was mit einem abgelehnten Flüchtling passieren kann, auch schon das Casting?
Mareike: Da kann ich sogar schon aus Erfahrung sprechen: Wir wollten im September schon einmal einen geflüchteten Menschen in unsere WG aufnehmen und sind da sehr deutsch rangegangen: Wir wollten drei Leute einladen, die jeweils eine halbe Stunde auf einen Kaffee treffen und dann den nehmen, mit dem wir uns am besten verstehen. Dann wurde uns aber klar, dass so eine Casting-Situation weitreichende Konsequenzen haben kann - zwei schickt man so direkt wieder zurück in die Obdachlosigkeit oder die Sammelunterkunft. Dieser Gedanke, auf den Besten zu warten, ist dabei das Problem. Deshalb machen wir es jetzt so, dass wir immer nur eine Person vorstellen und man sich dann überlegt, ob man mit dieser Person wohnen könnte.
Jonas: Wenn das nicht passt, kann man immer noch eine zweite Person treffen. Allerdings wird es bei uns keine WG-Massencastings geben.
Ihr selber wollt ab Dezember jemanden aufnehmen. Ist das nicht sehr kurzfristig?
Jonas: Das hat uns auch die Erfahrung vom ersten Casting gezeigt: Zwei Monate im Voraus zu planen funktioniert für geflüchtete Menschen nicht. Durch ihren unklaren Status können sie oft nicht einmal zwei Tage im Voraus planen. Ich weiß deshalb jetzt noch nicht, wer da Anfang Dezember einziehen wird. Wir werden uns kurz vorher erst treffen und gucken, ob das passt.
In Bayern ist die private Aufnahme von Flüchtlingen wegen der sogenannten Lagerpflicht nicht erlaubt. Wie geht ihr mit Anfragen von dort um?
Jonas: Wir sind uns da noch nicht ganz sicher, werden vermutlich aber die WGs aus diesen Bundesländern dazu anregen, illegalisierte Personen, also Menschen ohne Papiere und Aufenthaltsstatus, aufzunehmen. Viele fragen uns, warum wir auch auf unserer Webseite dazu anregen, aber diese Menschen haben es wirklich am allernötigsten. Sie fallen durch jedes Raster, bekommen keine Unterstützung vom Staat. Wir haben das auch rechtlich nachprüfen lassen - eine WG macht sich in keiner Weise strafbar, wenn sie eine illegalisierte Person aufnimmt. Man muss beim Abschließen eines Untermietvertrages nämlich nicht den Aufenthaltsstatus einer Person erfragen.
Mareike: Bayern ist tatsächlich ein interessanter Fall, weil sich viele von dort bei uns melden. Es ist also klar, dass die Leute dort helfen wollen, es ihnen politisch aber unmöglich gemacht wird. Wir hoffen natürlich, dass unsere Initiative da eine weitere Debatte anstößt.