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Sex-Appeal der Schreiberlinge

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Drehbuchautoren wurden in Hollywood lange Zeit eher wie Nutztiere denn wie Künstler behandelt. Devote Schreibsklaven sollten sie sein, die aus der Sicht vieler Produzenten ungefähr den gleichen Glamourstatus verdienten wie ein Beleuchtungsassistent. Das hat in der Folge so ziemlich die komplette Filmgeschichte hindurch zu einem Dauergejammer der Schreiber über ihre Stellung in der Unsterblichkeitshierarchie geführt.


Diese Litanei aber ist in jüngster Zeit fast verstummt. Zu verdanken ist das vor allem den Schreibstars des US-Serienfernsehens. Dort hat man inzwischen erkannt, dass der Chefautor idealerweise auch gleich das Tagesgeschäft des Produzenten übernimmt, um seinen Ideen Durchschlagskraft zu verleihen – so wurde der „Showrunner“ geboren. Kreative wie J.J. Abrams („Lost“) oder Beau Willimon („House of Cards“) haben sich in dieser Funktion immer mehr Macht, Freiheit und Glamour erkämpft.




J. J. Abrams kann alles: schreiben, drehen, produzieren.

Wie weit der Kult um diese modernen Geschichtenerzähler geht, kann man gerade sehr lustig in der Doku „Showrunners: The Art of Running a TV Show“ sehen. Der Film ist in der letzten Woche in den USA in ein paar Kinos und als Video on Demand gestartet. Er erforscht in Interviews und Schreibwerkstatt-Besuchen das Phänomen Showrunner. In einer der schönsten Szenen rennen die Fan-Massen auf der legendären Entertainment-Messe Comic Con, wo alle großen amerikanischen Filmstudios und Sender ihre kommenden Highlights vorstellen, nicht mehr einem Schauspielstar hinterher, sondern einem verschreckten Serienschreiber, der gar nicht recht weiß, wie ihm geschieht.


Solche Erlebnisse führen dazu, dass viele Autoren mittlerweile nicht weniger gestylt auftreten als ihre Schauspielkollegen. Bestes Beispiel: die Autoren-Crew um J.J. Abrams, zu der etwa Alex Kurtzman und Roberto Orci gehören. Diese drei schreiben seit dem riesigen Erfolg ihrer Serie „Lost“ ungefähr jeden zweiten Kinoblockbuster, von „Spider-Man“ bis „Star Trek“. Bei Empfängen treten die Jungs nur noch mit den teuersten Hornbrillen, smartesten Slimfit-Anzügen und gestyltesten Wuschelfrisuren auf.


Der neue Ruhm der Autoren fällt natürlich auch anderen Berufsgruppen in Hollywood auf – jetzt wollen viele das coole Hipstertum des Schreiberdaseins in die eigene Karriere integrieren. Künstler, die eigentlich mit ganz anderen Berufen berühmt geworden sind und früher gar keine Drehbücher geschrieben haben – oder wenn, dann doch ohne großen Trommelwirbel – ,bestehen plötzlich auf den Vermerk „Drehbuchautor“.


Sehr schön beobachten konnte man dieses Phänomen in diesen Tagen bei einem Round-Table-Gespräch mit sechs Autoren, die vom Hollywood Reporter zu den Top-Schreibern des Jahres 2014 erkoren wurden (eine Aufzeichnung ist auf YouTube zu finden).


Von den sechs Teilnehmern schwärmten ausgerechnet jene drei am stolzesten vom Traumberuf Drehbuchautor, die bislang gar keine Drehbuchautoren waren: Die Romanautorin Gillian Flynn hat mit der Adaption ihres eigenen Bestsellers „Gone Girl“ soeben erst ihr Drehbuchdebüt abgeliefert; der in den letzten Jahren etwas in der Versenkung verschwundene Klamauk-Komiker Chris Rock hat gerade ein Drehbuch über einen Klamauk-Komiker geschrieben, der in den letzten Jahren etwas in der Versenkung verschwunden ist; und Jon Favreau, der als Regisseur der ersten beiden „Iron Man“-Filme eine Stütze des Marvel-Imperiums ist, relaxte dieses Jahr beim Schreiben der hübschen Indie-Komödie „Chef“, die im Frühjahr auch in Deutschland startet.


Dass die großen Filmstudios mittlerweile sehr unwillig geworden sind, sich auf smarte Originalstoffe einzulassen, weil sie fast nur noch Comicverfilmungen und Fortsetzungen produzieren, fiel aufgrund der Schwärmerei fürs Schreiben dann leider etwas unter den Tisch. Weshalb Jonathan Nolan, ein weiterer Teilnehmer der Runde, der wirklich hauptberuflich Drehbuchautor ist, sich gedrängt fühlte, den Glamour-Faktor des Jobs etwas zu relativieren. Jonathan ist der kleine Bruder von Christopher Nolan, für den er unter anderem die letzten beiden „Batman“-Filme und aktuell das ziemlich erfolgreiche Science-Fiction-Epos „Interstellar“ geschrieben hat. Aus der heimischen Schreibwerkstatt berichtete er von seinen ganz persönlichen, vor allem aber auch von den ganz werktäglichen Problemen, vor denen Drehbuchautoren in Hollywood nach wie vor stehen:


„Ich schreibe täglich etwa sechs Stunden, und von diesen sechs Stunden sind mindestens fünfeinhalb purer Mist – an einem guten Tag. Und wenn der Regisseur dein großer Bruder ist, geht er später beim Umschreiben für die finale Fassung auch nicht gerade zimperlich mit deinem Buch um. Das Schlimmste aber ist: Schon in diesem frühen Stadium der Filmentwicklung hast du gedanklich die Studios im Rücken, die sehr viel Geld in deine Ideen investieren müssen, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Deshalb wollen sie, dass die Drehbücher so geschrieben sind, dass auch der größte Depp in der letzten Reihe kapiert, was los ist. Diese Ignoranz verhindert Innovation, wird aber von Jahr zu Jahr schlimmer.“


Genau aus diesem Grund muss sich nun zeigen, wie viel kreatives Potenzial der aktuelle Drehbuch-Hype in Hollywood wirklich freisetzen kann.


Jonathan und Christopher Nolan machen – ermöglicht durch den Erfolg ihrer „Batman“-Filme, durch den sie sich große Freiheiten erarbeitet haben – bereits vor, was man als Zuschauer von der gefeierten neuen Schreibergeneration erwarten darf: Dass sie nicht nur Serien und Superheldenfortsetzungen am Fließband produzieren, sondern bitte schön auch echte Originalstoffe liefern. Große, wilde Kinoträume wie „Interstellar“ also, ganz ohne Comic- oder Bestsellervorlage. Und dass ihre neue Stellung im Betrieb ihnen auch die Macht und die Ausdauer verschafft, diese Träume gegen alle Widerstände der Hollywoodbosse auf die Leinwand zu bringen.

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