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Das Netz fasst mehr als jede Straße

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Und wieder diese Pappschilder. #NotInMyName steht dieses Mal darauf geschrieben. Junge und alte Muslime halten sie in die Kamera, sie gucken ernst. „Nicht schon wieder“, war bei vielen die erste Reaktion auf diese Bilder – zuvor hatten bereits Menschen mit dem Hashtag #BringBackOurGirls auf die mehr als 200 von der Terrorgruppe Boko Haram entführten Schülerinnen aufmerksam gemacht, unter #NotAMartyr distanzierten sich junge Libanesen von Selbstmordattentaten. Und das alles auf Pappschildern mit Hashtags, die abfotografiert ins Netz gestellt werden. Jetzt also #NotInMyName. „Wahrscheinlich steckt irgendeine Werbeagentur dahinter“, lästerten Twitter-User. Tatsächlich hat sich die Organisation Active Change Foundation, die sich unter anderem gegen Gewalt und Terrorismus einsetzt, die Kampagne ausgedacht.

http://www.youtube.com/watch?v=wfYanI-zJes

Schilder mit Hashtags sind das geworden, was früher Protestbanner waren, und Twitter der Rathausplatz. Unter #NotInMyName distanzieren sich Muslime davon, wie die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) ihre Religion für ihre Verbrechen missbraucht. Unter #JewsAndArabsRefu-seToBeEnemies küssen sich seit Juli auf Twitter jüdische und arabische Nutzer. Sogar Michelle Obama hat beim Schilderprotest mitgemacht: Sie posierte mit dem Statement „#BringBackOurGirls“.

Netzkampagnen werden häufiger. Vor 2013 brauchte man höchstens zwei Hände, um die politischen Hashtags des Jahres zu zählen. Seitdem kommt kein Protest ohne die Mobilisierungskräfte von Twitter aus. Weil Aktivismus im Internet etwas bewirkt, sagen die einen. Weil man sich durch ihn besser fühlt, obwohl er nichts bringt, sagen die anderen.

Die meisten Bezeichnungen für Online-Aktivismus sind nicht besonders schmeichelhaft. „Feelgood-Activism“ wird er genannt: weil man sich angeblich nach einem simplen Retweet zurücklehnt mit dem Gefühl, schon genug getan zu haben. „Twitter-Revolution“, wird oft in Anführungszeichen gestellt, was heißen soll: keine Revolution im echten Leben. Bereits in den Neunzigerjahren kam das Wort „Slacktivismus“ auf, zusammengesetzt aus Aktivismus und slacker, dem englischen Wort für Faulpelz. „Slacktivismus“, das bedeutet, dass man politische Inhalte teilt ohne sich weiter damit zu beschäftigen. Sogar das Urban Dictionary definiert Hashtag-Aktivismus als Protestform, „bei der man etwas gegen ein Problem unternimmt, indem man Links twittert oder auf Facebook postet, ohne jegliche Absicht, jemals wirklich etwas zu unternehmen.“

„Likes retten keine Leben“, sagte die Kommunikationschefin von Unicef Schweden, Petra Hallebrant, im vergangenen Jahr. In der Kampagne, die sie damals vorgestellt hat, stand auf den Plakaten: „Liken Sie uns auf Facebook und wir werden null Kinder gegen Polio impfen.“


Vor 2012 konnte man die Zahl der politischen Hashtags noch an zwei Händen abzählen. Seitdem explodieren die Zahlen.

Diese Sätze sind typisch für den Umgang mit Internet-Aktivismus. Man hört immer nur, was er nicht kann: keine Kinder impfen. Keine Kriege beenden. Keine Leben retten. Keine Demonstranten auf die Straße bringen. Kurz: Er bringt nichts!

Bei aller Liebe zum Urban Dictionary und der guten Kampagne von Unicef: Das ist völliger Blödsinn! Man kann nur gegen die Ungerechtigkeiten kämpfen, die man kennt. Egal, ob man sich mit einem Banner auf die Straße stellt oder einen Hashtag retweetet, vorher hat man sich – wenigstens kurz – über das Thema informiert, für das man eintritt, oder wurde von jemandem aufgeklärt, der sich damit beschäftigt. Für beides ist das Internet heute nun einmal der erste und wichtigste Ort.

„Awareness“, das Bewusstsein für Missstände, „ist eine Form von Protest“, sagt die Kommunikationsexpertin Susan McPherson, die dieses Jahr bei der DLDWomen-Konferenz über die Relevanz politischer Hashtags sprach. „Es ist der erste Schritt zur Erkenntnis, ein Weg, Menschen auf etwas aufmerksam zu machen und sie wachzurütteln. Ohne das wären wir nicht in der Lage, auf Dinge einzuwirken.“

Natürlich verändert ein größeres Bewusstsein für Probleme nicht automatisch unser Handeln. Aber in vielen gesellschaftlichen Bereichen verändert es eben doch etwas. Hashtags rotten keinen Sexismus aus. Seit #Aufschreiüberlegen viele Menschen genauer, ob das, was sie gleich sagen, jemanden verletzen könnte. #Justice4Trayvon machte bewusst, dass in den USA anscheinend Menschen allein wegen ihrer Hautfarbe erschossen werden können. Und manchmal treiben Hashtags eben doch Menschen auf die Straße, wie bei #StopActa und #PinkStinks 2012 und 2013. Zehntausende demonstrierten in Deutschland gegen das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen, Hunderte Pink-Stinks-Anhänger belagerten zur Eröffnung das „Barbie Dreamhouse“ in Berlin. Über den Hashtag #OccupyWallstreet wurden die Proteste aus New York zur weltweiten Bewegung, über #Arabellion und #ArabSpring spürte man den Arabischen Frühling auf der ganzen Welt. Das Versandhaus Otto musste 2013 wegen eines Shitstorms ein Mädchen-T-Shirt mit der Aufschrift „In Mathe bin ich Deko“ aus dem Sortiment nehmen.

Hashtags retten keine Leben, aber sie sorgen dafür, dass wir aufmerksamer durch die Welt gehen und diejenigen, die Missstände beseitigen können, darauf aufmerksam werden. Mehr schaffen Demos im „echten“ Leben da draußen auch nicht.

„Online-Aktivismus wird oft Faulheit vorgeworfen“, sagt Susan McPherson. „Aber er ist nur faul, wenn man sich ausschließlich online engagiert.“ Auf die #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek, die Friedensnobelpreisträgerin und #WeAreSilent-Mitbegründerin Malala Yousafzai und die #SchauHin-Mitbegründerin Kübra Gümüşay trifft das sicher nicht zu. Sie setzen sich täglich für das ein, was sie auch mit ihren Hashtags vorantreiben wollten: ihren Kampf gegen Sexismus. Für eine bessere Bildung für Mädchen. Gegen Alltagsrassismus. Und auch für alle anderen, die sich online engagieren, gilt: Wer kann schon sagen, ob es bei Likes und Tweets bleibt? Und wer weiß schon sicher, ob diejenigen, die in der ersten Reihe mitprotestieren mehr hinter ihrem Anliegen stehen als jemand, der einen Hashtag twittert?

Natürlich ist es bequemer, von der Couch oder dem Schreibtisch aus gegen etwas zu sein. Ein Hashtag ist schneller getippt als ein Banner auf eine Demo getragen. Für Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, macht es aber keinen Unterschied, ob sie Tweets oder Facebook-Posts tippen oder Briefe schreiben und auf die Straße gehen, ob sie Online-Petitionen unterschreiben oder gedruckte, ob sie auf der Straße ein Schild halten oder es in die Handykamera halten. Wir leben in einer Welt, in der wir uns nicht nur für das einsetzen, was vor unserer Haustür passiert, sondern auch für Schülerinnen, die aus Nigeria entführt wurden. Das Internet ist oft der einzige Kanal, um diese Information weiterzuleiten. Manchmal wird so aus einem Mikroprotest eine Massenbewegung.

Online-Aktivismus bedeutet weniger Aufwand im klassischen Sinn. Und das ist völlig okay. Niemand lacht über Menschen, die mit Schildern auf der Straße demonstrieren gehen. Wenn sie diese in eine Kamera halten, sollte das zukünftig auch niemand mehr. Denn es kann gut sein, dass es ihnen morgen zahlreiche gleichtun und der Protest mehr Leute umfasst, als eine Straße es je können wird.

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