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Handel für alle

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Eine transatlantische Freihandelszone - darüber wollen Europa und die USA verhandeln. Sie sollten es besser lassen. Wohlstand und Frieden für die ganze Welt kann es nur durch globale Gespräche geben.

Barack Obama kommt nach Berlin. Das wird das Ereignis des Jahres und ist allenfalls durch den Besuch des Papstes zu toppen. Willem-Alexander und Máxima, das holländische Königspaar, verblassen daneben, selbst die Queen kommt da nicht mit, von Prinz Charles ganz zu schweigen. Das Superstar-Image eines amerikanischen Präsidenten qua Amt ist intakt. Der Nimbus des Ersatz-Monarchen funktioniert, wie man an Vorvorgänger Bill Clinton sehen kann, selbst im Ruhestand. Und er funktioniert, jedenfalls in der Medienöffentlichkeit, auch ungeachtet der jeweils aktuellen Persönlichkeit. Obamas weiße Weste als Hoffnungsträger für eine moralisch bessere Politik der Supermacht ist ziemlich grau geworden? Egal. Die politische und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten in der Welt bröckelt? Egal. Obama kommt, das zählt.



Obama kommt nach Berlin.

Im Gepäck wird der amerikanische Präsident nächste Woche viele große Worte haben, einige davon wird er am Mittwoch in seiner Rede am Brandenburger Tor freilassen. In einer Gegend, in der einst Ronald Reagan sein berühmtes "Mr. Gorbatschow, tear down this wall" sprach. Historische Reminiszenzen helfen, aktuell scheinbar Großes, Bedeutendes, Außergewöhnliches einzuordnen, und das heißt leider meist: in seiner Bedeutung runterzudimmen.

Runterdimmen sollte man auch alles, was jetzt über ein europäisch-amerikanisches Freihandelsabkommen gesagt wird, ob von Obama, Merkel, EU-Kommissaren oder deutschen Wirtschaftsvertretern. Die "Transatlantische Partnerschaft für Handel und Investitionen" (TTIP) ist zunächst einmal ein Plan, nur ein Plan, und zwar ein schlechter.

Die Unternehmenswelt allerdings, zumal die Welt der großen Konzerne, ist begeistert von der Idee einer großen, schönen Handelswelt von Brüssel bis Washington, von Athen bis San Diego. Geringere Zölle und weniger Handelsbeschränkungen versprechen geringere Kosten und ein besseres Geschäft. Bislang wird der freie Handel zwischen den beiden Wirtschaftszonen diesseits und jenseits des Atlantiks noch durch Zölle von durchschnittlich fünf bis sieben Prozent belastet, schlimmer: Er wird durch alle möglichen sonstigen Bestimmungen erschwert, die sogenannten non-tariff barriers. Die Fantasie der Handelsbeschränker ist grenzenlos: unterschiedliche Zulassungsbedingungen, Sicherheitsstandards, technische Vorgaben, Exportrestriktionen, Investitionsverbote, Subventionen, Einwanderungsbestimmungen und vieles andere mehr.

Zwei Beispiele: Wenn amerikanisches, hormonbehandeltes Rindfleisch in die EU eingeführt werden dürfte, gewönne die US-Landwirtschaft einen neuen Markt. Wenn deutsche Autos für ihren Einsatz im amerikanischen Verkehr nicht mehr Hunderte abweichender Details aufweisen müssten, sparten die deutschen Konzerne viel Geld.

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) rechnet mit Konjunkturimpulsen beiderseits des Atlantiks von bis zu 200 Milliarden Euro. In Deutschland könnten rund 100000 neue Arbeitsplätze entstehen. Die Rede ist von einem Wachstum von 1,5 Prozent. Allein die deutschen Exporte in die USA könnten um drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr zulegen. Wahrscheinlich sind alle diese Zahlen weit übertrieben. Bleibt immerhin der Grundgedanke, der weithin anerkannt ist: Ein Freihandelsabkommen kann Rendite, Arbeitsplätze, Wachstum, Wohlstand schaffen.

Das ist die Idee. Die Realität ist anders.

Wenn es Europäern und Amerikanern ernst wäre mit einer transatlantischen Handelszone, könnten sie diese seit vielen Jahren haben. Das Thema ist nicht neu. Jetzt ist die Rede von TTIP. Früher von Tafta, Tad oder Tep, von NTMA, NTA, Tep. Kürzel einer verflossenen Welt. Initiativen für vertiefte Beziehungen, alle gescheitert. In Buchstaben geronnene Illusionen.

Die Europäische Kommission, die das Mandat für entsprechende Verhandlungen hat (die Handelspolitik ist vergemeinschaftet, also EU-Sache), will einen großen Vertrag bis 2015 unter Dach und Fach haben. Dann noch schnell die Zustimmung des US-Kongresses, des Europäischen Parlaments und von bald 28 Mitgliedstaaten einholen, und das Ding ist geritzt.

Ein naive Vorstellung. Oder Zweckoptimismus wider besseren Wissens.

Kaum eine Verhandlung ist so schwierig, wie jene um das Ein- und Ausführen von Produkten und Dienstleistungen. Es geht um nationale Befindlichkeiten und um knallharte Interessen, die hinter dem eigentlichen Geschäft stecken.

Befindlichkeiten: Die Europäer mögen keine Hühnchen, die in Chlor getaucht sind, obwohl das den Salmonellenbefall verhindern soll. Die Amerikaner mögen umgekehrt keinen typisch französischen Käse, weil sie Schimmel für nicht essbar halten. Die Franzosen graust es umgekehrt vor der Dominanz amerikanischer Kultur.

Interessen: Kaum eine Lobby ist so mächtig, wie die der Landwirtschaft, und zwar in Europa ebenso wie in den USA. Ein freier Markt für Agrarprodukte? Auf das Risiko wollte sich bisher niemand einlassen. Warum sollte das künftig anders sein?

Und wenn die Kontrahenten doch zusammen kämen, so unwahrscheinlich es ist, bedeutete dies einen Vertrag zu Lasten Dritter. Amerika und Europa gegen den Rest der Welt? Wir waren schon weiter.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Staaten weltweit in sogenannten Welthandelsrunden Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse reduziert. Seit 1995 gibt es dafür eine eigene internationale Organisation: die World Trade Organization (WTO) mit Sitz in Genf. Ein kluges Konstrukt mit Unterbau, Verfahrensregeln, sogar einem vergleichsweise gut konstruierten Streitschlichtungssystem. Fast alle Staaten der Welt sind dort Mitglied, nach langem Anlauf sogar China und Russland.

Die WTO und ihr Vorläufer, das provisorische Gatt, haben einen beeindruckenden Erfolg vorzuweisen. In ihrer Ägide sind die internationalen Beschränkungen durch Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse weit gesunken, der Welthandel hat sich vervielfältigt. Dumm nur, dass diese Entwicklung sich festgelaufen hat, dass die aktuelle Welthandelsrunde, nach dem Ort der Startkonferenz 2001 "Doha-Runde" geheißen, seit Jahren klemmt, ja allgemein für "tot" erklärt worden ist.

Zugleich verschärfen sich die Töne zwischen einzelnen Staaten oder Staatengruppen. Die Europäische Union hat Strafzölle auf chinesische Solar-Panels erlassen. Die Chinesen reagierten mit Beschränkungen für europäischen Wein. Das passt in einen allgemeinen weltweiten Trend. In den vergangenen zwölf Monaten haben Staaten nach neuen Untersuchungen weltweit mehr als 400 Maßnahmen ergriffen, die den freien Welthandel bedrohen. Der Krake Protektionismus erhebt wieder sein Haupt.

Vor dem Hintergrund der amerikanisch-chinesischen Avancen, zuletzt der beiden Präsidenten im kalifornischen Sunnylands, glauben manche, wenn nur Europa und die USA zusammenfänden, dann wäre damit ein Drittel des Weltmarktes vereint und China in seine Schranken gewiesen.

Multilateral ist out. Zu kompliziert, zu aussichtslos, lautet das Verdikt. Bilateralismus heißt das Zauberwort. Klingt gut, vernebelt aber alles. Denn ein zentraler Streitpunkt in der Doha-Runde sind eben doch wieder: die Agrarfragen zwischen Europa und Amerika. In der Doha-Runde gab es dazu keine Einigung, jetzt soll das im Rahmen des TTIP möglich sein? Das ist nur schwer vorstellbar.

Schon der Start der neuen Initiative ist holprig. Bis spät am Freitagabend wurde im Vorfeld des G8-Gipfels der großen Wirtschaftsnationen versucht, der EU ein Verhandlungsmandat zu schneidern. Schwierig genug, weil vor allem Frankreich seine Kulturgüter vor den USA schützen will - schon dieser eine Aspekt brachte die ganze große Idee an den Rand des Scheiterns.

Es ist nicht nur weltfremd, zu viel von einem bilateralen Abkommen zu erwarten, es ist auch kontraproduktiv. Denn es schließt einen Teil der Welt aus: Mächtige Staaten (wie China), aber auch Ohnmächtige (weite Teile Afrikas). Zwar wird gesagt, eine transatlantische Sonderwirtschaftszone könne ja die Keimzelle für Größeres sein, andere Staaten könnten sich anschließen. Freilich nur zu den Bedingungen von EU und USA. Gleichbehandlung sicherstellen aber kann nur der multilaterale Ansatz. Offener Regionalismus funktioniert nicht.

Mit jedem neuen bilateralen Abkommen wird die Welt ungerechter und unsicherer. Das betrifft die Machtspiele der Großen, aber auch die Bedürfnisse der Kleinen. Es war gerade der Charme des WTO-Systems, dass es ein Streitschlichtungsverfahren hat, das die Machtverhältnisse ausgleichen kann. Ein System, zugegeben, das nicht vollkommen ist, weil es keine Weltpolizei gibt, die Schiedssprüche durchsetzen kann. Es wird gerne kritisiert, das WTO-Recht habe "keinen Biss", aber es ist ziemlich durchsetzungsstark dafür, dass souveräne Staaten sich gegenseitig sehr wenig sagen lassen müssen.

Diesen trotz aller Rückschläge hoffnungsvollen WTO-Ansatz gefährden die bilateralen Anstrengungen. Nicht von ungefähr, sind sie nach WTO-Recht nur in engen Grenzen zulässig, etwa in einem Binnenmarkt wie der Europäischen Union, wo die Mitglieder sich untereinander mehr zugestehen dürfen als anderen gegenüber.

Aus deutscher und wirtschaftlicher Sicht wäre anzufügen, dass man gut daran tut, sich nicht den falschen Partner auszusuchen. Der Handel und die wirtschaftliche Verflechtung mit den Vereinigten Staaten sind eng, das schon, aber andere Märkte werden wichtiger, in Asien und in China. Es ist kein Zufall, dass einer der besten Kenner der Handelspolitik, der indischstämmige Wirtschaftsprofessor an der New Yorker Columbia Universität, Jagdish Bhawati, den Europäern rät, ihre Pläne zu beerdigen, wenn sie sich nicht selbst schwächen wollen.

Stattdessen täten vor allem die Deutschen, die sich auf soziale Marktwirtschaft verständigt haben, gut daran, sich der Vorteile multilateraler Abschlüsse zu erinnern. Die WTO hat alles, was man braucht, wenn man den Welthandel weiter liberalisieren, ihm aber auch Regeln setzen will, die Willkür und Machtstreben zügeln. Und das Schöne: Im Ergebnis kann gerade und nur dieser umfassende Ansatz Wohlstand für alle bringen.



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