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Zwei Bücher (10): Meisen und Wahn


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Florian Wacker, geboren 1980, lebt in Frankfurt am Main. Ausbildung zum Heilerziehungspfleger, Studium der Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit 2013 arbeitet er als freier Autor und Webentwickler. Er bekam verschiedene Preise und Auszeichnungen, u.a. Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg 2014, Nachwuchspreis beim Literaturwettbewerb Wartholz 2013, Preisträger beim Schwäbischen Literaturpreis 2013. Im Herbst 2014 erschien sein erster Erzählband "Albuquerque" im mairisch Verlag.

Teil 1: Die Neuerscheinung


Franz Friedrich: Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr [plugin imagelink link="http://www.fischerverlage.de/media/fs/15/u1_978-3-10-002232-5.36605512.jpg" imagesrc="http://www.fischerverlage.de/media/fs/15/u1_978-3-10-002232-5.36605512.jpg"]

jetzt.de: Du bist über den Titel auf das Buch aufmerksam geworden. Was spricht dich denn an diesem langen Titel so an?
Florian Wacker: Das „Uusimaa“, glaube ich. Das ist ein Wort, an dem man hängen bleibt. Lange Titel nerven mich eigentlich, weil es so eine Mode geworden ist, Bücher „Die furchtbar wunderbaren Abenteuer des Mr. Irgendwas“ zu nennen. Aber hier bin ich neugierig geworden.

Auf dem Cover steht gar nicht „Roman“, dafür auf dem Titelblatt. Wir müssen also über die Struktur des Buches reden.

Das haben sie sicher bewusst so gemacht. Man kann es als Roman lesen, aber genauso gut als Band mit Erzählungen. Es gibt drei Teile, die von drei unterschiedlichen Menschen erzählen, die alle etwas mit diesem Uusimaa, einer finnischen Insel, zu tun haben. Und diese Teile sind zeitlich nicht linear zueinander angeordnet, die Handlung springt also hin und her. Erzählt wird zum Beispiel von einem Filmstudenten, der auf dem Weg nach Uusimaa mit seinem Flugzeug abstürzt. Außerdem gibt es eine Dokumentarfilmerin, die einen Film über die Meisen auf Uusimaa dreht, und eine amerikanische Promotionsstudentin in Berlin.

Wie glaubwürdig findest du die Verknüpfungen der einzelnen Teile?

Das Buch beginnt damit, dass der Filmstudent den Dokumentarfilm über Uusimaa anschaut und dann beschließt, auf die Insel zu reisen. Das finde ich plausibel und gut gemacht. Bei der amerikanischen Studentin wirkt der Bezug weiter hergeholt und etwas beliebig. Trotzdem fand ich das, was dann erzählt wird, zu interessant, um mich an der Konstruiertheit zu stören. Außerdem werden in diesem Teil Zufälle dargestellt, die es nun mal auch gibt.

Zwischendurch wird immer wieder klar, dass wir uns in einem dystopischen Szenario bewegen.

Ja, das hat mich am Ende etwas ratlos zurückgelassen. Es wirkte auf mich ein bisschen gewollt politisch, weil es so diffus und angedeutet bleibt und gar keine richtige Funktion innerhalb der Geschichte einnimmt

Wenn dich das Buch ratlos zurückgelassen hat wie ging es dir denn während des Lesens?

Ich fand die Sprache ungewöhnlich. Wenn die Studentin erzählt, sind ihre Gedankengänge sehr fein ziseliert. Einmal ging es plötzlich um einen Sammelband der Russischen Avantgarde und man merkte, wie sich der Autor sehr stark einschaltet und versucht, sein Wissen einzubringen. Da war ich wieder etwas ratlos und wusste nicht, ob mich so was eigentlich stört oder nicht. Insgesamt war es aber angenehm das Buch zu lesen, Friedrich schafft einen sehr eingängigen Lesefluss und ihm gelingen tolle Beschreibungen über die Insel, das Meer, seine Protagonisten. So ein Buch habe ich von einem jungen Autor schon länger nicht mehr gelesen. Für mich stand es zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ich bin gespannt, was von ihm als nächstes kommt.   

Franz Friedrich: Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, 320 Seiten, 19,99 Euro.

Auf der nächsten Seite: Florian über sein Lieblingsbuch mit Verwirrfaktor und Faszinationspotenzial.


[seitenumbruch]Teil 2: Das Lieblingsbuch William Faulkner: Schall und Wahn
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Du hast das Buch jetzt zum dritten Mal gelesen, kennst dich also gut darin aus. Das ist hilfreich für dieses Interview. Nach einmaligem Lesen ist es nämlich ziemlich schwierig, alles zu verstehen, was dieser Roman für einen bereithält, oder?
Ja, wenn man das Buch zum ersten Mal liest, ist es ziemlich kompliziert. Faulkner erzählt hier die Geschichte der Familie Compson. In seinem Werk hat er eine Art komplettes County erfunden, in dem alle seine Romane spielen, und die Familie Compson ist darin ein Fixpunkt. Es gibt Mutter und Vater und vier Kinder: Caddy, die Tochter, die am Ende durchbrennt, weil sie es nicht mehr aushält. Quentin, ein Student, der sich in Harvard umbringt. Benji, der geistig behindert ist und so in der Familie mitlebt. Und Jason, der ein kleiner Tyrann ist. Drumherum gibt es noch die Dienerschaft, die auf dem gleichen Grundstück wie die Familie in Hütten lebt. Man kann behaupten, dass es ein Familienroman ist, allerdings ist er außergewöhnlich geschrieben.

Ich finde, er ist außergewöhnlich geschrieben und vor allem außergewöhnlich konstruiert. Das erste Kapitel erzählt das Geschehen aus der Sicht von Benji.

Ja, das ist total abgefahren, man findet sich überhaupt nicht zurecht in der Handlung. Aber später ist mir aufgefallen, dass schon die ganze Geschichte in diesem ersten Kapitel vorweggenommen wird. Es hat weder einen zeitlichen noch irgendeine andere Chronologie. Mal ist Benji in diesem Kapitel Kind, mal ist er 33. Die Schauplätze ändern sich ständig. Und das alles mitten im Satz. Zwischendurch gibt es Kursivsetzungen, wie Risse durchziehen sie das Kapitel und zeigen einem immer nochmal irgendeinen Knack- oder Fixpunkt.

Und trotzdem liest es sich gut.
Ja, man ist vollkommen im Geist dieses Jungen, man wirbelt mit ihm und dem Text mit und weg. Beim ersten Lesen habe ich anfangs noch versucht, zu verstehen, wer welche neue Figur ist, aber irgendwann ist das egal. Ich war komplett verwirrt und fasziniert

Wie geht es dann weiter?

Der ganze Roman hat vier Kapitel, drei davon spielen im Jahr 1928 und eines im Jahr 1910. Im zweiten Kapitel geht es um Quentin. Man ahnt, dass er in seine Schwester Caddy verliebt ist, und bis zum Ende wird nicht ganz klar, ob zwischen den beiden ein Inzest passiert ist. Und auch dieses Kapitel ist eher in einem Bewusstseinsstrom geschrieben. Das zieht sich durch bis ins Formale, seine Hilflosigkeit spiegelt sich dann im Fehlen von Satzzeichen. Alles zerfällt in Quentins Welt, auch die Sprache.

Alles, was einem als Erzähler an Mitteln zur Verfügung steht, ist in diesem Buch zu finden, und hat dabei eine inhaltliche, sprachliche und formale Konsistenz, es muss genauso sein.
Ja, er kommt dem sehr nah, es wirkt sehr vollkommen. Diese Anzahl von verschiedenen Stilen, die Verzahnung der Handlung: Aus diesem Buch hätte man drei oder vier Bücher machen können.

Grade wenn wir über die vielen stilistischen Besonderheiten von Sprache und Erzählform sprechen, müssen wir über den Übersetzter sprechen. Frank Heibert hat „Schall und Wahn“ neu übersetzt und einen ziemlich guten Job gemacht, oder?

Ja, ich finde es ist großartig übersetzt, auch im Vergleich zu den anderen Übersetzungen, die ich gelesen habe. Heibert hat diesen Text für uns modernisiert, ohne neue Worte einzubringen, die unpassend wirken. Im Nachwort schreibt er zum Beispiel auch darüber, wie er versucht hat, den Soziolekt der Schwarzen zu übersetzen und dafür im Schwäbischen und Rheinischen gefischt hat. Eine Äquivalentsuche. Das ist die besondere Leistung dieser Übersetzung. Großartig.     

William Faulkner: Schall und Wahn, Rowohlt Verlag, Reinbek 2014, 324 Seiten, 24,95 Euro.    

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