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Reine Euphorie

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Da treibt Kate Bush in den Weiten des Meeres. Das Blinklicht ihrer orangen Rettungsweste pulsiert, doch der Pilot des Helikopters hat es nicht erspähen können. Eine atlantikgroße Verzweiflung erfasst sie und sie schreit: „Let me live, let me live!“

Aber natürlich bleibt Kate Bush jetzt am Leben! Sie ist ja als Live-Künstlerin gerade erst wieder auferstanden. Nach 35 Jahren. Als Solo-Star stand sie tatsächlich das letzte Mal am 14. Mai 1979 auf der Bühne. Damals – das ehrwürdige Eventim Apollo in London hieß noch Hammersmith Odeon – spielte sie ihr letztes Konzert ihrer bislang einzigen Tour.



Ein Fan wartet auf den ersten Auftritt von Kate Bush seit 35 Jahren.

Fünf Jahre vergingen danach, zehn Jahre, zwanzig. Kate Bush dachte in dieser Zeit immer wieder über große Auftritte nach, aber Zeit, Konzept und Machbarkeit passten nie zusammen. Kate Bush ist Perfektionistin. Im Jahre 2002 kam sie dann plötzlich auf die Bühne der Royal Festival-Hall am Themse-Ufer – als Gast ihres Entdeckers und maßgeblichen Förderers, des PinkFloyd-Gitarristen David Gilmour. Zusammen sangen die beiden eine atemberaubend zarte Version des epischen Pink-Floyd-Songs „Comfortably Numb“. Gilmour gab ihr ein Küsschen, und weg war sie wieder. Menschen, die damals in London dabei waren, bekommen heute noch feuchte Augen.

Und als dann im vergangenen März bekannt wurde, dass es im August und September 22 Shows im Eventim Apollo geben soll – unter dem Titel „Before The Dawn“ –, da schien es, als schnappte das gesamte Vereinigte Königreich nach Luft vor Aufregung. Und in vier Sekunden, wenn überhaupt, waren alle Konzerte ausverkauft. Man muss wissen: In Großbritannien ist Kate Bush im Grunde eine Nationalheilige, das weibliche Äquivalent zu David Bowie, Faszinosum kraft eines so kapriziösen wie einflussreichen Schaffens und eines geheimnisvollen Wesens. Auch Bowie starb übrigens im Apollo, genauer: sein berühmtes Alter Ego Ziggy Stardust. Sechs Jahre vor Kate Bush.

Dass in dem Moment, in dem Kate Bush dann am Dienstagabend endlich wieder die Bühne des Apollos betrat, reine Euphorie herrschte, war also zu erwarten. Schon eher eine Überraschung war, dass sie die siebenköpfige Band erst mal „Lily“ brettern ließ. „Lily“ ist nicht unbedingt einer ihrer besten Songs, aber sicher ihr härtester. Alles klar. 3500 Menschen im Apollo sollten spüren, dass Kate Bush zurück ist. Und sie spürten es.

Danach geraten besonders „Hounds Of Love“ und das wuchtig perkussionierte „Running Up That Hill“ spektakulär. Den typisch gellenden Kate-Bush-Sopran gibt es nicht mehr. Aber ihre Stimme ist eindrucksvoll gereift, und Ton um Ton trifft sie präzise. In einen schwarzen Fransenmantel gehüllt und an den Füßen nur mit Strumpfsocken bekleidet, wandelt sie bedächtig-würdevoll über die Bühne. Von der alten, ballerinahaften Geschmeidigkeit ist kaum noch etwas zu sehen. Als inzwischen 56-jährige Frau muss sie sich dafür allerdings ganz sicher nicht rechtfertigen. Nach „King Of The Mountain“, das mit raunenden Keyboards und krächzender Gitarre erfreulich unbedächtig vorgetragen wird, geht der Vorhang zu.
Und gleich wieder auf: In bläulichem Licht erblickt man das Gerippe eines Schiffes, Fisch-Skelette schleichen umher. Bald wird sie um ihr Leben singen, treibend auf dem Meer. Und der Verdacht erhärtet sich: Kate Bush nimmt sich nun den zweiten Akt des Konzept-Albums „Hounds Of Love“ vor, genannt „The Ninth Wave“. Es ist eine Suite aus sieben Stücken und es geht um eine Nacht, die eine Schiffbrüchige auf dem offenen Meer verbringt. Was in ihr alle möglichen Gemütszustände auslöst, von der Sinnlichkeit des ruhigen Dahintreibens bis zu blanker Panik.

Es überfliegt dann ein Helikopter ohrenbetäubend den Schauplatz. Und bald sitzt in einem windschiefen Wohnzimmer Bushs 16-jähriger Sohn Bertie vor dem Fernseher. Mutter Kate, in Gedanken ganz nah und doch so lost at sea, quengelt dazu wunderschön „Watching You Without Me“. Das symbolträchtige Element Wasser nutzt die Phantastikerin Bush dabei für eine Tour de Force der Gefühle.

Nach einer zwanzigminütigen Pause geht es weiter. Nun wendet sie sich „A Sky Of Honey“ zu, der zweiten Albumhälfte von „Aerial“. Und man findet sich im 19. Jahrhundert wieder: Bertie verkörpert nun einen Maler, der den Himmel auf einer übergroßen Leinwand abbildet. Papierflieger und eine Holzpuppe kommen ins Spiel. Alsbald wird sie so frei sein wie die Vögel, die man als Video-Projektion sehen kann. Und wenn man etwas kritisieren wollte, dann vielleicht, dass dieser 45-minütige Akt des Konzertes dramaturgische Schwächen hat. Man muss sich einlassen auf die ruhige Stimmung, die Launen des Himmels, diesen Raum der Freiheit, der natürlich eine perfekte Allegorie für die selbstbestimmte Künstlerin Kate Bush ist.

18 Monate wurde all das vorbereitet, unter anderem mit dem renommierten britischen Theaterregisseur Adrian Noble. Und es hat sich gelohnt. Denn es gelang ein echtes Kunststück: eine große Pop-Oper, bei der die ungewöhnlich opulente optische Inszenierung kein albernes Eigenleben führt, sondern einfach nur die Schönheit und Eigenwilligkeit dieser Popmusik noch etwas heller strahlen lässt.



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