Hannah war nicht im Konzentrationslager. Und obwohl sie Jüdin ist, hat sie die Ghettos in ihrer Heimatstadt während des Naziregimes nur von außen erlebt. Sie hat niemanden sterben sehen, niemand ist vor ihren Augen verprügelt worden. Und dennoch ist Hannahs Geschichte der perfekte Ansatz, jungen Schülern etwas über den Holocaust beizubringen. Oder besser: gerade deswegen. Hannah erzählt nicht vom Genozid, vom grausamen, teils industriellen Mord an sechs Millionen Juden während der Diktatur der Nationalsozialisten. Sie erzählt davon, wie sie sich eines Morgens von ihrem Vater verabschieden muss, weil es gefälschte Ausweise nur für sie und ihre Mutter gibt. Wie er ihr verspricht, sie nach dem Krieg abzuholen. Und wie ihr das Schweigen der Mutter später verrät, dass sie ihn nie wiedersehen wird. Eine solche Geschichte versteht ein Viertklässler. Das ganze Ausmaß eines Völkermords versteht er nicht.
Holocaust-Gedenkstätte Yed Vashem, hier gedenkt Ministerpräsident Stefan Weil
Einzelnen Menschen wie Hannah nahekommen – das nimmt Andreas Herberg-Rothe als wichtigsten Impuls von einem Seminar in Yad Vashem mit. Herberg-Rothe ist Politik- und Ethiklehrer an einer Waldorfschule in Fulda. In der Fortbildungsabteilung der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem hat er gemeinsam mit einer Gruppe hessischer Lehrer fünf Tage lang Vorträge gehört und Diskussionen geführt zum Thema: Wie kann ich für Schüler heute die Gräueltaten der Nationalsozialisten greifbar machen? Es ist eine Frage, die nun oft gestellt wird in diesen Wochen, da Mi-granten, offenbar aus palästinensischen oder arabischen Familien, auf Demonstrationen gegen Israels Militäreinsatz im Gazastreifen Hass-Parolen gerufen haben gegen „die Juden“. Ein neuer Antisemitismus wird da sichtbar – und eine neue Herausforderung für Lehrer, dem entgegenzutreten, auch mit dem Blick auf das Leid, das Antisemitismus bereits angerichtet hat.
Lehrern aus aller Welt in dieser Frage Hilfestellung zu geben ist das Ziel des Fortbildungszweigs von Yad Vashem, der „Internationalen Schule für Holocaust-Studien“. Das deutschsprachige Büro richtet im Jahr rund 15 Seminare aus. Außerdem werden dort Lehrmaterialien entwickelt, von den publizierten Erfahrungen eines Zeitzeugen bis zur Planung einer konkreten Unterrichtsstunde. Hinter allem steht die Idee: nicht die Geschichte von sechs Millionen getöteten Menschen zu erzählen. Sondern von sechs Millionen mal einem Menschen. So wie die Lebensgeschichte von Hannah Gofrith, auch sie ist veröffentlicht als ein Buch, das mit Schülern gelesen und behandelt werden kann.
Während in Zeitung, Internet und Fernsehen regelmäßig das ganze Ausmaß der Schoah thematisiert werde, sollten Lehrer vor allem jüngeren Schülern einen Weg über Einzelschicksale bauen. Das sagt Noa Mkayton, Leiterin des deutschsprachigen Büros. Das umso mehr, als die Kinder oft schon vorher mit dem Holocaust konfrontiert worden seien. Und genau hier liege eine Ursache für das Desinteresse und die Ablehnung, die vielen Lehrern entgegenschlagen, sobald sie das Thema auf den Stundenplan heben: Die Kinder kennen den Holocaust schon. Aber auf einer abstrakten Ebene, die sie nicht fassen können. Wenn sie ihre Eltern oder Lehrer nach Gaskammern oder Todesmärschen fragen, dann hören sie oft nur ein unvorbereitetes: „Dafür bist du noch zu jung, das hast du in der neunten Klasse.“ Steht der Holocaust dann aber auf dem Lehrplan, gibt es keine Fragen mehr. „Denn das Kind hat – verständlicherweise! – zugemacht“, sagt Mkayton. „Wie soll es auch anders mit einer Information umgehen, für deren Verarbeitung es schlicht noch nicht emotional reif ist?“
So dürfe kein Erstkontakt mit einem Thema laufen, das bis heute wichtig sei; und das in mehr Fächer gehöre als in Geschichte, sagt Mkayton. Deutsch, Kunst, Musik, Ethik und Religion – die Schoah hat so viele Lebensbereiche beeinflusst, so viel Altes zerstört und, in der Verarbeitung, Neues geschaffen, dass sich die meisten Fächer eignen, mit Kindern darüber zu sprechen. Und ihnen die Aktualität des Themas zu vermitteln. Ein Ereignis wie der Holocaust sagt sehr viel über die Gefahren aus, die selbst in einer kultivierten, zivilisierten Gesellschaft stecken, denn die Akteure waren keine Monster. Sie waren Ehemänner, Mütter, Nachbarn. Hier können auch Schüler erreicht werden, die argumentieren: So etwas würde doch heute, in einer Gesellschaft wie der unsrigen, nie passieren. Der Holocaust zeigt: Es konnte eben doch.
„Wichtig ist, dass ich im Unterricht schon vor dem Ausbruch des Schlimmsten ansetze – in den goldenen 1920ern vielleicht, in der Zeit vor dem Weltkrieg“, sagt Andreas Herberg-Rothe. Er will mit seinen Schülern über das ganz Alltägliche sprechen: die Einrichtung der Wohnungen von Juden und Nazis etwa, die sich im Vorkriegsdeutschland kaum unterschieden. Über das kulturelle Leben, Bücher, die gelesen wurden, Konzerte, die gegeben wurden. So könnten die Kinder die Menschen einordnen. Noa Mkayton stimmt dem zu: „Wenn ich sehe, wie ein völlig ausgehungerter Mann im gestreiften KZ-Anzug erschossen wird, dann kann nicht einmal ich, als Erwachsene, eine emotionale Bindung zu ihm herstellen. Wenn ich aber weiß, dass dort ein Familienvater steht, wenn ich mir vorstellen kann, was er für ein Leben kannte, welche Hoffnungen er hatte und welche Pläne – dann wird sein Schicksal greifbar. Dann kann ich das Grauen verstehen.“
Besonders von Kindern mit Migrationshintergrund hören Lehrer oft die Frage: „Was habe ich damit zu tun?“ Weil sie oder ihre Familie aus anderen Ländern kommen, fühlen sie sich von diesem Teil der Geschichte noch weniger betroffen als ihre Klassenkameraden. Die Verfolgung der Juden war allerdings bei Weitem nicht auf Deutschland beschränkt. Polen, die Niederlande und Frankreich haben massive Verhaftungen, Abschottungen in Stadtvierteln oder Ghettos und Deportationen gesehen. Und selbst Länder wie Albanien können ihre eigene Geschichte vom Holocaust erzählen: Rund 2000 Juden konnten sich vor der Verfolgung der Nationalsozialisten retten, weil sie von Einheimischen, vielfach Muslimen, versteckt wurden – selbst in der Zeit, in der das Land von Deutschland besetzt war. Über Geschichten wie diese können Schüler, deren Familien aus ähnlichen Kulturkreisen kommen, Brücken zur eigenen Identität schlagen und damit eine persönliche Verbindung zum Geschehenen herstellen.
Im Klassenzimmer soll das Ziel letztlich nicht das Verurteilen von Menschen oder Handlungen sein. „Das gehört in den Gerichtssaal“, sagt Mkayton. Stattdessen sollen die Schüler in die Lage versetzt werden zu beurteilen. Das heißt für die Leiterin des deutschsprachigen Büros: das Geschehene moralisch und emotional einordnen zu können. Andreas Herberg-Rothe zieht den Schluss: „Es ist zu einfach zu sagen: Die waren böse, also handeln wir anders. Wir müssen versuchen, die Entscheidungen der damals Handelnden zu verstehen. Nur dann können wir für uns selbst, für unsere Gegenwart, etwas daraus lernen.“
Holocaust-Gedenkstätte Yed Vashem, hier gedenkt Ministerpräsident Stefan Weil
Einzelnen Menschen wie Hannah nahekommen – das nimmt Andreas Herberg-Rothe als wichtigsten Impuls von einem Seminar in Yad Vashem mit. Herberg-Rothe ist Politik- und Ethiklehrer an einer Waldorfschule in Fulda. In der Fortbildungsabteilung der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem hat er gemeinsam mit einer Gruppe hessischer Lehrer fünf Tage lang Vorträge gehört und Diskussionen geführt zum Thema: Wie kann ich für Schüler heute die Gräueltaten der Nationalsozialisten greifbar machen? Es ist eine Frage, die nun oft gestellt wird in diesen Wochen, da Mi-granten, offenbar aus palästinensischen oder arabischen Familien, auf Demonstrationen gegen Israels Militäreinsatz im Gazastreifen Hass-Parolen gerufen haben gegen „die Juden“. Ein neuer Antisemitismus wird da sichtbar – und eine neue Herausforderung für Lehrer, dem entgegenzutreten, auch mit dem Blick auf das Leid, das Antisemitismus bereits angerichtet hat.
Lehrern aus aller Welt in dieser Frage Hilfestellung zu geben ist das Ziel des Fortbildungszweigs von Yad Vashem, der „Internationalen Schule für Holocaust-Studien“. Das deutschsprachige Büro richtet im Jahr rund 15 Seminare aus. Außerdem werden dort Lehrmaterialien entwickelt, von den publizierten Erfahrungen eines Zeitzeugen bis zur Planung einer konkreten Unterrichtsstunde. Hinter allem steht die Idee: nicht die Geschichte von sechs Millionen getöteten Menschen zu erzählen. Sondern von sechs Millionen mal einem Menschen. So wie die Lebensgeschichte von Hannah Gofrith, auch sie ist veröffentlicht als ein Buch, das mit Schülern gelesen und behandelt werden kann.
Während in Zeitung, Internet und Fernsehen regelmäßig das ganze Ausmaß der Schoah thematisiert werde, sollten Lehrer vor allem jüngeren Schülern einen Weg über Einzelschicksale bauen. Das sagt Noa Mkayton, Leiterin des deutschsprachigen Büros. Das umso mehr, als die Kinder oft schon vorher mit dem Holocaust konfrontiert worden seien. Und genau hier liege eine Ursache für das Desinteresse und die Ablehnung, die vielen Lehrern entgegenschlagen, sobald sie das Thema auf den Stundenplan heben: Die Kinder kennen den Holocaust schon. Aber auf einer abstrakten Ebene, die sie nicht fassen können. Wenn sie ihre Eltern oder Lehrer nach Gaskammern oder Todesmärschen fragen, dann hören sie oft nur ein unvorbereitetes: „Dafür bist du noch zu jung, das hast du in der neunten Klasse.“ Steht der Holocaust dann aber auf dem Lehrplan, gibt es keine Fragen mehr. „Denn das Kind hat – verständlicherweise! – zugemacht“, sagt Mkayton. „Wie soll es auch anders mit einer Information umgehen, für deren Verarbeitung es schlicht noch nicht emotional reif ist?“
So dürfe kein Erstkontakt mit einem Thema laufen, das bis heute wichtig sei; und das in mehr Fächer gehöre als in Geschichte, sagt Mkayton. Deutsch, Kunst, Musik, Ethik und Religion – die Schoah hat so viele Lebensbereiche beeinflusst, so viel Altes zerstört und, in der Verarbeitung, Neues geschaffen, dass sich die meisten Fächer eignen, mit Kindern darüber zu sprechen. Und ihnen die Aktualität des Themas zu vermitteln. Ein Ereignis wie der Holocaust sagt sehr viel über die Gefahren aus, die selbst in einer kultivierten, zivilisierten Gesellschaft stecken, denn die Akteure waren keine Monster. Sie waren Ehemänner, Mütter, Nachbarn. Hier können auch Schüler erreicht werden, die argumentieren: So etwas würde doch heute, in einer Gesellschaft wie der unsrigen, nie passieren. Der Holocaust zeigt: Es konnte eben doch.
„Wichtig ist, dass ich im Unterricht schon vor dem Ausbruch des Schlimmsten ansetze – in den goldenen 1920ern vielleicht, in der Zeit vor dem Weltkrieg“, sagt Andreas Herberg-Rothe. Er will mit seinen Schülern über das ganz Alltägliche sprechen: die Einrichtung der Wohnungen von Juden und Nazis etwa, die sich im Vorkriegsdeutschland kaum unterschieden. Über das kulturelle Leben, Bücher, die gelesen wurden, Konzerte, die gegeben wurden. So könnten die Kinder die Menschen einordnen. Noa Mkayton stimmt dem zu: „Wenn ich sehe, wie ein völlig ausgehungerter Mann im gestreiften KZ-Anzug erschossen wird, dann kann nicht einmal ich, als Erwachsene, eine emotionale Bindung zu ihm herstellen. Wenn ich aber weiß, dass dort ein Familienvater steht, wenn ich mir vorstellen kann, was er für ein Leben kannte, welche Hoffnungen er hatte und welche Pläne – dann wird sein Schicksal greifbar. Dann kann ich das Grauen verstehen.“
Besonders von Kindern mit Migrationshintergrund hören Lehrer oft die Frage: „Was habe ich damit zu tun?“ Weil sie oder ihre Familie aus anderen Ländern kommen, fühlen sie sich von diesem Teil der Geschichte noch weniger betroffen als ihre Klassenkameraden. Die Verfolgung der Juden war allerdings bei Weitem nicht auf Deutschland beschränkt. Polen, die Niederlande und Frankreich haben massive Verhaftungen, Abschottungen in Stadtvierteln oder Ghettos und Deportationen gesehen. Und selbst Länder wie Albanien können ihre eigene Geschichte vom Holocaust erzählen: Rund 2000 Juden konnten sich vor der Verfolgung der Nationalsozialisten retten, weil sie von Einheimischen, vielfach Muslimen, versteckt wurden – selbst in der Zeit, in der das Land von Deutschland besetzt war. Über Geschichten wie diese können Schüler, deren Familien aus ähnlichen Kulturkreisen kommen, Brücken zur eigenen Identität schlagen und damit eine persönliche Verbindung zum Geschehenen herstellen.
Im Klassenzimmer soll das Ziel letztlich nicht das Verurteilen von Menschen oder Handlungen sein. „Das gehört in den Gerichtssaal“, sagt Mkayton. Stattdessen sollen die Schüler in die Lage versetzt werden zu beurteilen. Das heißt für die Leiterin des deutschsprachigen Büros: das Geschehene moralisch und emotional einordnen zu können. Andreas Herberg-Rothe zieht den Schluss: „Es ist zu einfach zu sagen: Die waren böse, also handeln wir anders. Wir müssen versuchen, die Entscheidungen der damals Handelnden zu verstehen. Nur dann können wir für uns selbst, für unsere Gegenwart, etwas daraus lernen.“