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Regieraum des Lebens

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Wenn Florian Schumacher aufwacht, weiß er mehr über die zurückliegende Nacht als die meisten anderen. Ein Blick auf sein Smartphone oder seinen Tablet-Computer verrät ihm, wie lange er netto geschlafen hat, wie oft er aufgewacht ist, wie viele Tiefschlafphasen er hatte. Und wenn er abends zu Bett geht, weiß er mehr über seinen Tag als der Normalbürger, wie viele Schritte er gegangen ist, wie effektiv sein Training war, wie produktiv er gearbeitet hat, und er kann exakt nachlesen, wie viele Kalorien er zu sich genommen hat.



Dienen der Kontrolle: Die technischen Möglichkeiten der Smartphones wachsen rapide

Schumacher ist ein sogenannter Self-Tracker, ein Selbstvermesser, er sammelt Daten über sich und seinen Körper und nutzt sie, um seinen Alltag besser zu strukturieren und gesünder zu leben. Seine digitalen Werkzeuge trägt er ständig bei sich: Armbänder, die seine Bewegungen aufzeichnen, eine Uhr, auf deren Unterseite zahlreiche Sensoren permanent seine Körperfunktionen messen, Blutdruck, Puls, Stresslevel. Seit vier Jahren nutzt er entsprechende Apps, seit drei Jahren trägt er regelmäßig ein Fitness-Armband am Handgelenk. Er fühle sich jetzt besser als vor dieser Zeit, sagt er heute, und kann sich ein Leben ohne Technologien zur Selbstoptimierung nicht mehr vorstellen. „Unsere Fähigkeit, uns selbst wahrzunehmen, ist in vielen Bereichen begrenzt“, sagt er, „Self-Tracking hilft uns, Zusammenhänge zu entdecken, die uns sonst verborgen bleiben.“ In dieser Wahrnehmung vervollständigt die Technik den menschlichen Körper. Jahrelang hatte das einen experimentellen und spielerischen Charakter. Wer Menschen wie Schumacher zuhört, gewinnt den Eindruck, dass es inzwischen um mehr geht. Um kollektive Optimierung menschlichen Verhaltens. Der technische Fortschritt macht es möglich: Es gibt kaum etwas, das man nicht messen und in Relation zu anderen Daten setzen könnte.

Die Szene, der Schumacher angehört, nennt sich „Quantified Self“ (QS), das in Zahlen gefasste Ich. Dahinter steckt ein weltumspannendes Netzwerk aus Anwendern, App-Entwicklern und Hardware-Anbietern, aus Großkonzernen wie Nike und Apple und Hobbyprogrammierern. Inzwischen tauschen sich die Anhänger der Bewegung in 160 Ortsgruppen in mehr als 120 Städten rund um den Globus aus, bei regelmäßigen Treffen teilen sie ihre Daten und Erfahrungen, ihre Ideen und Projekte. Schumacher war einer der Vorreiter der Bewegung in Deutschland. Der 34-Jährige gründete die erste QS-Gruppe in München, er betreibt die deutsche QS-Internetseite, einen Blog zum Thema, schreibt für Fachmagazine und berät Unternehmen dazu, wie sie Tracking-Lösungen für sich nutzen können.

Wenige Jahre nachdem die ersten Facebook-Freunde mit Smartphone-Anwendungen wie Runtastic auf dem sozialen Netzwerk mitteilten, wie weit, wie schnell und wo entlang sie gejoggt sind, wird der Trend zum Massenphänomen. Jetzt springen die großen Technikfirmen auf den Zug auf: Mit dem neuen mobilen Apple-Betriebssystem, iOS 8, wird die Anwendung HealthKit auf jedem iPhone fest vorinstalliert sein. Sie zeichnet auf Wunsch Daten zu Bewegung, Ernährung und Schlaf auf. Das Programm wird zu einer Entwickler-Schnittstelle, die auf die Daten anderer Gesundheitsapps zugreift. Mit dabei ist die Nutzer-Anwendung Health, die diese Daten bündelt, für den Smartphone-Besitzer aufbereitetund anzeigt. Auf einer digitalen Gesundheitskarte können die Nutzer alle gesundheitsbezogenen Daten auf dem Handy bei sich tragen, etwa ihre Blutgruppe, Allergien, chronische Krankheiten. Ein Notarzt kann sie auch dann einsehen, wenn das Telefon gesperrt ist. Auf der Entwickler-Konferenz WWDC Anfang Juni erklärte Apple, worum es dem Konzern geht: „Diese Plattform ist der Ort, an dem Anwendungen dazu beitragen können, ein zusammenhängendes Profil Ihrer Aktivitäten und Ihrer Gesundheit zu erstellen“, sagte Apple-Manager Craig Federighi auf der Konferenz. Google hat mit seiner Lösung Google Fit Ähnliches vorgestellt, Samsungs Angebot heißt Sami.

Das zentrale Stichwort in Federighis Sätzen lautet „Plattform“. Die gab es nämlich bislang nicht. Es habe ein Ort gefehlt, der die Daten der verschiedenen Armbänder und Apps verknüpft, und das habe die Nutzer eingeschränkt, sagt Schumacher. „Wir erleben jetzt den Aufbruch in ein neues Zeitalter“, ist er überzeugt. So weiß die Kalorien-zähl-App künftig automatisch, wenn der Nutzer mehr Sport gemacht hat, und erlaubt ihm ein zweites Stück Kuchen. Oder das Handy bringt erhöhten Blutdruck mit dem Kaffeekonsum in Verbindung und empfiehlt ein paar Tassen weniger, ohne dass der Nutzer selbst nachschauen muss.
Das sind nur Beispiele für Tausende Möglichkeiten, von denen sich Konzerne wie Apple und Google viel erhoffen. Deren Plattformen sollen zum Regieraum des Lebens werden. Wohl auch deshalb sagen Fachleute dem Self-Tracking-Markt rasantes Wachstum voraus. Die Webseite quantifiedself.com listet bis dato 505 Applikationen und Geräte auf, zwischen denen Self-Tracker wählen können. Die US-Marktforscher von IHS beziffern das weltweite Marktvolumen der sogenannten Wearable Technologies, also am Körper getragenen, vernetzten Geräten, auf bis zu 60 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018. Die 20 populärsten Fitness- und Gesundheitsapps in den USA und Großbritannien seien bislang mehr als 230 Millionen Mal installiert worden. Unlängst schätzten die Technik-Analysten von Gartner, bis in drei Jahren würden diese Geräte für bis zu 50 Prozent der gesamten App-Interaktion von Smartphones sorgen. Schon im kommenden Jahr würden die meisten Anwendungen ohnehin Daten zu Nutzern und deren sozialen Gewohnheiten sammeln, synchronisieren und analysieren.

Dieser Massenmarkt macht auch vor der Arbeitswelt nicht halt. Längst gibt es Beispiele von Unternehmen, die ihre Beschäftigten mit Tracking-Geräten ausstatten, um das Verhalten zu optimieren. Der Ölkonzern BP etwa verschenkte im vergangenen Jahr Fitnessarmbänder an 14000 Mitarbeiter. Wer damit seine Bewegungen aufzeichnen ließ und im Jahresverlauf mehr als eine Million Schritte ging, konnte seinen Versicherungsbeitrag senken. Noch weiter geht das Angebot von Sociometric Solutions, einem Bostoner Start-up: Beschäftigte sollen mit Sensoren und zwei Mikrofonen versehene Zugangskarten tragen, die ihr Kommunikationsverhalten aufzeichnen. Mit den so erhobenen Daten habe Sociometric Solutions schon in mehreren Unternehmen die Leute produktiver gemacht und Umsätze gesteigert, sagte der Gründer vor Kurzem der New York Times.

Aus Quantified Self wird Quantified Employee, der quantifizierte Arbeitnehmer. Die Grenze zwischen Fremd- und Selbstkontrolle verschwimmt zusehends, im Privatleben wie am Arbeitsplatz.

In Deutschland nutzt einer Umfrage des IT-Verbands Bitkom zufolge etwa jeder achte über 14 Jahren ein Tracking-Gerät. Und nicht nur in den USA deutet sich an, was mit der massenhaften Verbreitung der kleinen Geräte möglich wird. Zum Beispiel bei der Gesundheitsvorsorge: Die per App gesammelten Daten sind nämlich auch für Versicherungen und Krankenkassen interessant. So bietet die AOK Nordost ihren Versicherten die Fitness-App Dacadoo für eine Zeit kostenlos an und errechnet aus den aufgezeichneten Werten deren allgemeinen Gesundheitszustand. Ähnliche Angebote gibt es bereits bei der DAK, der Barmer und der Betriebskrankenkasse des Autoherstellers Daimler. Die AOK Nordost betont in diesem Zusammenhang, man erhebe nur anonyme Daten und keine Detailinformationen über einzelne Versicherte – Dacadoo aber erhält diese Daten. Es ist längst nicht mehr undenkbar, die Höhe von Versicherungsbeiträgen an das per App aufgezeichnete Verhalten zu knüpfen.

Die Schriftstellerin Juli Zeh hat sich mehrmals öffentlich gegen die private Datensammelwut gestellt, sie hat vor wenigen Jahren in ihrem Buch „Corpus Delicti“ einen dystopischen Zukunftsstaat geschaffen, in dem Menschen hart bestraft werden, wenn sie nicht den gesetzlichen Gesundheits- und Hygienestandards genügen und ihr Verhalten akribisch dokumentieren. „Quantified Self verabschiedet sich von einer Vernunft, die zum Bestimmen des richtigen Lebens keinen Taschenrechner braucht“, schrieb Zeh in einem Gastbeitrag für den Schweizer Tagesanzeiger. „Selbstvermessung ist das Gegenteil von Selbstvertrauen.“ Wenn es einen optimalen Lebensstil gebe, dann gebe es auch Abweichungen von der Norm, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen ließen.

Florian Schumacher teilt diese Bedenken nicht, er weist auf die vielen anderen Lebensbereiche hin, die Menschen bereits heute nicht mehr allein unter Kontrolle hätten. „Heute schon werden wir mit Werbung manipuliert, da könnten zukünftig andere Einflüsse hinzukommen. Hoffentlich“, so sagt er, „mit edleren Motiven.“

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