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Raketen und lebende Schutzschilde

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Von Rechtsverstößen ist buchstäblich schon seit dem ersten Tag dieses jüngsten Gaza-Konflikts die Rede. Am vergangenen Mittwoch mahnte der palästinensische Vertreter im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN), Ibrahim Kraishi, im TV-Sender der Palästinensischen Autonomiebehörde: „Die Raketen, die jetzt auf Israel geschossen werden – jede einzelne von ihnen stellt ein Verbrechen dar, egal ob sie trifft oder danebengeht, weil sie auf zivile Ziele gerichtet ist.“ Die Hochkommissarin der UN für Menschenrechte, Navi Pillay, äußerte ihrerseits „ernste Zweifel, ob Israels Schläge mit humanitärem Völkerrecht und internationalen Menschenrechten übereinstimmen“ und rief zu einer „unabhängigen Untersuchung“ auf.
Kann sich Israel auf Selbstverteidigung berufen?



Die Raketenabwehrsysteme in Israel sollen die Bevölkerung vor schlimmsten Angriffen schützen

Die UN-Charta erlaubt jedem Staat, sich gegen einen gewaltsamen Angriff zu verteidigen. Der Raketenbeschuss israelischer Städte durch die Hamas ist ein Angriff, auch wenn die meisten Flugkörper am israelischen Raketenabwehrschirm „Iron Dome“ abprallen. Ist die Sache damit klar? Nein, für das Recht auf Selbstverteidigung kommt es auch auf die Vorgeschichte an, betont Kai Ambos, der an der Universität Göttingen Völkerstrafrecht lehrt – also auf die Besatzung in Gaza. Schlag oder Gegenschlag, Vergeltung oder Gegenvergeltung sähen sich oft zum Verwechseln ähnlich, und schnell lande man, auch unter Juristen, wieder bei der nahöstlichen Glaubensfrage, wer angefangen hat. Um es abzukürzen, sagt Ambos: „Israel ist nicht unzweifelhaft das Opfer. Ebenso wenig gilt das für die Hamas.“ Wichtiger sei jetzt, darauf zu dringen, dass beide Seiten nur mit erlaubten Mitteln kämpften. Da stünden beide in der Pflicht. Egal, wer angefangen hat.

Ambos’ Kollege Jasper Finke, der an der Bucerius Law School in Hamburg lehrt, ergänzt: Auch wenn die Hamas ein „nicht-staatlicher Akteur“ sei, gelte sie nach modernem Völkerrecht als Gegner, der wie eine Armee behandelt werden dürfe.

Mehr als 160 Tote auf der einen Seite, eine kleine Anzahl Verletzter auf der anderen Seite. Sind Israels Schläge schon aufgrund dieser extrem ungleichen Opferbilanz unverhältnismäßig?

Das kann man nicht so einfach sagen. Das humanitäre Völkerrecht verlangt, dass jeder Militärschlag verhältnismäßig ist. Das bedeutet aber nicht eine plumpe Auge-um-Auge-Rechnung, sondern läuft auf die Frage hinaus: Ist eine bestimmte Härte unumgänglich, um ein legitimes militärisches Ziel zu erreichen – oder steht diese Härte „in keinem Verhältnis“ zu dem Ziel, wie es in Artikel 51 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen heißt? Israels Armee, so sagen die beiden Völkerrechtler Ambos und Finke, könne zumindest auf ihr legitimes Ziel verweisen, die Raketenangriffe der Hamas zu unterbinden.

Einfache Rechnungen funktionierten bei dieser Konfliktlage im Übrigen so schlecht wie sonst nie: „Die asymmetrische Opferbilanz hat ihre Ursache auch darin, wie die Hamas den Konflikt austrägt“, sagt Finke – „Kommandozentralen in zivilen Wohngebieten oder Gebäuden und vergleichbare Strategien. Wenn man die Frage stellt, ob Israels Militärschläge verhältnismäßig sind, ist dabei auch das Verhalten der Hamas zu berücksichtigen, das darauf abzielt, dass es zu möglichst hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung kommt.“ Die Hamas bemühe sich bewusst darum, das Schlachtfeld unübersichtlich zu machen, sagt der Völkerrechtler Ambos. Das entstehende Leid von Zivilisten müsse dann rechtlich zum Teil auch ihr zugerechnet werden.

Wie ist es mit der Hamas-Taktik, Zivilisten als Schutzschilde einzusetzen?

Kürzlich nannte ein Hamas-Sprecher jene Palästinenser Vorbilder, die vor einem israelischen Angriff auf die Dächer von Gebäuden gestiegen waren. „Wenn die Leute das freiwillig tun“, sagt der Göttinger Völkerrechtler Ambos, „ist das kein illegaler Akt der Hamas.“ Nur wenige Hardliner in der juristischen Debatte wie der US- Professor Michael N. Schmitt verträten die Auffassung, dass solche Hamas-Sympathisanten wie Kämpfer beschossen werden dürften. Stattdessen blieben sie Zivilisten – und wirkten juristisch wie ein Schutzschild, weil es verboten ist, sie zu beschießen.

Was bedeutet es, wenn Israel die palästinensische Bevölkerung vorwarnt?

Israels Armee erfüllt damit eine Pflicht, die im 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen festgeschrieben ist. Wer in einem Wohngebiet militärisch operiert, der muss demnach „Vorkehrungen“ treffen, um Zivilisten zu schützen und von Kämpfern zu trennen. Wobei der in Tel Aviv lehrende israelische Völkerrechtler Aeyal Gross in der Tageszeitung Haaretz darauf hinweist, dass es eine solche Warnung nur in einzelnen Fällen gab. Die Armee werde dadurch nicht von Verantwortung frei: „Nicht nur, weil die Warnzeit kurz war. Oft haben die Zivilisten keinen Ort, an den sie rennen können.“

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