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Feuer frei

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San Francisco – Als unerbittlich zu gelten war für Jeff Bezos schon immer eine Auszeichnung: „Relentless“ lautet der englische Begriff dafür, und genau so wollte der heute 50-Jährige einst sein Unternehmen nennen. Er wählte dann Amazon, doch die Unerbittlichkeit ist geblieben und Teil der Konzern-Identität geworden. Diese Woche spürte das auch mal wieder die globale IT-Konkurrenz. Amazon, dessen Branche längst dem „Online-Versand“ entwachsen ist, stellte ein eigenes Smartphone vor. Fire Phone heißt das neue Gerät und ist die vielleicht tollkühnste Wette, die Bezos bislang eingegangen ist.



Jeff Bezos präsentiert das Fire Phone: Ein Smartphone, das anders sein soll.

Das Smartphone-Geschäft ist verführerisch: Alleine im ersten Quartal dieses Jahres verkaufte die Branche 280 Millionen Geräte, das sind 30 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Doch das Geschäft ist auch von hartem Konkurrenzkampf geprägt. Wer nicht Apple oder Samsung heißt, leidet. Denn die Hardware ist verwechselbar geworden, die Produktions- und Entwicklungskosten hoch genug, um bei schlechten Verkaufszahlen tiefe Löcher in die Bilanz zu reißen. „Selbst etablierte Hersteller haben Probleme, sich zu behaupten“, sagt Tuong Nguyen von der Marktforschungsfirma Gartner. „Als Newcomer den Markt aufzurollen, ist quasi unmöglich.“

Solche Aussagen dürften für den unterbittlichen Bezos nur ein Ansporn sein. Amazon habe nicht überlegt, ob man ein Smartphone baue, erklärte er während der Produktpräsentation am Mittwoch in Seattle. „Wir wollen wissen: Wie können wir ein Smartphone bauen, das anders ist?“ Was Amazon anders macht, ist schnell erzählt: Das Display des Fire Phone soll mit einer Art Tiefen-Perspektive im 3-D-Stil dem Kunden etwas fürs Auge bieten, die Steuerung per Kopfhaltung und Neigegrad den Komfortfaktor erhöhen. Kostenloser und unbegrenzter Foto-Speicherplatz sollen mögliche Neukunden locken, die Kernfunktionen die Besitzer noch enger an das Amazon-Universum binden.

Genau dafür hat Amazon ein mächtiges Werkzeug geschaffen: Firefly, eine Art Scanfunktion für die physische Welt. Per Knopfdruck identifiziert das Telefon das, was sein Besitzer gerade fotografiert oder hört, von Gemälden über Filmszenen und Musik bis hin zu Alltagsgegenständen. Was das Smartphone erkennt und Amazon auf Lager hat, kann der Kunde umgehend bestellen. Das Fire Phone wird so zur Einkaufsmaschine, die Welt zum Showroom. Dem stationären Einzelhandel dürfte schwindelig werden. Und die Konkurrenz von Google, HTC, Apple und Co sich sofort ans Nachbauen machen.

Amazon, daraus macht die Firma keinen Hehl, geht es um neue Kunden für seinen Premium-Dienst Prime. Käufer erhalten beim Kauf eine einjährige Mitgliedschaft kostenlos. Bislang zahlen geschätzt 20 Millionen Menschen einen zweistelligen Jahresbeitrag und erhalten dafür kostenlose Streaming-Dienste und bessere Liefer-Konditionen. Dafür kaufen sie auch kräftig ein: Mit durchschnittlich umgerechnet 985 Euro gibt der Prime-Kunde doppelt so viel auf der Plattform aus wie der reguläre Amazon-Kunde. War das Tablet „Fire“ noch das perfekte Gerät für ihren Digital-Konsum, haben sie nun im Idealfall mit dem Fire Phone die Amazon-Welt immer und überall griffbereit und damit keinen Grund mehr, den Kosmos des Online-Händlers zu verlassen.

Doch die Sache hat zwei Haken: Sein Fire-Tablet brachte Amazon noch zu Kampfpreisen auf den Markt. Beim Handy müssen die Kunden tiefer in die Tasche greifen. In den USA kostet das Gerät 199 Dollar mit einem Mobilfunkvertrag bei AT&T und 649 Dollar ohne Sim-Karte. Ein Deutschlandstart ist derzeit noch nicht absehbar. Die Kosten entsprechen dem Preisniveau der Flagschiff-Modelle von Apple oder Samsung – ein Hochpreis-Markt, der inzwischen deutlich langsamer wächst.

So gab Bezos sich in seiner Produktpräsentation auch Mühe, die hohe Qualität und Liebe fürs Detail zu betonen. Sätze wie: „Manchmal sind es die kleinen Berührungen, die zählen”, erinnern nicht nur zufällig an den verstorbenen Apple-Chef Steve Jobs, aus dessen Vortragsstil sich Bezos gerne Anleihen holt. Doch den Ruf für das goldene Händchen muss sich Bezos erst noch erarbeiten: Die ersten Kurztests des Fire Phones ließen die amerikanischen Tech-Blogger wenig euphorisch zurück.

Amazon steigt in jedem Fall erst spät ins Smartphone-Geschäft ein, vielleicht zu spät. „Das Gerät macht einen ordentlichen Eindruck, aber können sie damit Kunden von den anderen Marken und Betriebssystemen ködern?“, fragt Gartner-Analyst Nguyen. „Ich würde mein Smartphone wahrscheinlich nicht für das neue Amazon-Modell eintauschen. Sie etwa?“ Am 25. Juli kommt das Fire Phone in den US-Handel, danach wird Bezos wissen, ob sich seine Unerbittlichkeit auszahlt. Angesichts geringer Gewinne würde ein Misserfolg für Bezos schmerzhaft werden.

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