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Britische Werte

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Als der britische Premier David Cameron vergangenen April Sajid Javid zum Minister für Kultur, Medien und Sport berief, löste das nicht wenig Verwunderung aus. Der Tory-Abgeordnete schien keinerlei Fachkompetenz mitzubringen: Als überzeugter Thatcherite hatte der 44-Jährige eine steile Karriere im Bankenwesen hingelegt, bevor er vor vier Jahren in die Politik gewechselt war. In einer rauen Nachbarschaft Bristols als eines von fünf Kindern eines pakistanischen Busfahrers aufgewachsen, nannte der neue Minister als seine wichtigsten kulturellen Einflüsse die Popband U2 und „Raumschiff Enterprise“. Es gab Zweifel, ob Javid in dem einen Jahr bis zur nächsten Unterhauswahl sein Ressort irgendwie würde prägen können.



Die Ballettvorstellungen im Royal Opera House in London sind ein Teil der britischen Hochkultur.

Jetzt aber hat Sajid Javid gleich mit seiner ersten großen Rede dem kulturpolitischen Diskurs in Großbritannien seinen Stempel aufgedrückt. In seiner Heimatstadt Bristol wandte er sich mit der Aufforderung an die Kulturschaffenden: „Machen Sie das, was Sie tun, für alle zugänglich!“ Unzugänglich sei die britische Hochkultur unter anderem für Menschen mit einem ethnischen Hintergrund wie dem seinen. Zu viele Briten seien „kulturell entrechtet“: „Vergessen Sie nie“, so Javid, „dass jeder Penny öffentlicher Förderung von hart arbeitenden Steuerzahlern aus allen Bevölkerungsgruppen stammt.“
Während die Betonung des finanziellen Aspekts subventionierter Kunst aus dem Mund eines ehemaligen Bankers kaum überraschte, traf Javids Feststellung, der Kunstbetrieb schließe Minderheiten aus, einen empfindlichen Nerv. Der Kulturminister legte in einem Interview mit dem Guardian nach: In seiner Kindheit sei der Besuch eines Theaters, etwa des Londoner Donmar Warehouse, von seiner pakistanischen Familie gar nicht erst als Möglichkeit der Freizeitgestaltung in Betracht gezogen worden. Ein Kinofilm sei schon etwas ganz Besonderes gewesen. Die Frage laute, warum sich bis heute „schwarze und andere ethnische Minderheiten“ so viel weniger mit Kunst befassten als die weiße Mittelschicht? Und warum sie als aktive Teilnehmer am Kulturbetrieb derart unterrepräsentiert seien?

Antworten auf diese Fragen hat Javid bisher nicht parat. Aber allein, dass er sie stellte, genügte, die kulturpolitische Sprecherin der Labour-Opposition, Harriet Harman, zur eiligen Vorlage eines eigenen Kulturkonzepts zu bewegen: Sollte Labour die Wahl 2015 gewinnen, würden staatlich subventionierte Kulturorganisationen nachweisen müssen, dass sie alles dafür täten, sich für sämtliche Bevölkerungsgruppen zu öffnen. Weder in der Oper noch bei den „BBC Proms“ sehe sie Menschen im Publikum, die nicht wie sie selbst „aus der weißen städtischen Mittelschicht“ stammten.

Die von Javid konstatierte Entfernung zwischen ethnischen Minderheiten und dem hochkulturellen Mainstream besteht zweifellos. Die von ihm angestoßene Debatte wirkt jedoch seltsam unproduktiv. Denn gerade die staatlich subventionierten britischen Kultureinrichtungen bemühen sich schon lange, Minderheiten und sozial Benachteilige mit ins Boot zu holen. Der Eintritt in die größten Museen ist frei. Geförderte Theater halten ein Kontingent preiswerter Tickets für Menschen aus der Nachbarschaft bereit und organisieren Aufführungen für Schulklassen.

Das alles ist symptomatisch für eine britische Identitätskrise, die weit über den kulturpolitischen Rahmen hinausgeht. Nach außen manifestiert sich diese Krise in den jüngsten Europawahl-Erfolgen der EU-feindlichen UK Independence Party. Nach innen entlädt sie sich gerade in einem hitzigen Streit, der über die vermeintliche Unterwanderung einiger Schulen in Birmingham durch islamistische Extremisten tobt. Die Schulaufsichtsbehörde Ofsted hat dort vier nominell überkonfessionelle staatliche Schulen bis auf Weiteres unter Aufsicht gestellt. Kurzfristig angesetzte Inspektionen ergaben, dass hier eine „Kultur der Angst und Einschüchterung“ etabliert wurde. Es habe eine organisierte Kampagne gegeben, den Lehrplan entsprechend islamischer Weltanschauung abzuändern, so der Bericht. Jungen und Mädchen seien getrennt unterrichtet, nicht-muslimische Lehrer marginalisiert worden. Die Schüler der betroffenen Schulen seien „schlecht auf das Leben in einem modernen Großbritannien vorbereitet“, sagt Ofsted-Chef Michael Wilshaw.

Als Reaktion auf den Bericht hat Sajid Javids konservativer Parteigenosse, Bildungsminister Michael Gove, angekündigt, alle Schulen müssten fortan „britische Werte lehren“. Dazu zählt er Zivil- und Strafrecht, religiöse Toleranz und die Ablehnung jeder Geschlechtertrennung. Gove trat 2010 mit dem Reformvorsatz an, ein staatsfernes, eigenverantwortliches Schulsystem zu etablieren. Kritiker sagen jedoch, durch die Abkoppelung einzelner Schulen von der Aufsicht lokaler Körperschaften habe der Minister Auswüchse wie jene in Birmingham selbst gefördert.

Paradoxerweise verfolgt Gove gleichzeitig auch ein höchst präskriptives Lehrprogramm. So forderte er kürzlich, zur Vorbereitung für die Englischprüfungen in der Sekundarstufe Isollten Schüler mindestens ein Shakespeare-Drama, einen britischen Roman aus dem 19. Jahrhundert, eine Auswahl britischer Gedichte von 1789 bis heute sowie ein britisches Buch oder Drama aus dem 20. Jahrhundert lesen. Dieser Plan wurde ihm als reaktionäre Agenda ausgelegt, die englische Texte ausländischer Autoren aus dem Lehrplan dränge.

Tatsächlich scheint es Gove darum zu gehen, einen verbindlichen, Identität stiftenden Kulturkanon zu konsolidieren. Dass ein solcher Eingriff überhaupt nötig erscheint, beweist, wie sehr selbst bisher unantastbare Eckpfeiler britischer Kulturidentität an Tragkraft verloren haben. Der gesellschaftliche Kitt, den etwa die Dramen Shakespeares als Ausdruck von Englishness oder Britishness bildeten, bleibt nicht haften in gesellschaftlichen Gruppen, die sich nicht als englisch begreifen, und deren Vorstellung davon, was es heißt, Brite zu sein, deutlich von denen der weißen Mittelschicht abweichen.

Das ist kein spezifisch britisches Problem. Aber es ist in einem Land, das zu Recht Stolz ist auf seine große Toleranz, besonders lange und konsequent ignoriert worden. Wenn sich ein vorbildlich integrierter Immigrantensohn wie der „Enterprise“-Fan Sajid Javid vom britischen Kulturangebot nicht angesprochen fühlt, ist das bedauerlich. Wenn große Teile der britischen Bevölkerung sich im kulturellen wie nationalen Selbstverständnis ihres Landes nicht wiederfinden, ist dies eine weit größere Herausforderung. Und zwar eine, der man langfristig weder mit freiem Museumseintritt noch mit zentral dekretierten Werten wird beikommen können.

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