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Schöne Grüße aus dem Gezi-Park

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Vor einem Jahr, wenige Tage nach Beginn der Gezi-Proteste, schreibt eine knapp 30-jährige Istanbulerin auf Facebook: „Ich sehe Kurden mit Türken. Ich sehe Atheisten, die betende Muslime vor Polizisten schützen. Zum ersten Mal sind alle Menschen vereint. Zum ersten Mal glaube ich an die Macht der Zivilgesellschaft.“ Tausende solcher Kommentare fluten in jenen Tagen die sozialen Netzwerke. Sie klingen wie Jubelschreie – hastig getippt auf dem Smartphone, gesendet direkt aus Beyoğlu und anderen Stadtteilen, die in Istanbul an den zentralen Taksim-Platz angrenzen, tausendfach geteilt auf Facebook und Twitter. Geht es anfangs noch um den Erhalt von ein paar Bäumen im Gezi-Park, fordern die Demonstranten bald schon Veränderung im Großen. Sie wollen eine sozialere Stadtentwicklung, mehr Freiheit, Demokratie, vor allem wollen sie nicht mehr bevormundet werden von Premierminister Recep Tayyip Erdoğan und seiner konservativ-islamischen Partei, der AKP.



Zum Jahrestag gedachten Türken dem Beginn der Gezi-Proteste.


Für viele, vor allem jüngere Türken ist die Protestwelle ein prägendes politisches Moment. Euphorisch bejubeln sie, was sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf die Beine gestellt haben: modernen, kreativen Widerstand, der meistens friedlich bleibt, obwohl die Staatsmacht mit aller Härte vorgeht. Die Medien, auch ausländische, sprechen schon bald von einer „Generation Gezi“. Von überall her kommen Solidaritätsbekundungen. Auch hierzulande verfolgt die türkische Community das Geschehen – am Bildschirm, am Telefon, manche reisen in die Türkei, um an den Demonstrationen teilzunehmen. Für viele Deutschtürken ist der Gezi-Aufstand ein Einschnitt in ihrem Verhältnis zu dem Land, in dem sie, ihre Eltern oder Großeltern geboren sind.

In diesem Frühjahr sind mehrere Bücher zum Thema erschienen, von denen drei einiges gemeinsam haben: Sie wurden von deutschtürkischen Autoren geschrieben und sind in kleinen, linken Verlagen erschienen. Die Autoren bekennen sich zu ihrer Subjektivität, sie sympathisieren mit der Gezi-Bewegung und verweben Interviews, Augenzeugenberichte und eigene Eindrücke zu einer vielstimmigen Darstellung. Tayfun Guttstadt allerdings verzettelt sich dabei etwas mit der Wundertütenhaftigkeit seines Buches „Çapulcu“ – der Titel ist eine Anspielung auf Erdoğans Beschimpfung der Demonstranten als „Marodeure“ – diese griffen den Ausdruck auf und nannten sich fortan selbst so. Die Vorgeschichte der Proteste und den schwer durchschaubaren Sumpf aus Korruption, Abhör- und Justizskandalen in der türkischen Politik breitet Guttstadt aber in einer Detailfülle aus, die den Leser eher verwirrt zurücklässt. Was folgt, ist ein Sammelsurium: eine Chronologie der Ereignisse, Interviews, Aufsätze anderer Autoren sowie auf wenigen Seiten eine „ganz kurze Geschichte der Türkei“.

Denkanstöße finden sich dennoch. So widmet sich Guttstadt der Frage, warum viele Kurden den Protesten skeptisch gegenüberstanden, und lässt eine kurdische Anwältin zu Wort kommen, die den Gezi-Leuten Geschichtsvergessenheit vorwirft: „Als wenn früher alles gut war, und dann kam die AKP und diese ganzen Probleme mit ihr.“ Im Gegenteil: Für Kurden, die unter diesem Staat zu leiden hatten, seit er gegründet wurde, seien die AKP-Jahre keineswegs die schlimmsten gewesen. Schließlich habe Erdoğans Regierung die Macht des Militärs beschnitten, eine Kerninstitution des türkischen Nationalismus.

Mit der deutschen Perspektive und dem übernationalen Charakter der Gezi-Bewegung beschäftigen sich die Journalistinnen Ebru Taşdemir und Canset Içpinar in „Ein ‚türkischer‘ Sommer in Berlin“. Ihre Frage lautet: Warum haben die Proteste so viele Deutschtürken mobilisiert? „Waren wir etwa Integrationsverweigerer, die die Türkei mehr liebten als Almanya? Wohl kaum.“ Die Autorinnen zeichnen ein Stimmungsbild der türkischen Community in Berlin. Sie räumen ein, dass keineswegs alle mit der Gezi-Bewegung einverstanden gewesen seien, konzentrieren sich aber auf den großen Unterstützerkreis, dem sie sich selbst zurechnen: „Wir waren im Delirium, waren verzaubert, ja fast verliebt in die Çapulcus der Türkei.“ Die Autorinnen lassen Sympathisanten zu Wort kommen, verschweigen aber nicht, dass es auch hierzulande eine Gegenbewegung gab: Pro-AKP-Kundgebungen, die größte mit 10000 Teilnehmern in Düsseldorf.

Kritik üben die Autorinnen an der deutschen Berichterstattung, die wohlwollend, aber vereinfachend gewesen sei: „Wer protestiert, war modern und gegen Erdoğan und somit auch gegen den Islam“, habe der Tenor gelautet. Tatsächlich aber sei die Bewegung vielfältiger gewesen. Taşdemir und Içpinar führen etwa die „Antikapitalistischen Muslime“ als Beleg dafür an, dass Gezi keine antireligiöse Bewegung war, sondern auch muslimische Gruppen umfasste, die den Regierungsstil und den knallharten Kapitalismus der AKP kritisch sehen. Daher, so die Autorinnen, „war es eine Bereicherung, dass auch viele türkeistämmige KollegInnen aus Deutschland zu den Protesten vor Ort gereist sind“.

Zu ihnen gehörte der taz-Autor Deniz Yücel, der Mitte Juni 2013 aus Istanbul berichtete und Szenen wie diese beschreibt: „Ich sah, wie eine mit Knüppeln bewaffnete Gruppe von AKP-Leuten aus Kasımpaşa kam und vor den Augen der Polizei auf Menschenjagd ging. Wer solche Beobachtungen aufschreibt, gerät leicht in den Verdacht, einseitig zu berichten. Aber Gummigeschosse aus zwei Meter Entfernung abzufeuern, ist auch eine einseitige Angelegenheit.“

Monate später kehrt er für die Recherchen zu seinem Buch „Taksim ist überall“ in die Stadt zurück. Er will herausfinden, wer die Demonstranten waren und was sie antrieb. In lebendiger, präziser Sprache schreibt er über seine Begegnungen: mit Mitgliedern des berüchtigten Beşiktaş-Fanklubs Çarşı, mit kurdischen Teeverkäufern, Juden und Armeniern; er spricht mit gläubigen Muslimen, mit Schwulen und Transsexuellen, Studenten, Unternehmern, mit Linken und Liberalen, Jüngeren und Älteren – wie ein Mosaik entsteht so ein Bild von den bis zu 3,5 Millionen Menschen, die im vergangenen Sommer auf die Straße gegangen sind. Und so unterschiedlich deren Motive auch gewesen sein mögen: Sie alle haben die Nase voll von einem Staat, der die Zivilgesellschaft nicht achtet, sondern seine Bürger als Bedrohung empfindet, gegen die es sich mit Tränengas und Wasserwerfern zu verteidigen gilt.

Was hat Yücel, den Almancı (die türkische Bezeichnung für Deutschtürke), in den Tagen des Protests nach Istanbul getrieben? Es war, schreibt er, eine Herzensentscheidung. Für die meisten Almancıs sei die Türkei ein besonderes Land. Dank der Çapulcus war es plötzlich möglich, mit Stolz zu dieser Bindung zu stehen: „Wir können uns zur Türkei, zu diesem Teil der Türkei, bekennen, ohne uns von irgendwelchen Sarrazins nach unserer Integrationsbereitschaft ausfragen lassen zu müssen.“ Jener Teil der türkischen Gesellschaft, der sich im Gezi-Park zeigte, brauche den Vergleich mit der westlichen Welt nicht zu scheuen. „Als kollektive Referenz für die weiß Gott notwendigen Veränderungen ist Gezi nicht schlechter als die EU.“
Ganz ähnlich formulieren es Taşdemir und Içpinar: „Die deutsche Seite im Kopf schaute plötzlich bewundernd auf eine junge, zornige, aber dennoch sehr humanistische Seite der Türkei und nickte anerkennend.“

Deniz Yücel: Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei. Edition Nautilus, Hamburg 2014. 224 Seiten, 12,90 Euro.

Ebru Taşdemir und Canset Içpinar: Ein „türkischer“ Sommer in Berlin. Die Gezi-Bewegung und der Traum von Demokratie. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2014. 175 Seiten, 14,90 Euro.

Tayfun Guttstadt: Çapulcu. Die Gezi-Park-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei. Unrast-Verlag, Münster 2014. 325 Seiten, 18 Euro.

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