Da mich meine Arbeit als technischer Übersetzer in jüngster Zeit zu Tode langweilt, wie sich jeder intelligente Mensch leicht denken kann, lenkte ich mich vor einigen Tagen im Internet ab. So stieß ich auf eine überaus lebendige Jugendwebseite.
Alle anderen Webseiten, die ich bis dahin kannte, hielt ich für vollkommen widerwärtig. Die Webseite der Frankfurter Allgemeinen war widerwärtig kapitalistisch, die Webseite der Neuen Zürcher Zeitung, die ich in meiner Kindheit sehr schätzte, war zu dieser Zeit schon lange nicht mehr das, was sie in meiner Kindheitserinnerung immer noch ist. Die Webseite des Nachrichtenmagazins Spiegel wiederum enthielt mehr Werbung als Nachrichten und diese so genannten Nachrichten verdienten ihren Namen nicht. Die einzige Webseite, die mich also interessierte, war die Jugendwebseite, auf die ich gerade gestoßen war, und zwar auch nur aus einem einzigen Grund, nämlich eines Leseraufrufs, der dort kaum sichtbar platziert war.
Darin erklärte die Redaktion, sie suche Autoren für Prosabeiträge, die auf dieser mich so interessierenden Jugendwebseite nach der Einsendung veröffentlicht werden sollten, was mich natürlich reizte. Endlich bestand die Aussicht, bald einen Text im Internet zu finden, der voll und ganz meinen Ansichten entspricht, was natürlich nur ein von mir selbst verfasster Text jemals kann.
Sofort schrieb ich eine als Abenteuergeschichte getarnte Abhandlung über die Gewölbeformen romanischer Kirchen meiner Heimat, weil mir dieses Thema im Internet unterrepräsentiert erschien, und schickte die Abhandlung, sofort nachdem ich sie beendet hatte, an die Redaktion. Kaum hatte ich den Text an die Redaktion geschickt, lehnte sie ihn mit einer Email, die ich postwendend bekam, auch schon ab. Man habe bereits einen Autor gefunden, der besser geeignet sei, hieß es in der Email. Ich solle es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen, was ich auch tat. Wieder schrieb ich einen Beitrag für die Webseite, aber auch dieser Beitrag, den ich zu einem späteren Zeitpunkt an die Redaktion schickte, wurde abgelehnt. Diesmal lag die Ablehnung daran, dass der Text den Begriff Antisemitismus enthielt, was im hiesigen Raum, wie es schien, und im Besonderen auf dieser Webseite nicht vertretbar war. Das Erscheinen jeder an eine tatsächliche Person erinnernden fiktiven Person in einem solchen fiktiven Prosabeitrag, führe nämlich dazu, dass sich die tatsächliche Person, die sich in dieser fiktiven Person wiederzuerkennen glaubt, warum auch immer, aufs Äußerste schämen müsse, da sie schließlich auf diese Weise mit Antisemitismus in Verbindung gebracht werde und damit zwangsläufig Gefahr laufe, ihr dann verpfuschtes Leben alsbald von eigener Hand beenden zu wollen, lautete in ausführlicher Form sinngemäß die Begründung, welche mir die verantwortliche Redakteurin, sie hieß Nadja Schlueter, in der an mich gerichteten zweiten Ablehnungsemail mitteilte. Obwohl ich das Wort Antisemitismus in dem Prosatext nur mit Kartoffelgerichten in Verbindung gebracht habe und mit keiner Person, stopfte sie ihre Ablehnung in mich hinein.
Enttäuscht schrieb ich Nadja Schlueter eine wütende Antwort-Email und ich vergaß nicht, darin ihr weiches, also schwaches Herz zu erwähnen, das es wohl kaum zulassen werde, diesen meinen Prosabeitrag, der so viel Mühe und monatelange Recherche erfordert habe, erneut abzulehnen. Natürlich war kein Wort von dem, was ich Nadja Schlueter schrieb, wahr. Ich kannte sie bis dahin nicht und konnte also über ihr Herz nur Mutmaßungen anstellen. Den Prosabeitrag hatte ich in der Mittagspause verfasst, nachdem in der Zeitung von einem Traktorunfall zu lesen war, der sich in der Nachbarschaft ereignete, was dann auch im Wesentlichen den Inhalt meines Textes darstellte. Einzig das Wort Antisemitismus hatte ich aus einer Laune heraus noch zusätzlich hineingeschrieben, um die geforderte Zeichenanzahl zu erreichen. Der Text entbehrte dadurch letzten Endes jeglicher Logik und las sich auch unnötig kompliziert. Aber Vorgaben sind Vorgaben, dachte ich, selbst wenn sie von der Redaktion einer Jugendseite kommen. Gerade deshalb zeigte ich mich völlig intransigent, als die Redaktion den Text aufgrund dieses Wortes nicht veröffentlichen wollte.
Als ich am nächsten Tag die Jungendseite besuchte, um sie anschließend für immer aus meiner Lesezeichenliste zu entfernen, war der Beitrag so erschienen*, wie ich ihn geschickt hatte. Er enthielt auch das Wort Antisemitismus. Ich nehme an, es gab keinen anderen Text, der statt meines eigenen an der vorgesehenen Stelle hätte veröffentlicht werden können, und auch der späteste Zeitpunkt, zu dem noch Beiträge eingereicht werden konnten, war natürlich längst vorüber gewesen. Die Leser haben sich, wie aus einigen Kommentaren, die unter dem Text hinterlassen wurden, hervorgeht, sehr über das Wort Antisemitismus amüsiert und bis zur Stunde interessiert mich nichts mehr als die Frage, ob jemand Nadja Schlueter eine Beschwerde-Email geschickt hat, um sie zu fragen, wie man es wage, einen solchen Beitrag mit dem Wort Antisemitismus überhaupt zu veröffentlichen!
*Der betreffende Text findet sich hier: http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/586597/Die-jetztde-Kettengeschichte-Teil-3