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Kriegs-Viren

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Wenn in Kriegsgebieten die öffentliche Ordnung und die Infrastruktur zusammenbrechen, beschränkt sich die Gesundheitsversorgung meist auf die Verletzten, Verbrannten und Verschütteten – sofern dies überhaupt möglich ist. Vorsorge oder gar Impfkampagnen finden dann allenfalls notdürftig in den Behelfslagern von Hilfsorganisationen statt. Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Warnruf der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein politisches Warnsignal. Gleich in mehreren Ländern ruft die UN-Behörde den gesundheitlichen Notstand aus, weil sich von dort aus die Kinderlähmung wieder erschreckend stark verbreitet (Public Health Emergency of International Concern). Als „außerordentlich ernst“ und „Bedrohung für andere Staaten“ werten die Gesundheitsexperten die Vermehrung des Polio-Erregers.



Insbesondere Kinder müssen gegen den Polio-Erreger geimpft werden, wie es hier in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa geschieht. Doch auch Reisende können die Erreger über Grenzen tragen und stellen so eine große Bedrohung dar.

Ende April hatten sich Ärzte und Epidemiologen der WHO mit Kollegen aus Afrika und Asien beraten. Die Verbreitung von Polio hat dort offenbar so zugenommen, dass die WHO jetzt die Alarmglocke läutet. „Alle Experten waren sich einig, dass der Notruf gerechtfertigt ist“, sagt Marsha Vanderford von der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC. Besonders in Krisengebieten wie Syrien, Afghanistan und Nigeria hat sich das Virus zuletzt stark vermehrt und ist in andere Länder übertragen worden. Für Seuchenexperten ist dies ein Rückfall, denn bis 2012 verlief die Eindämmung der Kinderlähmung erfolgreich, sodass es als realistisches Ziel erschien, neben den Pocken eine weitere Infektionskrankheit weltweit auszurotten.

Die Seuchenmediziner sind besonders enttäuscht über den Rückschlag, weil sich die sogenannten wilden Polio-Stämme zuletzt wieder stark vermehrt hatten. Als wilde Stämme werden solche Viren bezeichnet, die sich über Jahrtausende im Verlauf der Evolution entwickelt haben, aber nicht plötzlich neue Wirte befallen oder durch unerwartete Mutationen deutlich gefährlicher geworden sind, wie es beispielsweise bei den Erregern der Vogel- oder der Schweinegrippe der Fall war. Die wilden Virenstämme sind gleichsam alte Bekannte und mithilfe der seit Jahrzehnten bewährten Impfstrategien gegen Polio gut zu bekämpfen.

In krisengebeutelten Regionen wie Syrien sind Impfkampagnen jedoch derzeit illusorisch. Bevor die Konflikte dort 2011 begannen, waren etwa 90 Prozent der Bevölkerung geimpft, jetzt leben dort viele nicht geimpfte Kinder, die für medizinische Helfer nicht erreichbar sind. Im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, wo Taliban die Berglandschaft kontrollieren, lassen sich Impfungen ebenfalls nicht umsetzen. Und in Nigeria hat die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Jahr 2013 neun Mitglieder eines Polio-Impfteams erschossen. Einige Politiker des Landes stellen die Impfkampagnen zudem als „gezielte Vergiftungspläne“ der USA dar und untergraben damit das Vertrauen der Bevölkerung in die Vakzination.

„Die Dinge entwickeln sich leider in die falsche Richtung“, sagt Gregory Härtl von der WHO. „Wir müssen schnell wieder auf die richtige Spur kommen, sonst drohen schreckliche Dinge.“ In den nächsten Monaten ist allerdings tendenziell keine Besserung zu erwarten. Die Monate von Januar bis April gelten als Zeiten geringer Viren-Übertragung. Doch hatten sich bereits in diesem Frühjahr die Viren über mehrere Landesgrenzen ausgebreitet, hauptsächlich übertragen durch Reisende. So gelang wilden Polio-Erregern der Transfer von Pakistan nach Afghanistan, von Syrien in den Irak und von Kamerun (wohin es aus Nigeria gekommen war) nach Äquatorialguinea. Wenn im Mai, Juni und Juli die Saison einsetzt, in der sich die Viren üblicherweise weitaus besser verbreiten, drohen weitere Infektionen.

Da häufig die Grenzregionen betroffen sind, reicht es nicht, wenn nur ein Land Impfkampagnen startet und die Präventionsbemühungen intensiviert. Von den besonders befallenen Ländern fordert die WHO daher massive Schritte und die Bereitschaft, die Bekämpfung der Kinderlähmung tatsächlich als vorrangige Aufgabe anzusehen. „Wir haben unsere Marschroute deutlich geändert“, sagt Bruce Aylward, der Leiter des Polio-Bekämpfungsprogramms der WHO. Statt mit dezenten Empfehlungen reagiert die Weltgesundheitsorganisation jetzt mit massiven Aufrufen, die Bedrohung endlich ernst zu nehmen und zu handeln. So sollen Reisende in und aus den betroffenen Ländern einen Impfnachweis vorlegen. Weiterhin sollten sich die Bewohner von Kamerun, Syrien und Pakistan, aus denen die Viren in andere Länder verbreitet wurden, impfen lassen, bevor sie ausreisen, und ein entsprechendes Zertifikat mit sich führen. Wer sich als Tourist länger als vier Wochen im Land aufhält, sollte zwingend geimpft werden.

In Afghanistan, Äquatorialguinea, Äthiopien, Irak, Israel, Somalia und besonders Nigeria wurden aktuell wilde Polio-Stämme nachgewiesen, auch wenn diese Länder die Erreger noch nicht „exportieren“. Ihnen empfiehlt die WHO verstärkte Impfkampagnen auch für Reisende, die länger im Land sind. Wichtig ist den Seuchenexperten zufolge auch, die verstärkten Impfbemühungen mindestens sechs Monate beizubehalten, nachdem der letzte Fall dokumentiert worden ist.

„Man kann sich die möglichen Folgen für den Rest der Welt ja gar nicht ausmalen“, heißt es in dem WHO-Statement. Führen Reisende Viren in fragile Länder ein, kann sich die Kinderlähmung dort schnell ausbreiten, und Gegenmaßnahmen sind dann schwer zu treffen.

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