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Willst du gefressen werden?

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Als Werner Herzog vor einigen Jahren mit einem Kamerateam in die Höhle von Chauvet hinabstieg, fand er dort an den Steinwänden eine Malerei vor, die sein Herz besonders erfreute. Unter den 30000 Jahre alten Bildern von Berglöwen und Pferden befindet sich eine einzige menschliche Darstellung – die einer Frau. Auf einem herunterragenden Felszapfen ist das unvollständige Bild eines weiblichen Körpers zu sehen. Um genauer zu sein, es ist die Scham einer Frau, ein Venus-Dreieck und andeutungsweise gespreizte Beine.
Der Laie sieht zunächst nur das Dreieck und hält Herzog möglicherweise für einen Schmutzfink. Tatsächlich finden sich ähnliche Fruchtbarkeitssymbole in so ziemlich jeder Höhlenmalerei des Jungpaläolithikums, also der jüngeren Altsteinzeit. Dreiecke und Ovale mit Schlitz gelten in der Archäologie nachgewiesenermaßen als weibliche Darstellungen. Direkt neben die weibliche Figur malte der Künstler noch das Bild eines Bisons. Es sieht aus, als legte es den Arm um sie. Der weibliche Akt und das haarige Biest: Die Frau und das Tier, eine urtypische Motivkombination der Menschheitsgeschichte.



Vincent Cassel als "Biest"

Eine Szene in Christophe Gans’ neuer Verfilmung von „Die Schöne und das Biest“ erinnert daran: Belle liegt alleine auf ihrem Bett, ein pompös dekoriertes Schlafgemach. Die blonde Schönheit im tiefdekolletierten Ballkleid kuschelt sich auf das von einem Fell bedeckte Bett. Sie hat sich vor dem Biest, dem scheußlichen Untier, in ihr Zimmer verzogen. Während sie nun auf dem Bett ruht, fummeln ihre Finger ausgiebig in der flauschigen Felldecke unter ihr herum. Streicheln und kraulen die hier leblose, aber weiche Tierhaut.
Auch Picasso schuf eine Reihe von Radierungen, in denen er das Minotaurus-Motiv variiert. Ein Stierkopf auf einem haarigen Männerkörper, manchmal auch nur ein bärtiger Mann mit Hörnern steigt in Picassos Bildern meist zu einer Nackten ins Bett. Die Erotik ist unübersehbar. Das ungestüme, wilde Tier als Symbol für den leidenschaftlichen Mann überwältigt die passive Schönheit – nimmt sie vielleicht sogar für sich ein. Das ist mehr als ein Bild, das ist eine Geschichte.

Die Schöne und das Biest zählt zu den sogenannten Volksmärchen, es existierte lange, bevor Menschen begonnen haben, Geschichten aufzuschreiben. Die heute verbreitete Version geht auf die französische Schriftstellerin Jeanne-Marie Leprince de Beaumont zurück und erschien erstmals 1756. Zu den Erkennungsmerkmalen gehören, neben Belle und der Bestie, ihr Vater, die Rose, der Spiegel und die Verwandlung. Gängige Märchenmotive, wie man sie auch aus Schneewittchen und Dornröschen kennt. Nach Cocteau und Disney versucht sich nun wieder ein Franzose an der filmischen Bearbeitung dieses Klassikers.

Christophe Gans beginnt seinen Film kindgerecht mit einem Märchenbuch. Ein reicher Kaufmann verliert mehrere Handelsschiffe durch ein Unwetter, sein Vermögen schwindet. Seine Kinder sind verzogen – nur die jüngste Tochter Belle übt sich in Bescheidenheit. Sie ist Vaters Liebling. Während die gierigen Schwestern, die von Gans herrlich komisch inszeniert sind, sich von einer Reise ihres Vaters Geschmeide, Kleider und Parfum wünschen, möchte Belle nur eine Rose. Der Anfang vom Ende. Der Vater pflückt die Rose von der Hecke eines verwunschenen Schlosses, nun droht ihm lebenslange Gefangenschaft. Die brave Belle aber fühlt sich schuldig und tritt die Haft an seiner Stelle an. Dem Biest gefällt das gut. Von nun an muss Belle jeden Abend mit ihm essen. Der Film deutet, wie die Vorlage, einen ödipalen Konflikt an. In einigen Szenen tauschen Vater und Tochter Zärtlichkeiten aus, einmal knurrt der Vater animalische Laute zu seiner Belle. Das Kind muss sich also vom Vater lösen und erwachsen werden. Eine klassische Coming-of-Age-Erzählung. Ein Mädchen wird zu Frau, mit Reißausnehmen, pubertären Launen, sexueller Spannung und Verliebtheit. Dem Biest sitzt Belle (Léa Seydoux) zu Beginn ihrer neuen Lebensgemeinschaft als störrische Göre gegenüber, selbstbewusst gibt sie Widerworte – eine moderne, selbstbestimmte Märchenfigur. ,„Ich mache die Regeln“, sagt das Biest. „Das werden wir sehen“, ist ihre Antwort.

Aber wo kommt sie her, die sexuelle Spannung dieser Frau-Tier-Urkonstellation? Flauschig und kuschelig kann erotisch sein, stark und wild auch. Der Mann als Biest birgt aber noch eine weitere, ganz eindeutig sexuelle Dimension: Das Biest als potenzieller Verschlinger. Gefressen werden, am einfachsten im Märchen vom Rotkäppchen abzulesen, ist eine Metapher für Sex. Erst der Wortwechsel. „Was hast du für große Augen? Was hast du für große Pfoten?“ Dann das Einverleiben. Das Vereinen zweier Körper durch die physische Übermacht des hungrigen Mannes.

Gemeint ist keine Vergewaltigung. Auch Rotkäppchen krabbelt freiwillig zu einem Wolf ins Bett, der seiner Großmutter kein bisschen ähnlich sieht. Will sie vielleicht gefressen werden? Nicht umsonst verwenden wir Ausdrücke wie „Vernaschen“ oder „zum Anbeißen“.

Die erste Begegnung zwischen dem Tier und dem Mädchen findet bei Tisch statt und ist sehr hübsch. Seine Stimme – es ist die von Vincent Cassel – raunt über ihre Schulter, während sie nur die feingedeckte, funkelnde Tafel im Blickfeld hat. Doch dann plötzlich ist seine Spiegelung im silbernen Geschirr zu sehen – sie schreit auf, erschrocken. Ein Kopf wie ein Löwe, ein wilderes Tier. Das Biest tobt, brüllt, springt und landet auf vier Pfoten. Das Biest ist, anders als Cocteaus sehr menschliche Bestie, ein reines Werk der Maskenbildner. Im Film ist der Löwenkopf digital animiert. Der dunkle Märchenwald aus sich bewegenden Bäumen und Ranken, ein zugefrorener See in sternenklarer Nacht, der opulente Thronsaal, die verwunschenen Beagle (mit hässlichen Riesenkulleraugen, ein echtes ästhetisches Problem) – alles ist Computeranimation, heller zwar als in Gans’ Erfolgsfilm „Der Pakt der Wölfe“ (2001), aber eine Legenden-Zauberwald-Stimmung kommt durchaus auf. Alles ist weniger dreckig oder bedrohlich, und trotzdem märchenhaft.

Die Schöne liegt am Ende, ganz in Rot gekleidet, im Schnee und sehnt sich nach ihrem tierischen Gefährten. Belle trägt den ganzen Film wechselnde Kleider mit Farbcodierung. Bei den Verwandlungen, dank ausführlichen Rückblenden ins frühere Leben des Schlossherren gibt es mehr als nur eine davon, denkt man an Ovid. Und überhaupt ist der ganze Film randvoll mit Symbolen und Metaphern, Mythen und Sagen.

Das ist manchmal kitschig, aber nicht störend. Wäre im letzten Akt auf die Standard-Actionsequenz verzichtet worden – als Märchenfreund hätte man komplett abtauchen können, in ein Liebesgewitter, in dem verliebt sein immer auch gefährlich ist. Letztlich siegt die besinnungslose Liebe, die keine oberflächlichen Kriterien kennt. Das ist schön und funktioniert immer. Nur eines ist schade: Von einem Beau und seiner weiblichen Bestie hat man leider bisher nie gehört. Diese Geschichte schmückt noch keine Höhlenwand.

La Belle et la Bête, Frankreich 2013 – Regie: Christophe Gans. Drehbuch: Gans, Sandra Vo Anh. Kamera: Christophe Beaucarne. Mit: Léa Seydoux, Vincent Cassel. Concorde, 112 Minuten.

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