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Der Mann mit der Uhr

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Das Stroboskoblicht flackert durch den Raum, die Bässe hämmern und vibrieren. Sie tanzt mit geschlossenen Augen, spürt jeden Beat, tanzt und lacht. Sie liebt diese Musik, sie macht sie frei, alles ist möglich, alles kann passieren. Wenn sie die Augen öffnet, sieht sie, dass die Männer sie anschauen. Sie ist bei weitem nicht die schönste Frau im Club, aber sie strahlt diese Energie aus, Lebensfreude, Sinnlichkeit. Es fühlt sich gut an, dass diese Kerle sie wollen, dass ihre Blicke sie streifen und an ihr hängen bleiben, es macht sie stolz. Noch hat sie sich keinen Kandidaten auserwählt, doch sie wird es tun, das tut sie meistens. Während sie sich bewegt, gleitet ihr Blick durch den dunklen Raum. Im Blitzlicht tastet sie ihre Gesichter ab.
Ein Mann stellt sich hinter sie, umfasst ihre Hüfte, will mit ihr tanzen. Sie dreht sich um und wehrt ihn ab, sie will keinen Hiphop-Paartanz, sie will frei sein, sich frei bewegen, sich frei fühlen. Dennoch sieht der Mann gut aus, sie lächelt, tanzt weiter. Gefunden!


Sie lässt sich durch die Menge treiben und stellt sich neben ihn an die Bar. Bestellt zwei Vodka und gibt ihm einen. Sie kommen ins Gespräch. Er macht ihr Komplimente. Sie sei cool, ganz anders als diese Cocktailmädchen, sie trinke Bier und Schnaps, spiele Schafkopf, sei klug und hübsch. Das kennt sie schon, dieses Gerede. Es bedeutet ihr nichts. Selbst wenn es wahr sein sollte, sie braucht diesen Anreiz nicht, um ihn zu küssen, sie weiß, was sie will und hält die Zügel straff in der Hand.
Zurück auf der Tanzfläche zieht sie ihn zu sich heran und küsst ihn im flackernden Discolicht. Er kann küssen, Gott sei Dank. Und sofort bekommt sie Lust auf mehr, kann nicht mehr aufhören, ist eingetaucht in die altbekannte Sucht.


Ein Schulterklopfen. Hi. Der Mann mit der Uhr. Er ist hier, steht da, neben ihr und dem Mann, den sie heute Nacht mit nach Hause nehmen wird. Der Mann mit der Uhr, der sie nie angerufen hat und dessen Souvenir schwer wie ein Pflasterstein in ihrer Handtasche liegt. Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich umgezogen bin. Ich war so im Stress. In diesem Moment ist es ihr egal, es perlt an ihr ab. Der Mann an ihrer Seite wirkt wie ein Schutzschild, er kann sie nicht verletzen, sie braucht ihn nicht. Hab ich meine Uhr bei dir liegen lassen? Natürlich hat er sie nur deshalb angesprochen, weil er die Uhr sucht. Er hatte zwei Wochen Zeit, sich nach ihr zu erkundigen, hätte sie anrufen können, klingeln, ihr einen Zettel in den Postkasten werfen, ihr morsen oder Brieftauben schicken. So will sie es nicht, er macht es sich zu leicht. Er hat sie verletzt und soll jetzt die Rechnung dafür tragen. Nein, nicht dass ich wüsste. Bevor sie darüber nachgedacht hat, hört sie diese dreiste Lüge aus ihrem Mund. Und: Du kannst dich ja mal melden. Dann wendet sie sich wieder dem Mann zu, der ihr heute Nacht das Herz brechen darf.


Als die Lichter angehen sind sie schon auf der Straße, laufen ihrem Schicksal entgegen. Sie will ihn um den Verstand bringen, entführt in in Hinterhöfe und Seitenstraßen, küsst ihn, berührt ihn. Er steigt voll darauf ein. Sie weiß, dass er sie will.
Danach liegen sie nackt nebeneinander und unterhalten sich, über Filme und Musik, über Männlichkeit und Schambehaarung, über Rauchen und Straftaten. Sie fühlt sich geborgen in der Situation, kennt sie, kann mit ihr umgehen, egal wie sie sich präsentiert. Sie spielt ihre Rolle perfekt: Selbstsicher, lustig, kumpelmäßig und sexy, unkompliziert. Es fällt ihr leicht, der Mann bedeutet ihr nichts, sie muss es nicht vortäuschen.


Es durchfährt sie wie ein Blitz. Sie öffnet die Augen und spürt, wie ihr Herz schneller schlägt. Der Mann mit der Uhr. Er ist wieder in ihren Gedanken, in ihrem Kopf, in ihrer Erinnerung. Er ist zurück und gibt der ganzen Situation einen neuen Anstrich, traurig und dreckig. Der Mann mit der Uhr, Projektionsfläche ihrer großen Bedürfnisse, ihrer sehnsüchtigen Wünsche, ihrer verzweifelten Suche nach dem Echten. Sinnbild ihrer Verletzlichkeit. Spiegel ihrer Naivität. Der Mann mit der Uhr, er ist zurück.  


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