Eines der wenigen Photos, das ich von meiner Großmutter mütterlicherseits besitze, stammt aus den achtziger Jahren, ich muss vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Im Vordergrund des Bildes ist mein jüngerer Bruder M. zu sehen, schräg dahinter A., die wohlgenährte Lebensgefährtin des Bruders meiner Großmutter. Hinter ihrer Schulter ragen der dürre Hals und der Kopf meiner Großmutter empor, sie lehnt an der grauen Hauswand, an der Treppe, die zu der geöffneten Haustür führt. Obwohl die Kleidung meines Bruders und von A. auf einen sonnigen Tag mit warmen Temperaturen schließen lässt, drückt das Gesicht meiner Großmutter Leiden aus. Die Winkel des leicht geöffneten Mundes sind leicht nach unten gezogen, der Blick ist ins Weite, zum Himmel oder vermutlich ins Leere gerichtet, zumindest scheint meine Großmutter nicht an dem Unmittelbaren, das ein paar Meter vor ihr geschieht, teilzuhaben. Die das gesamte Bild beherrschende Farbe ist grau, das Grau der Hauswände, das fast ins Schwarz abtauchende Grau, das die geöffnete Tür in das Innere des Hauses freigibt, das marmorierte Grau der Treppenstufen und das Grau der Haare meiner Großmutter. Davon heben sich lediglich der blau-rot gestreifte Pullover meines Bruders und A.s gelbe Bluse ab. Ihr langer, weißer Faltenrock unterstreicht eher noch das Grau und erweckt in mir die Assoziation an ein Leichentuch. Seit jeher und je älter ich werde, desto mehr erfüllt mich dieses Bild mit Unbehagen, und ich muss mich zwingen, es anzusehen. Das Krankhafte, das Pathologische, das dem Bild innewohnt, scheint das Leben zu zersetzen. Und das Gefühl dieses Krankhaften geht über das kindliche Gefühl hinaus, das ich hatte, als ich, soweit ich mich erinnere, ein einziges Mal dem Bruder G. meiner Großmutter begegnete, der auffallend nach Tabak roch, einen würgenden Husten besaß, schon damals ungepflegt auf mich wirkte und von dem ich nur weiß, dass er noch während meiner Kindheit an Lungenkrebs verstarb.
Das stärkste Bild, das ich von meiner Großmutter in Erinnerung habe, ist der Sessel, in dem sie, wie mich meiner Erinnerung glauben machen will, den größten Teil der Zeit, die wir zu Besuch waren, verbrachte. Der wuchtige, braune Sessel stand hinter der Tür, die die Küche mit dem Wohnzimmer verband. Wenn die Tür halb geöffnet war, war meine Großmutter halb durch die Tür verdeckt und ihre gelegentlichen Einwürfe in die Gespräche kamen wurden durch das Holz der Tür verschluckt. Neben dem Sessel stand die dunkelbraune Schrankwand, in deren Mitte sich eine herabklappbare Tür befand, hinter der die Wand einen Spiegel besaß, dessen Trugbild dem Wohnzimmer eine Weite verlieh, die es nicht besaß. Dies war die Schrankbar, in der die alkoholischen Getränke standen, von denen ich nie jemanden einen Schluck nehmen sah. In dem Teil des Schrankes, der direkt neben dem Sessel meiner Großmutter stand, befanden sich Süßigkeiten, von denen wir Kinder gelegentlich nehmen durften, nicht ohne einen gewissen Widerwillen, da wir wussten, dass man bei der Wahl auch Pech haben konnte und beispielsweise einen Schokoriegel erwischen konnte, dessen Schokolade weißlich angelaufen war. Der Höflichkeit halber musste er dann aber doch verzehrt werden. Auf der anderen Seite stand neben der Schrankwand der Schwarzweißfernseher, der stets nur am Abend angeschaltet wurde, wenn Nachrichten liefen und gelegentlich ein nachfolgender Film.
Der Fernseher war eines der wenigen elektronischen Geräte, die meine Großeltern besaßen: Es gab keinen Kühlschrank, dazu diente der vom Wohnzimmer zu erreichende Balkon, von dem wir Kinder beim Decken des Abendbrottischs die Butter und Wurst holten. Wo die verderblichen Dinge im Sommer aufbewahrt wurden, weiß ich nicht mehr, ich vermute in dem Keller, in den ich mich allerdings nie ohne meine Mutter hineintraute, da er mir fürchterliche Angst einflößte. Das dumpfe Licht, das man mit einem Drehschalter anmachen konnte, erhellte zunächst nur die hinabführende Treppe und wurde am Fuß der Treppe von der Dunkelheit verschluckt, in der sich neben den zahlreichen realen Spinnen auch der Stoff für kindliche Ängste jeder Art verbarg. Es gab kein Telefon, stattdessen musste man die steile Straße, an dessen oberen Ende das Haus meiner Großeltern als letztes vor der belgischen Kaserne lag, hinablaufen, noch ein- oder zweihundert Meter nach rechts, um zur Telefonzelle zu gelangen. Ich erinnere mich, dass ich als fünjähriger nach der Geburt meines Bruders einige Tage allein bei meinen Großeltern war (ob meine ältere Schwester wegen Schulpflicht oder weil sie weniger bei der Versorgung des Neugeborenen störte, nicht dabei war, weiß ich nicht) und den abendlichen Moment, wenn mein Großvater mit mir zur Telefonzelle ging und ich die Stimme meiner Mutter am Telefon hörte, herbeisehnte. Es gab auch keinen elektrischen Herd. Der Ofen wurde Tag und Nacht mit Holz und Kohlebriketts befeuert und die gusseisernen Platten besaßen immer eine gewisse Temperatur. Natürlich gab es auch kein Auto, in der Scheune, in der Berge von Briketts lagerten, stand zwar ein Motorrad, das ich nie in Aktion gesehen habe, aber wohl meinem Großvater gehörte. Neben dem Fernseher vermittelte insbesondere ein altes Transistorradio die Verbindung zur Außenwelt, welches zu jeder vollen Stunde mit durchdringender Lautstärke eingeschaltet wurde, um die Nachrichten zu hören. Während der vier Minuten, mussten wir mucksmäuschenstill sein, auch wenn der Wortlaut der Nachrichten sich im Laufe des Tages ständig wiederhole und es keine objektiven Neuigkeiten gab. Heute stimmen die konzentrierten Mienen meiner Großeltern während der Nachrichten mich traurig. Mein eigenes Aufatmen nach den Nachrichten, weil die Zeit der erzwungenen Stille vorüber war, deckt sich in meiner Erinnerung mit einem Aufatmen meiner Großeltern, dass die stets erwartete, das eigene Leben bedrohende Nachricht ausgeblieben war.