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Alles in den Cocktailshaker

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Das ist doch mal was. Ein Stück, in dem von der ersten bis zur letzten Minute alle besoffen sind, und das auch noch so heißt: „Betrunkene“. Wo andere Dramen erst Anlauf nehmen, um im Vollrausch ihren Höhepunkt zu erreichen – man denke etwa an Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, das berühmteste Vernichtungswetttrinken der Theaterliteratur –, da verspricht das neue Stück des Russen Iwan Wyrypajew Höchstpegel als Dauerzustand.




Mit Iwan Wyrypajews Theaterstück "Betrunkene" wird der Suff Teil der Hochkultur

Zwei Akte, acht Szenen mit insgesamt vierzehn Personen fährt er auf, alle eingeführt mit Worten wie „ist sehr betrunken“, „stockbetrunken“, „immer noch betrunken“ – in der Uraufführungsinszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus kann man diese Anweisungen an der Bühnenrückwand mitlesen.

Eine Frau hat ihrer Freundin den Freund ausgespannt, und jetzt begießen sie zu dritt, seltsam genug, die Vermählung. Beim einen Ehepaar ist ein anderes zu Besuch, und nach mehreren geleerten Flaschen ist es Zeit für ein paar wirklich erstaunliche Geständnisse. Ein Mann feiert mit drei Kumpels und einer Prostituierten die Junggesellennacht in der Küche des elterlichen Veggie-Restaurants.

Der Suff geriert Selbstüberschätzung, Selbstmitleid, Sinnfreies – und Sinnfragen. Existenziell lässt sie Regisseur Viktor Ryschakow in den Raum hallen. Das ist stark. Stück und Figuren enthebt er den Niederungen eines Torkel-Realismus, hinein in eine abstrakte, schwarz-weiße Kunst- und Ideenwelt. Hier spielt keiner „betrunken“ im klassischen Sinn. Verrenkungen sind stilisiert; mal lenken die Darsteller einander wie Marionetten. Mal fallen sie, mit Clownsnasen, in kindlichen Singsang. Es grenzt an absurdes Theater, wenn sie voll stocktrockener Situationskomik nur noch aneinander vorbei säuseln.

Doch dann landen sie bei den ganz großen Themen: Liebe! Lüge! Freiheit! Sie werden zu promillestarken Philosophen und pathosgetränkten Propheten: „Du sollst Gottes Geflüster in deinem Herzen hören“, posaunt einer, ein anderer schäumt: „Das ist die größte Lüge! Wenn man sein eigenes Herz belügt.“ Und ein dritter glaubt, Gottes Botschaft persönlich zu verkünden: „Schluss mit Wichsen, sagt Gott, es ist Zeit, mehr zu lieben als sich selbst.“

Trunken streben sie in die Höhe. Raus aus der „Scheißwelt“. Ihre Wege kreuzen sich. Es kommt zu spontanen Liebesschwüren, Trennungen und Hochzeiten im Laternenschein, und dann offenbart sich sogar Jesus Christus. Wer’s glaubt. Dabei klingen sie zunehmend nüchtern, besoffen jetzt von hehren Idealen.

Eine „spirituelle Séance“ sei Theater für ihn, schreibt Wyrypajew im Programmheft. Von Pantheismus bis Vegetarismus zieht er hier so manche Heilslehre moderner Lebenssinnsuchender, nein, nicht durch den Kakao, er schüttet sie in einen szenischen Cocktailshaker. Ob man davon gerührt, gar berührt, ist oder ob es einen eher schüttelt, ist mindestens Geschmacksache.

Denn die Vehemenz, mit der vor allem Gott das Wort geredet wird, kann man in unseren säkularisierten Breiten, wo man sich spätestens seit Beckett darauf geeinigt hat, dass Gott tot ist oder zumindest nicht mehr kommt, schwer für voll nehmen – nur für volltrunken. Aber die meinen das ernst. Der Banker wird zum Büßer, der Trauzeuge zum Hobby-Priester. Die Szenen sind vor allem Vorwand für Predigten – auch ans Publikum.

Wie Regisseur Ryschakow diese Selbstfindungs-„Seánce“ mit Geräuschcollagen, schwebenden Möbeln und Gothic-Chic als düster-entrücktes Gesellschaftsspiel dirigiert – das am Ende den Namen des Herrn sogar zur Vergewaltigung missbraucht –, das sollte aber auch jene beeindrucken, die sich nicht von feurigen Weltverbesserern entflammen lassen. In diesen Tagen andauernder Querelen am Düsseldorfer Schauspielhaus, in denen sich die Belegschaft öffentlich gegen eine „künstlerische Krise“ verwehrte, ist es schon Zeichen von Mut, eine solche russische Uraufführung im Großen Haus anzusetzen. Und das präzis aufspielende Ensemble muss sich damit nicht verstecken. Was also die Wirkung des alkoholseligen Abends auf den Elan der nächsten Monate angeht: Möge er nützen. Oder wie der Lateiner sagt: Prosit!

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