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Die Entfernung des Frühlings

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Man kann den Frühling erahnen. Die ersten Krokusse und Schneeglöckchen kämpfen ihren Weg durchs Erdreich, man trägt schon wieder Sonnenbrille, es gibt schon Ostereier im kleinen Supermarkt um die Ecke und die dicksten bunt gestreiften Wollsocken bleiben schon im Schrank.
Man kann den Frühling riechen, wenn es regnet, jedenfalls bilde ich mir das ein. Es gibt diesen einen Tag im Jahr an dem es regnet, man draußen steht und irgendetwas ist anders. Die Luft, der Regen, die Umwelt. Man duckt sich nicht mehr weg vor den Tropfen, sondern genießt sie, heißt sie für ein paar Sekunden, Minuten willkommen, weil man weiß: " Es ist vorbei. Endgültig."

Wir beiden stehen auf der Brücke, die ein Teil der Stadtteiches überquert. Du siehst nach oben, kneifst die Augen zusammen, obwohl dich die Gläser deiner Brille vor den Tropfen schützen müssten. Deine Haare sind wieder viel zu lang, sie locken sich ein wenig. Du hast dich rasiert, dein Hand muss dabei wieder gezittert haben, einige winzige Bluttropfen sind noch an deinem Hals erkennbar. In der rechten Hand hälst du deinen Kaffee, ich habe mir ein Astra gegönnt. Du hast mich schon wieder eingeladen. Die ersten Tropfen fallen. Du starrst weiter in den Himmel.

"Du siehst blöd aus."
" Ich mag dich auch, HQ."
"Nein, ehrlich. Stell dir mal vor, man sieht uns. Ein älterer Penner mit einem Kaffee in der Hand und eine komische Tussi, die um 15.30h schon ein Bier wegzischt. Und starre den Himmel an."

Er senkt den Kopf, rückt seine schwarze Hornbrille zurecht und lacht.
Ich rülpse.

"Du bist widerlich, HQ. So richtig widerlich."
"Mir egal."

Um dem Schauer zu entkommen, sitzen wir auf einer graffitiverschmierten Bank unter einer alten Weide. Wir reden nicht darüber. Nicht über die 2 Monate in denen wir nichts von einander gehört haben. In diesen 61 Tagen in denen wir keine Mail, keine SMS, keinen Anruf voneinander hatten. Natürlich habe ich oft an dich gedacht. Am Anfang noch mehr als in den letzten Wochen. Du warst immer da, manchmal dachte ich, dass ich dir unbedingt davon erzählen müsse und wollte schon zum Hörer greifen als mein Löwe namens Stolz sich wütend in mir wehrte. Du hast es nicht verdient. Du hast dein Leben. Mit ihr. Und du würdest sie nur mit mir betrügen, obwohl der größte physische Kontakt zwischen uns nur diese eine Umarmung war. Das war der letzte Satz, der mir von dir im Gedächtnis blieb.

Der Schauer dauert an, du erzählst mir, dass du am Donnerstag im Kino warst. Alleine. Du berichtest mir von einem Konzert in 2 Wochen, welches du besuchen wirst. Alleine. Heute gehst du ins Theater und nimmst die Ehefrau deines besten Freundes mit, obwohl sie sich nicht so für das Stück interessiert. Die Karten war ja schon gekauft. An dieser Stelle hätte ich brüllen sollen:“Warum erzählst du mir das? Du hast mir versprochen, dass wir dort hingehen. Wir BEIDE!" Ich hole tief Luft als du meinen Arm packst:

"Es tut mir leid HQ: Es ist sehr, sehr schade, dass es anders gelaufen ist. Ich vermisse dich."


„Alter“, sage ich in meiner besten „Der letzte Lude“-Imitation, „ich würde nicht mal auf dich pissen, wenn du brennst.“


 


Du lässt meinen rechten Oberarm los und wir sitzen kurz schweigend auf der Bank. Dein Handy klingelt, du nimmst es aus der rechten Jackentasche und drückst den Teilnehmer weg. Du hast jedem Teilnehmer einen Klingelton zugeordnet. Du hast nicht viele Personen in deiner Anrufliste. Wie erklärst du ihr eigentlich dein Wegdrücken?


 


Der Regen wird stärker und wir stehen auf und gehen schweigend den Weg zurück. Du machst schon wieder viel zu lange Schritte und ich keuche leicht, weil mir die Erkältung noch in den Knochen steckt. Graue, dunkle Wolken ziehen jetzt von der Bucht aus auf und der Wind hat sich verstärkt. Kurz an der Ecke bleiben wir noch stehen.


 


„Ich mische mich nicht mehr ein. Ich habe mir vor 2 Wochen den Munde fusselig geredet und sage nichts mehr dazu.“


„Ich weiß HQ. Ich weiß. Danke für den Kaffee und das Gespräch.“


 


Dann drehst du dich weg und gehst mit langen Schritten zu deinem Hauseingang. Es sieht ein bisschen aus als wolltest du fliehen.



Ein Tropfen klatscht genau auf meine Nase. Er ist kalt. Ich habe mich geirrt. Der Frühling ist noch sehr weit entfernt.





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