Die libanesische Skifahrerin Jackie Charmoun wird in ihrer Heimat wegen Nacktfotos kritisiert. Im Netz solidarisieren sich hunderte Menschen mit der 22-Jährigen – und ziehen sich vor der Kamera aus. Von Katharina Pfannkuch
Drei Jahre ist es her, dass die Skislalom-Läuferin Jackie Charmoun vor der Kamera ihres Kollegen Hubertus von Hohenlohe stand, der auch als Fotograf aktiv ist. Gemeinsam mit anderen Skiläuferinnen posierte die Libanesin Charmoun vor einer verschneiten Bergkulisse für einen Kalender. Der wenige Stoff an den Körpern der Athletinnen lässt viel erahnen, tatsächlich nackt ist Charmoun jedoch nicht auf den Bildern zu sehen. Am Rande des Foto-Shootings entstanden jedoch auch andere Fotos und Video-Aufnahmen, als eine Art Making-Of. Es sind Bilder, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren und auf denen all das zu sehen ist, was vor allem in einer konservativen Gesellschaft wie der libanesischen üblicherweise nicht gezeigt wird. Genau diese Bilder tauchten nun aber in libanesischen Medien auf und sorgten in Charmouns Heimat für einen handfesten Skandal. Kurz, bevor Charmoun bei den Olympischen Spielen in Sotschi im Slalom antrat, musste sie sich gegen heftige Kritik und persönliche Angriffe wehren. Gesellschaft und Politik im Zedernstaat diskutieren den Fall der schönen Skiläuferin, das libanesische Olympische Komitee und der Minister für Sport und Jugend Faisal Karameh kündigten sogar eine Untersuchung an.
Für einige Libanesen stellen die empörten Reaktionen auf die Bilder von Charmoun den wahren Skandal dar. Cynthia-Maria Aramouni ist eine von ihnen. „Die wahren Probleme dieses Landes werden ignoriert, aber aus den Bildern von Jackie Charmoun wird ein Skandal gemacht. Die Regierung befasst sich damit, anstatt sich um ernsthafte Probleme zu kümmern, wie etwa den Fall von Manal al-Assi“. Die Libanesin al-Assi ist eines der zahlreichen Opfer häuslicher Gewalt gegen Frauen im Libanon, im Februar hatte ihr Ehemann sie zu Tode geprügelt. Während häusliche Gewalt nur selten einen öffentlichen Aufschrei in der libanesischen Gesellschaft nach sich zieht, stürzten sich die Medien auf den Fall von Jackie Charmoun und deren freizügige Fotos. Aramouni reagierte kurzerhand und startete gemeinsam mit den Fotografen Tarek Moukaddem, Carl Halal und Mohamed Abdouni eine virtuelle Kampagne: Unter dem Hashtag #StripForJackie und auf der Facebook-Seite „I am not naked“ rufen sie ihre Landsleute und Unterstützer aus aller Welt auf, ein Zeichen gegen Doppelmoral zu setzen und gleichzeitig Solidarität mit Jackie Charmoun zu zeigen – und zwar nackt. Zumindest auf den ersten Blick.
"I Am Not Naked"/Facebook
„Es geht darum, die richtigen Prioritäten zu setzten und Zensur zu bekämpfen. Es geht um Freiheit“, erklären Aramouni und ihre Mitstreiter. Die Provokation ist beabsichtigt, die heftige Kritik trifft das Team keineswegs unerwartet. Denn mit ihrer Aktion brechen sie gleich mit mehreren Tabus: Freizügigkeit ist in der libanesischen Gesellschaft verpönt, gleichzeitig wird viel Wert auf den äußeren Schein und materielle Werte gelegt. Die Kleidung abzulegen ist da nur eine logische Konsequenz für die Initiatoren der Kampagne: „Meine Gedanken, meine Leistungen und meine Seele streife ich nicht ab“, heißt es in der Beschreibung der Facebook-Seite – Kleidung spielt da keine Rolle. Das sehen offenbar nicht nur Cynthia-Maria Aramouni und ihr Team so: Rund 100 Menschen ließen sich von Tarek Moukaddem fotografieren, tausende twitterten Selbstporträts. Alle sind versehen mit der Überschrift „I am not naked“ – und mit einem Hinweis darauf, was den oder die Posierende ausmacht: Von „Ich bin Fotograf“ über „Ich bin, was ich bin“ bis hin zu „Ich bin ein Freigeist“ ist fast alles vertreten. In weniger als zwei Wochen gewann die Facebook-Seite über 20.000 Fans.
Screenshot "I Am Not Naked"/Facebook
An Kritik mangelt es nicht, erzählen die Organisatoren um Aramouni: „Wir wissen, dass nicht jeder unsere Werte teilt. Wir wünschen uns nur, dass auch die, deren Meinung von unserer abweicht, uns respektieren. So, wie wir andere Meinungen respektieren“. Viel eher überrascht die Köpfe hinter „I am not naked“ das große Engagement ihrer Unterstützer. Denn Online-Kampagnen in sozialen Netzwerken sind im Libanon nichts Neues. Erst vor Kurzem luden tausende Nutzer Selbstporträts unter dem Motto „I am not a martyr“ (https://www.facebook.com/notamartyr) hoch, um gegen Gewalt im Libanon zu protestieren; die Kampagne „The Uprising of Women in the Arab World“ (https://www.facebook.com/intifadat.almar2a) mobilisiert schon seit drei Jahren tausende Unterstützer. Zu den Gründerinnen des virtuellen Frauen-Aufstandes gehören auch zwei Libanesinnen. Anders als bei diesen Initiativen beschränken sich die Unterstützer der #StripForJackie-Kampagne nicht auf das Hochladen von Selbstporträts: Rund hundert Menschen kamen in das Beiruter Fotostudio von Tarek Moukaddem, weltweit luden die Organisatoren zu Fotosessions. In New York wurde ebenso zur Kamera gegriffen wie in London, Paris und Sao Paolo (https://www.facebook.com/iamnotnaked/events). "Überall stellten Unterstützer ihre Wohnungen für die Aufnahmen zur Verfügung", erzählt das Team.
Kritische Stimmen bezweifeln, dass die Kampagne tatsächlich den Blick auf Probleme in der libanesischen Gesellschaft lenkt, die jenseits der Debatte darüber liegen, wie viel Freizügigkeit sich eine Spitzensportlerin erlauben darf. Von Exhibitionismus und Narzismus ist die Rede, und von dem Trend, bei jeder Online-Kampagne mitmachen zu wollen. Doch eines ist den Köpfen hinter "I am not naked" bereits gelungen: Sie haben eine Diskussion angestoßen, die sich nicht nur auf den virtuellen Raum beschränkt.
Während die Diskussionen über die Kampagne noch auf Hochtouren laufen, denken Cynthia-Maria Aramouni und ihr Team schon über neue Ideen für Online-Aktionen nach. In der Zwischenzeit trat Jackie Charmoun, an deren drei Jahre alten Fotos der Skandal entbrannte, in Sotschi zum Slalomrennen an. Am 21. Februar fand das Rennen statt, Charmoun belegte den 47. Platz.
"I Am Not Naked"/Facebook