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8 Jahre

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Ich war 15 Jahre alt und gerade zum ersten Mal richtig verliebt. Zusammen mit meinem damaligen Freund lebte ich meinen hippieesken Traum: Primus hören, Che Guevara vergöttern und anders sein. Wir waren ein tolles Paar und für eine so blutjunge Liebe waren wir eine endlose Zeit zusammen, ganze 18 Monaten währte das erste große Glück. Mit ihm habe ich viele Dinge das erste mal erlebt: Sex, den ersten Joint, anderen Drogen, das erste Konzert, ein Wochenende ohne Eltern in einer anderen Stadt.
Es war in unserem ersten – unserem letzten - gemeinsamen Sommer, L.s Schwester K. feierte ihren Geburtstag. Am Regen, eine warme Nacht, Musik, Lagerfeuer und viel Bier. Und plötzlich war da M., ein guter Freund von K., ein großgewachsener, gutaussehender junger Mann – ich war 15 und er war 21. Ich war ein Kind, er ein junger Erwachsener. Ich war in der 9ten Klasse, hatte regelmäßig Hausarrest, fühlte mich unverstanden von der Welt, meiner Mutter, meinen Geschwistern. Er studierte, war schon längst von zu Hause ausgezogen und hatte alles was ich gerade zum ersten Mal erlebte hatte schon oft und noch viel öfter erlebt. Eigentlich also eine Zufallsbegegnung, vielleicht ein bisschen Smalltalk. Unsere Welten konnten nicht weiter von einander entfernt sein. Doch irgendwie wurde es eine sehr lange Nacht, wir saßen Stunde um Stunde am Lagerfeuer und redeten und redeten und redeten noch viel mehr. Es ist den vergangenen acht Jahren geschuldet, dass ich kein Thema unserer Unterhaltung mehr benennen kann. Was ich jedoch sehr viel deutlicher und besser benennen kann, ist das Gefühl, das sich bis heute auftut wenn ich an ihn denke: Ein warmes, schönes und schüchternes Gefühl, das sich in meinem ganzen Körper ausbreitet und mich irgendwie friedlich macht. Es ist dieses ganz besondere Gefühl, wenn man einen Menschen kennenlernt bei dem es keiner Aufwärmphase bedarf, kein vorsichtiges Abtasten. Da saßen wir nun am Feuer und hatten für ein paar Stunden unsere kleine Welt.
Am Ende des Abend fand ich L. wieder, wir schliefen gemeinsam in einem Schlafsack am Ufer des Regens. Ich war in L. verliebt, er war der beste, tollste, hübscheste und absolut coolste Junge der Welt. Unser Leben ging nach diesem Abend unverändert weiter. Fast unverändert, denn hin und wieder haben sich meine Gedanken zu M. gestohlen, wurden jedoch gleich wieder von Vernunft und Unsicherheit eingefangen.
Ein paar Monate später, im Herbst, feierte ich meinen 16ten Geburtstag. Ich stand in L.s Küche und K. drückte mir eine selbst gebrannte CD von M. in die Hand. Einen wunderschönen Sampler mit ausgewählten Stücken, mit einem selbstgebastelten Booklet und einem kleinen Briefchen, in dem mir M. alles Liebe wünschte und zum Ausdruck brachte, dass es wunderbar gewesen war, eine „so große Kleine“ wie mich zu treffen.
Ich war gerührt, freudig und verwirrt. Ich war doch verliebt. In L. M. war doch viel zu alt und wir hatten uns nur einmal gesehen. Und obwohl sich meine Gedanken daraufhin vielleicht noch ein bisschen öfter davon gestohlen haben, ging L.s und mein Leben wiederum weiter.


Fünf Monate später trennte ich mich von L. M. hat dabei keine Rolle gespielt. Die erste große Liebe war einfach vorbei. Die CD von M. wanderte ins Regal, das Briefchen in die Erinnerungsbox.
Ich habe ihn nie wieder gesehen.


Vor ein paar Monaten bin ich 24 Jahre alt geworden, die Trennung von L. liegt sieben Jahre zurück. Die Begegnung mit M. acht Jahre, ich habe ab und an an ihn gedacht und dabei dieses warme Gefühl genossen, jedoch konnte ich ohne Bitterkeit oder Wehmut an ihn denken. Er war nichts weiter als eine schöne Episode meiner frühen Jugend. Bis vor einer Woche meine liebste Person mir einen Link zu seinem FB-Profil schickte (wir hatten schon vor Jahren festgestellt, dass wir ihn beide flüchtig kannten). Und da saß ich nun vor meinem Bildschirm und starrte ungläubig auf das Profilfoto. Das war er und neben dem warmen Gefühl verspürte ich Nervosität und Neugier. Hektisch kramte ich meine Erinnerungsbox hervor, wühlte mit fliegenden Fingern durch die unzähligen Briefe, Schnipsel, Karten und Tickets und nach einer, wie mir schien, endlosen Zeit für ein solch kleine Box, hielt ich ihn in der Hand. Den kleinen Beweis, dass diese surreale Begegnung existiert hat. Geschrieben von einem Menschen, der tief in mir drin eine Saite zum klingen gebracht hatte.
Ich erlaubte mir nicht zu zögern, fotografierte den Zettel ab und schickte ihm eine Nachricht mit dem Foto und der Frage ob er sich erinnern würde. Fünfzehn Minuten später die überraschte Antwort, er würde sich erinnern, es wäre schon so lange her „dass es schon gar nicht mehr wahr wäre“, er wäre auf dem Sprung, würde mir aber gerne später noch mehr schreiben.
Und plötzlich war er wieder in meinem Leben. Einfach so, nach acht Jahren. Nichts hatte sich geändert und alles hat sich geändert. Wir waren nun beide erwachsen. Seitdem schreiben wir, wir schreiben so wie wir damals miteinander gesprochen haben, lange Nachrichten, die es mich genauso freut zu schreiben wie sie zu erhalten. Schnell und noch viel schneller sprechen wir über uns, was uns ausmacht, gut oder schlecht, über die Liebe, die Sehnsucht danach und das Scheitern.
Wir werden uns treffen, in drei Wochen. Ich ertappe mich dabei, es kaum mehr abwarten zu können, ich schlafe mit dem Gedanken an unsere Geschichte ein, ich wache mit dem Gedanken an unsere Geschichte auf. Mein Kopfkino spult unaufhörlich sein Programm ab. Denn im Gegensatz zu früher ist nun alles möglich. Unsere Welten haben sich aufeinander zu bewegt. Ich weiß nicht, was es ist, was ich fühle. Ich weiß nicht was es ist, was er fühlt. Berauschen wir uns im Endeffekt doch zu sehr an der Vergangenheit? Wünschen wir uns vielleicht zu sehr wieder auf einer gemeinsamen Wellenlänge zu sein? Machen wir uns am Ende vielleicht etwas vor? Nähren wir uns von der Vergangenheit, von der Erinnerung in unseren Köpfen? Es ist eine Geschichte wie sie das Leben schreibt, nicht mehr und nicht weniger. Nur hat unsere Geschichte eine acht Jahre lange Pause gemacht. Acht Jahre, in denen ich von einem Teenager zu einer jungen Frau geworden bin. Acht Jahre, in denen M. die Zeiten seines Lebens erlebt habt, die bei mir erst angebrochen sind. Alles, was uns verbindet, ist ein einziger Abend vor acht Jahren. Wir kennen uns nicht, kannten uns nie. Doch wir spüren beide, dass wir einander berühren könnten. Wir sind neugierig auf den Menschen, der eigentlich nur in unserer Erinnerung existiert. Folgt nun die Einlösung eines verheißungsvollen Versprechens? Die Bestätigung unserer Vorstellungen? Oder der tiefe Fall der Realität?
Im Moment betrachte ich unser Wiederfinden als Geschenk, freue mich auf das, was ist und das, was kommen mag. Ich fühle dieses besondere Gefühl. Die Wärme, den Frieden, das Schüchterne. Ich nehme dieses Geschenk an - egal was war, was ist und was vielleicht bleibt.


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