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Der letzte Gedanke vor dem Einschlafen.

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Ich habe einen Schlauch im Gesicht mit je einer kleinen Abzweigung pro Nasenloch.

Durch diesen Schlauch fließt reiner Sauerstoff.

Vor einigen Monaten bekam ich die Diagnose das meine Lungen krank sind.
Unheilbar krank. 



Heute liege ich hier im Krankenhaus, die Ärztin war vorhin hier und hat mich nochmal
aufgeklärt. Neben meinem Bett steht ein Bildschirm auf dem viele Zahlen leuchten. Sie deutete auf eine Zahl und sagte, wenn diese Zahl unter 600 fällt wir es ernst. Ich müsse mich dann darauf einstellen bald müde zu werden.
Ich würde nicht nach Luft ringen müssen oder qualvoll ersticken sagte sie. Ich würde einfach einschlafen.

Meine Familie ist gekommen. Ich bin zweiundsiebzig und habe einiges an Familie hinbekommen.
Ich habe eine wundervolle Frau, die ich mein ganzen Leben lang geliebt habe und zwei Töchter. Eine ist verheiratet und hat mir einen Enkel geschenkt die andere lebt mit einer Frau zusammen, die eben so zur Familie gehört wie mein Schwiegersohn.

Alle sind da. Sie wissen alle was passieren wird.
Wir hatten Monate Zeit um uns auf diesem Moment vorzubereiten, zu verabschieden.

Heute werde ich einschlafen und dann nicht mehr aufwachen.

Ich werde einen Gedanken haben. Dieser Gedanke der einen, wie jeden Abend, in die Schlafwelt begleitet.
Der Gedanke den man eigentlich nur dann zu fassen bekommt, wenn man kurz vorm einschlafen nochmal geweckt wird.
Der Gedanke der manchmal abstrakt wird und den ersten Traum einleitet.
Ein Gedanke wird mich begleiten. Wie jedes mal beim Schlafengehen, aber diesmal für immer.

Wir unterhalten uns miteinander, wie immer. Über den Alltag, wir lachen immer viel, auch heute. Erzählen uns gegenseitig Anekdoten. Auch ich erzähle über den Krankenhausalltag.

Mein Enkel fragt mich Dinge aus meinem Leben. Aus Interesse.
Im Augenwinkel sehe ich den Bildschirm, 713 steht drauf.

Mein Schwiegersohn zaubert eine Flasche Krombacher aus seiner Tasche, es ist Nachmittag also eigentlich kein Problem. Trotzdem erscheint die Flasche im Krankenhaus deplatziert.

Ich zögere kurz, dann denke ich daran, dass ich bald nicht mehr da bin und freue mich über ein letztes Bier.
Er öffnet mir die Flasche und zieht noch einige Flaschen aus dem Rucksack, alle bekommen eins, nur meine Frau und die Freundin meiner Tochter möchte, wie immer, keins. Wir prosten uns zu und reden weiter.

Alle sitzen im Kreis um mein Bett herum, meine Frau direkt zu meiner linken. Sie greift zu meiner Hand, schaut mich an und bekommt plötzlich feuchte Augen. Ich schaue auf den Monitor 605.
Ich streiche ihr über den Kopf. In den letzten Monaten haben wir viel geredet, noch mehr als sonst. Nicht nur über das nötige Zeug was man regeln muss, sondern auch über unser Leben.
Wir haben nicht das Gefühl etwas verpasst zu haben und haben uns mit der Situatuion abgefunden.


Die Zahl fällt jetzt unter 600. Ich bitte meine Frau den Monitor auszuschalten.


Danach legt sie ihren Kopf auf meine Brust, direkt über mein Herz, sie schließt die Augen, ich streichel ihr über den Kopf.


Ich nehme mir den Schlauch aus dem Gesicht, lege ihn zur Seite.


Ein Augenblick kehrt Ruhe ein. Keine unangenehme Ruhe. Die Zeit der großen Worte war schon, bei mir und bei allen anderen. Ich bemerke jetzt tatsächlich das ich müde werde.


Ich sage: „Ich werde langsam etwas schläfrig.“ Nach und nach sehe ich feuchte Augen und ein paar Tränen kullern. Meine Frau sagt: „Dann ruh dich ein Bisschen aus.“ und gibt mir einen zärtlichen Kuss.


Ich spüre, dass sie weiß, dass es der letzte ist.


Meine Töchter folgen ihr,  jeder gibt mir einen Kuss,  mein Enkel zum Schluss.


Ich frage ob wir uns wiedersehen, wenn ich aufwache.


Sie sagen „Ja“.


Ich schaue allen in die Augen, zuletzt meiner Frau, sie drückt meine Hand.
Ich lehne meinen Kopf zurück, denke an eine der vielen Erinnerungen die ich an meine Familie habe.
Sie legt ihren Kopf auf mein Herz.


Ich sage „Danke“ in die Runde, „Ich denk an euch“ und schließe meine müden Augen.


 




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