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Geld zum Greifen nah

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Durch das Fenster steigt man auf ein großes Vordach, von da geht der Blick auf andere alte Lagerhäuser aus rotem Backstein. In den Fenstern brennt Licht, junge Männer und Frauen sitzen in T-Shirts oder Kapuzenjacken vor ihren Computer-Bildschirmen. Paul Joyce schaut sich noch mal um, atmet kräftig durch und klettert zurück in sein Büro. „Hier herrscht eine besondere Atmosphäre“, sagt der Gründer des Internet-Start-ups Geckoboard. „Hier gibt es viel Kreativität.“ Hier – das ist Shoreditch, ein Viertel direkt nördlich der City of London.



London steht für vieles - altmodische Telefonzellen und Taxen, historische Häuser und die älteste U-Bahn der Welt. Seit einigen Jahren gibt es eine weitere Facette: Immer mehr Start-Ups versuchen ihr Glück.

In der City sitzen auch junge Menschen länger am Rechner, doch ihre Büros haben sie nicht in mehr als 100 Jahre alten Warenlagern, sondern in schwindelerregend hohen Türmen aus Glas und Stahl – die City ist Zentrum von Europas Bankenbranche. Dafür ist London bekannt.

Nicht ganz so bekannt ist Shoreditch, einst ein heruntergekommenes, aber zentral gelegenes Lagerhausviertel im East End, nun seit einigen Jahren das Herz von Londons Internet-Gründerszene. Die ersten Firmen ließen sich in der Nähe eines ungewöhnlich hässlichen Kreisverkehrs nieder, bei der U-Bahn-Station Old Street. Gut angebunden, viele Kneipen, und das zu günstigen Mieten. Einer dieser Pioniere taufte den Kreisel 2008 in „Silicon Roundabout“ um – englische Selbstironie: Amerika hat ein ganzes Valley voller Start-ups, London einen Kreisel. Der Name hielt sich.

Zu der Gründerszene gehört auch Joyce; 2010 legte der Brite mit Geckoboard los, inzwischen beschäftigt er elf Angestellte in dem umgebauten Lagerhaus mit dem schicken Vordach. Geckoboard stellt alle möglichen eingespeisten Daten eines Unternehmens – etwa Wartezeiten im Call-Center, Kundenzahl, Vorratsbestände – übersichtlich auf einer Internet-Seite dar. Die erinnert an ein Armaturenbrett, dank ihr sehen Manager in Echtzeit, was im Betrieb los ist. Gut 2200 Firmen und Behörden nutzen den Dienst bereits.

Joyce hatte in Shoreditch zunächst überzählige Schreibtische im Büro eines anderen Start-ups gemietet, bevor er mit der Firma in das Lagerhaus umzog. „Jetzt haben wir selbst Platz über und suchen nach einem Gründer als Untermieter“, sagt der 37-Jährige. Die Chancen, einen zu finden, sind gut, denn die Internetwirtschaft in dem Viertel boomt. Im Jahr 2010 gab es etwa 200 Online-Firmen in dieser Ecke Londons, inzwischen sollen es mehr als 1300 sein. Dies weckt das Interesse der großen IT-Konzerne: Google, Amazon, Microsoft, Intel – sie alle haben inzwischen wichtige Niederlassungen in der Hauptstadt. Viele Londoner Start-ups wurden von etablierten Rivalen für Millionen geschluckt, allerdings brachte die Stadt bislang keine Internet-Firma hervor, die es an die Börse geschafft hätte. Ein Makel, aber das soll sich bald ändern (Artikel rechts).

London kann also mehr als Banken, und das freut auch die Regierung. Die Finanzkrise und die Rezession danach führten Premier David Cameron vor Augen, dass Großbritannien zu abhängig von der Geldbranche ist. Deswegen will die Regierung die Industrie und High-Tech-Sparten stärken. Als die Politiker merkten, dass sich rund um den Silicon Roundabout Internet-Gründer breitgemacht hatten, sprangen sie auf den Zug auf: Cameron und Londons Bürgermeister Boris Johnson erklärten die dortige Start-up-Szene im November 2010 zur Chefsache. Statt von einem schäbigen Silicon Roundabout träumt das Duo von einer wahren Tech City, einem Internet-Wirtschaftszentrum von Shoreditch bis tief hinein in den Osten der Stadt zum Olympiapark, wo Gründer demnächst leer stehende Gebäude beleben sollen.

Um den Gründern bei schnöden Alltagssorgen zu helfen, wurde im April 2011 die Tech City Investment Organisation ins Leben gerufen. Sie hat acht Mitarbeiter und gehört zur staatlichen Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft, Chefin ist die frühere Facebook-Managerin Joanna Shields. Die reist durch die Welt und preist die Vorzüge Londons für Investments in die Internetbranche an. Oder sie erklärt dem Premier, wie er die Geschäfte von Start-ups einfacher machen kann. „Wir sehen uns als Brücke zwischen der Gründerszene und der Regierung“, sagt eine Sprecherin von Tech City. Und zwischen Gründern und Telekom-Konzernen. Ein Dauerärgernis waren die langsamen Internetverbindungen in Shoreditch, auch Geckoboard-Chef Joyce klagt darüber, doch die Anbieter versprechen, schnelleres Surfen zu ermöglichen.

Die Regierung erließ zudem seit 2011 eine Reihe von Steuer- und Visa-Erleichterungen für Gründer und Investoren in Start-ups. Die zielen nicht nur auf Internetfirmen oder London ab, sondern gelten überall, aber sie seien Ergebnis davon gewesen, dass die Tech-City-Organisation der Politik die Nöte der Shoreditch-Szene geschildert habe, sagt die Sprecherin.

Trotzdem ist die Tech-City-Initiative nicht unumstritten. Manche Kritiker sehen in ihr vor allem einen Versuch der Regierung, den Gründerboom in Londons East End im Nachhinein als eigenen politischen Erfolg zu verkaufen. Auch Geckoboard-Eigner Joyce ist skeptisch: „Tech City macht für mein Geschäftsleben keinen Unterschied.“ Die Start-up-Szene sei von alleine gewachsen. Wenige Straßen weiter verteidigt Eze Vidra hingegen die Initiative. Die „massive politische Unterstützung“ – das Eintreten von Cameron für die Gründer oder das Werben im Ausland – hätten den Standort bekannter gemacht, sagt der Chef von Campus London.

Campus ist ein siebenstöckiger Bau, den der US-Internetkonzern Google zu einem Gründerzentrum für Shoreditch umbaute. Und er ist Beweis dafür, dass sich das Engagement von Regierungen lohnt, denn das Management beschloss das Projekt, nachdem eine britische Delegation dafür 2010 in Googles Zentrale geworben hatte. Zwei Jahre später eröffnete Schatzkanzler George Osborne Campus. Dort gibt es Etagen, in denen Start-up-Teams einzelne Schreibtische mieten können, bis ihre Firma genug Geld für eigene Büros abwirft. Angeboten werden auch mehrmonatige Programme, in denen Tüftler aus Ideen Geschäftspläne entwickeln. Neben Campus existieren inzwischen gut 50 weitere solcher Brutkästen oder Miet-Schreibtisch-Etagen in London. Im Campus-Keller ist der Nachbarschafts-Treff für Gründer – ein großes Café mit langen Tischen, junge Menschen sitzen hier vor ihrem Laptop und ihrem Flat White Cappuccino.

Flat White bezeichnet eine besondere Zubereitungsart, und diese ist unter den jungen hippen Kreativen Londons derart beliebt, dass Spötter die ganze Shoreditcher Internetwirtschaft schon als „Flat white economy“ betiteln. Mitten im Café sitzt Campus-Chef Vidra und schaut sich das muntere Treiben an. Er glaubt, dass die Szene in London weiter wächst. „Die Stadt zieht viele Talente an und viel Kapital“, sagt der Google-Manager. In Berlin lebten Gründer und IT-Fachkräfte aus aller Welt, für London gelte das aber noch viel mehr. Und der Weg vom Schreibtisch rüber zu Europas größtem Bankenviertel mit all seinem Kapital sei nah. Außerdem hätten in London zahlreiche Konzerne aus der Technologie-, Musik-, Mode- oder Unterhaltungsbranche Niederlassungen: „Das alles sind mögliche Kunden oder Partner eines Start-ups.“ Ein Problem seien allerdings die hohen Lebenshaltungskosten.

In Shoreditch waren zumindest die Mieten lange Zeit billig, Lagerhäuser standen leer. Deshalb zogen damals unbekannte Künstler wie Damien Hirst ein, später folgten Designer, Galerien und Bars. Und dann vor einigen Jahren die Internet-Gründer. Inzwischen sind die Mieten in dem Viertel kräftig gestiegen, es werden schicke Hochhäuser mit Luxus-Wohnungen gebaut.

Bislang kann sich Geckoboard-Chef Joyce auf seinem Vordach noch am Ausblick auf all die alten Lagerhäuser mit all den Start-ups erfreuen. Doch schaut er in die Ferne, sieht er Beunruhigendes: „Die Kräne kommen näher.“

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