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Schlechter als Plastik

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Die Stiftung Warentest warnt Eltern davor, Holzspielzeug für ungefährlich zu halten. 'Eltern von Kleinkindern befürchten oft, dass industriell hergestelltes Kunststoffspielzeug eher mit Schadstoffen belastet und unsicherer ist. Holzspielzeug hat da einen besseren Ruf', sagte der Vorstand der Stiftung, Hubertus Primus, am Donnerstag in Berlin. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall: In den Versuchen der Warentester zeigte jedes zweite getestete Holzspielzeug für Kleinkinder Mängel - der Spielzeugclown des deutschen Markenherstellers genauso wie das Feuerwehrauto aus China. Damit seien die Ergebnisse schlechter gewesen als bei vergleichbarem Spielzeug aus Plastik.



Viele Eltern gehen davon aus, dass Kunststoffspielzeug giftig ist. Nun werden auch Holzspielzeuge unter die Lupe genommen - mit nicht gerade guten Ergebnissen.

Die Warentester bewerteten 16 von 30 Holzspielzeugen mit den Noten ausreichend oder mangelhaft. Entweder lösten sich in den 65 Einzelprüfungen Kleinteile oder die Lacke enthielten krebserregende Stoffe. 'Die Prüfungen berücksichtigen, dass die Spielzeuge für Babys und Kleinkinder geeignet sein sollen, die Spielzeug häufiger in den Mund nehmen und durchaus auch kräftig daran reißen und ziehen können', sagte Untersuchungsleiter Holger Brackemann. Getestet wurden sowohl Rasseln und Greifautos für Babys, als auch Bauklötze, Puzzle und Holzfahrzeuge für Kinder bis zu drei Jahren.

Drei Produkte aus dem Test hätten nach Einschätzung der Stiftung Warentest gar nicht verkauft werden dürfen: Bei einem Motorikspiel 'Teich' der deutschen Firma Hess lösten sich Kleinteile, die so klein waren, dass Kinder daran ersticken könnten. Die Wagenkette 'Clown' von Hess hielt einem Belastungstest nicht stand. Zudem enthielt ein Schiebefrosch der Firma New Classic Toys zwei krebserzeugende Stoffe.

Die Ergebnisse zeigten, dass auch 'Made in Germany' keine Garantie biete, sagte Stiftungschef Primus. Auch das CE-Zeichen sei kein Qualitätsmerkmal, sondern lediglich eine Selbsteinschätzung des Herstellers. Mehr Sicherheit biete das GS-Zeichen, das eine Untersuchung von einem unabhängigen Labor erfordert. Von den per Zufallsprinzip anonym gekauften Spielzeugen hätten allerdings nur fünf das Zeichen getragen.

Die Warentester raten Eltern, Spielzeug aus unlackiertem Vollholz zu kaufen und Warnhinweise der Hersteller zu beachten. Außerdem sollte Spielzeug schon beim Kauf durch Wackeln, Ziehen und Reiben geprüft werden.

Bleiberecht am Hindukusch

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Nach monatelangem Ringen hat sich Afghanistans Präsident Hamid Karsai mit den USA auf einen Vertragstext geeinigt, der die Präsenz amerikanischer Truppen und später auch von Nato-Soldaten nach dem Jahr 2014 in Afghanistan regelt. Am Donnerstag begann in Kabul eine große Ratsversammlung von Ältesten, Mullahs und Würdenträgern mit der Diskussion über den Vertrag, über den innerhalb von drei Tagen abgestimmt werden soll. Wird der Text von der Versammlung und später auch vom afghanischen und amerikanischen Parlament angenommen, werden internationale Truppen mit vermutlich bis zu 12 000 Mann an acht afghanischen Standorten stationiert bleiben.



Hamid Karsal einigt sich mit den USA auf die Präsenz amerikanischer Truppen nach dem Jahr 2014.

Der Stationierungsvertrag ist das juristische Kernstück für die weitere politische und militärische Zusammenarbeit Afghanistans mit den ausländischen Einheiten. Ohne die rechtliche Sicherheit eines Vertrags würden die USA und auch alle anderen Nato-Nationen ihre Soldaten bis Ende 2014 abziehen. Im Irak beorderten die USA ihre Soldaten sofort zurück, als Stationierungsverhandlungen gescheitert waren. Um den Abzug nun nicht in Afghanistan einleiten zu müssen, sind Unterzeichnung und die parlamentarische Zustimmung möglichst bald notwendig. Karsai kündigte allerdings an, das der Text erst nach den Präsidentschaftswahlen im April unterzeichnet werden könne.

Das Abkommen zwischen Afghanistan und den USA wird als Vorbild für ein ähnliches Dokument dienen, das die Nato für die übrigen Nationen, darunter auch Deutschland, abschließen wird. Von den vermutlich 12 000 verbleibenden Soldaten werden die USA zwei Drittel stellen. Verteidigungsminister Thomas de Maizière hatte bereits angekündigt, 600 bis 800 Soldaten im Land belassen zu wollen.

Ziel einer längeren Stationierung ist laut Truppenvertrag vor allem die weitere Ausbildung und Unterstützung afghanischer Sicherheitskräfte. Die afghanische Regierung ist aber vor allem an der Finanzierung und Ausrüstung ihrer Sicherheitskräfte interessiert. Die westliche Hilfe addiert sich auf vier Milliarden Dollar monatlich und gilt damit als wichtiger Wirtschaftsfaktor. Ohne das Geld würde Kabul die eigenen Soldaten nicht bezahlen können und damit den Zerfall der staatlichen Strukturen beschleunigen. Die USA sind darüber hinaus daran interessiert, weiterhin mutmaßliche Terroristen in der afghanisch-pakistanischen Region von ihren Militärbasen aus angreifen zu können.

Der Stationierungsvertrag, von dem ein Entwurf veröffentlicht wurde, lässt für die Terrorbekämpfung allerdings nur wenig Raum. So sollten amerikanische Einheiten nur gemeinsam mit afghanischen Soldaten und unter deren Führung aktiv werden. Der afghanischen Seite ging es in den Verhandlungen vor allem um die Unverletzlichkeit von Wohnungen. In der Vergangenheit waren US-Einheiten immer wieder in Kommandoaktionen in afghanische Häuser eingedrungen. Nun heißt es, dass die amerikanischen Antiterror-Einsätze nur unter Respektierung der afghanischen Souveränität und in voller Achtung der Sicherheit der Afghanen und ihrer Häuser stattfinden dürften.

Die USA waren hingegen nicht bereit, die Forderung Karsais nach einer schriftlichen Entschuldigung von US-Präsident Barack Obama für militärische Fehler und zivile Tote während der letzten zwölf Jahre zu erfüllen. Möglich wäre aber eine andere Form der Kommunikation zwischen Obama und Karsai. Denkbar wäre, dass der US-Präsident sein Bedauern mündlich ausdrückt. Obama wird eine schriftliche Festlegung scheuen, weil sich daraus größere Haftungsansprüche ableiten ließen. Außerdem geriete er innenpolitisch unter Druck, wenn er Fehler einräumte.

Das Abkommen nennt kein Enddatum für die Stationierung ausländischer Truppen, sondern läuft bis zum Jahr 2014 'und darüber hinaus'. Allerdings ist es binnen zwei Jahren von beiden Seiten aufkündbar. Klar war bereits vor der Vereinbarung, dass weder die USA noch die übrigen Nato-Staaten Kampfeinheiten in Afghanistan belassen wollen. Die ausländischen Soldaten sind auch gezwungen, sich vor allem in ihren Stützpunkten aufzuhalten, wo sie sich auf Ausbildung und Training konzentrieren. Einsätze im Land sind demnach nicht erlaubt.

Unerlässlicher Vertragsbestandteil aller ausländischen Truppensteller ist die Klausel, die sicherstellt, dass die Soldaten nicht einer afghanischen Gerichtsbarkeit unterstellt sind. Eine anderslautende Forderung der afghanischen Regierung war das größte Hindernis auf dem Weg zu einem Vertragsabschluss. Allerdings scheinen zivile Vertragsunternehmer, etwa so genannte 'contractors' der US-Streitkräfte, keine Immunität zu genießen.

Weiche Ziele

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Die Zeitung Al-Akhbar schreibt: "Die Terrorteufel töten elf unserer tapferen Soldaten". Der Staatschef will den "schwarzen Terror" mit der Wurzel ausrotten, der Verteidigungsminister befiehlt seinen Generalen, "den Terroristen die Arme abzuschlagen". Ägypten gerät immer tiefer in den Sog des Terrors. Vor zwei Tagen hatten Selbstmordattentäter einen Bus mit Wehrpflichtigen auf dem Nordsinai angegriffen. Elf Soldaten starben in der Küstenstadt El-Arisch, 37 wurden verletzt. Am selben Tag wurde eine Bombe auf eine Kairoer Polizeistation geworfen, drei Personen wurden verletzt. Anfang der Woche war in der Hauptstadt bereits ein wichtiger Polizeioffizier auf offener Straße erschossen worden. Die Gewaltwelle trifft das Land, während die Wirtschaftslage miserabel bleibt, weil der für das Land überlebenswichtige Tourismus sich nicht erholt. Die deutsche Botschaft mahnt weiter zur Vorsicht bei Ägyptenreisen.



Ägypten wird von einer Gewaltwelle getroffen. Die Sicherheitslage hat sich verschlechtert.

Der von der Armee nach dem Sturz Mursis ausgerufene "Krieg gegen den Terror" findet nun wirklich statt. Es lässt sich kaum sagen, ob die Mehrheit der Islamisten von Anfang auf Gewalt setzen wollten, wie es die Regierung behauptet, oder es sich um die Selbsterfüllung der Prophezeiung vom Anti-Terrorkrieg handelt. Für das Touristengeschäft ist das Gift. "Bei Reisen nach Ägypten einschließlich der Touristengebiete am Roten Meer wird generell zur Vorsicht geraten", schreibt die deutsche Botschaft. "Reisende sollten die Küstenorte am Roten Meer keinesfalls verlassen."

Die sehr deutliche Reisewarnung vom Sommer ist nach dem Ende der Straßenkrawalle vor einigen Wochen sogar abgeschwächt worden. Berlin kennt die Empfindlichkeiten Kairos in Sachen Tourismus. Dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hat, lässt sich aber nicht bestreiten. Statt Gewalt bei Großdemonstrationen sind es nun gezielte Terrorakte. Vorerst gelten sie den Angehörigen des Sicherheitsapparates, doch die Touristenzentren sind weiche Ziele. Während der Terrorwelle der Neunzigerjahre waren Feriengäste angegriffen worden, 2005 und 2006 gab es Anschläge gegen Hotels auf dem Sinai.

Vor wenigen Tagen war der Polizeihauptmann Mohamed Mabruk in Kairo erschossen worden. Mabruk galt als einer der Hauptbelastungszeugen im Prozess gegen den im Juli gestürzten Islamisten-Präsidenten Mohammed Mursi. Der Offizier des Inlandsgeheimdienstes soll Telefonate mitgeschnitten haben, die Mursi in seiner Amtszeit angeblich mit Führern der Terrororganisation al-Qaida geführt hatte. Die Mitschnitte gelten als Beweis, den Muslimbrüdern und Mursi nachzuweisen, dass sie den Terror unterstützt und den Aufbau einer "Islamischen Armee" aus Militanten auf dem Sinai betrieben haben.

"Das Attentat auf Hauptmann Mabruk war eine Botschaft an alle, die mit dem Mursi-Prozess befasst sind", sagte der Polizeiexperte Emad Aboul-Futuh der Süddeutschen Zeitung. "Die Islamisten wollen ein umfassendes Klima der Angst schaffen", so der frühere Polizeigeneral.

Vor allem auf dem Nordsinai, auf dem die Armee seit Monaten Krieg gegen Tausende militante Islamisten führt, kommt es fast täglich zu Angriffen auf Polizei und Armee; im August waren 24 Polizisten in einem Bus gefangen genommen und exekutiert worden. Gleichzeitig verschärft sich die Lage in der Hauptstadt. Vor wenigen Wochen überlebte Innenminister Muhamed Ibrahim einen Bombenanschlag; obwohl der Minister eine der am besten geschützten Personen im Land ist, konnten Selbstmordbomber seinen Konvoi angreifen. Zudem werden Polizisten an Kontrollpunkten aus Autos heraus beschossen oder Sprengsätze gegen Polizeistationen geschleudert.

Der Einsatz von Selbstmordattentätern ist neu in Ägypten. Er zeigt, welches Ausmaß die Radikalisierung bei Teilen der Islamisten erreicht hat. Alle Versuche einer politischen Versöhnung zwischen Staat und Islamisten sind bisher gescheitert. Die Regierung versucht die Muslimbruderschaft und andere Islamisten-Organisationen zu zerschlagen; dem Ex-Präsidenten und einem guten Dutzend weiterer Fundamentalisten wird der Prozess gemacht. Ihnen droht die Todesstrafe. Zudem hält eine Verhaftungswelle an. Ein Teil der Anhänger der Islamisten wird so in den Untergrund gedrängt. Gleichzeitig will die Regierung im Dezember eine neue Verfassung zum Referendum vorlegen, im Frühjahr und Sommer sollen Parlament und Präsident gewählt werden.

Wüstenmärchen

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Der syrische Aufstand war im ersten Jahr und noch kein Bürgerkrieg, als Amina Arraf zu bloggen begann. Es war der Februar 2011, Amina Arraf lebte in Damaskus. Eine Lesbe. Die bloggt. Schonungslos, eindringlich, witzig: Über ihr Sexleben, den Freiheitskampf der Opposition, den Koran, syrische Geschichte. "Grenzen bedeuten nichts, wenn Du Flügel hast", schrieb sie. Solche Sachen. Im Mai bat sie die Lesben-Aktivistin Minal Hajratwala, die für ihr Buch "Leaving India" einen Preis für "bisexuelle Literatur" bekommen hatte, auch das englischsprachige Werk von ihr, der in Amerika geborenen Syrerin, einem Verleger vorzustellen. Die Anhängerschaft für Aminas Blog wuchs, auch das Medieninteresse. Washington Post und CNN, Bild und taz berichteten.



Alles nur gelogen. Die lesbische Bloggerin aus Damaskus ist frei erfunden.

Im Juni 2011 wurde sie verhaftet. Der britische Guardian berichtet, als sei er selbst zugegen gewesen, Amina sei auf einer Straße in Damaskus von Bewaffneten in ein Auto gezerrt worden. Und er druckte ein Foto der jungen Frau. Menschenrechtsorganisationen forderten per Facebook "Freiheit für Amina Arraf". Das US-Außenministerium leitete eine Untersuchung ein, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, protestierte. Aber da war Aminas Schicksal bereits besiegelt.

Denn nicht nur danach, sondern auch davor hatte niemand Amina Arraf je gesehen. Die lesbische Bloggerin aus Damaskus, so stellte sich heraus, war ein Geschöpf von Tom MacMaster, einem 40 Jahre alten Amerikaner, der in Schottland lebte. Er war über Jahre im Internet als Amina Arraf aufgetreten. Das Bild der jungen Frau im Guardian war eine Kroatin aus London, deren Foto MacMaster einer Facebook-Seite entnommen hatte. Sie hatte sich gemeldet: Sie sei keine lesbische Bloggerin. MacMaster schwor, er habe sich dem Nahen Osten stets verbunden gefühlt, die Erfindung Aminas sei der Versuch gewesen, die Aufmerksamkeit der Welt auf das syrische Freiheitsringen zu lenken. Blogger, syrische Oppositionelle, Schwule und Lesben waren empört: Wer würde dem nächsten Blog noch glauben? Auch einige Medien gingen in sich, analysierten die Leichtigkeit, mit der sie sich hatten betrügen lassen.

"Aminagate" war, so die Erkenntnis, eine Verbindung vermeintlich unwiderstehlicher Zutaten. Etwa der unterdrückte Blogger. "Westliche Journalisten lieben es, über Blogger in autoritären Staaten zu berichten, die unermüdlich über die Probleme ihrer Regierung berichten", schrieb der weißrussische Publizist und Internet-Skeptiker Evgeny Morozov: Der Blog gelte als mächtiges Werkzeug gegen ruchlose Regime, dabei sei beispielsweise im Nahen Osten die Mehrzahl der Blogger regierungsnah und oft weit radikaler in Frauen- oder Minderheitenrechtsfragen als ihre Regierungen. Die vermeintlich demokratische Natur der Online-Kommunikation - ein Fake. Dazu kam der fast unerreichbare Schauplatz im aufgewühlten Syrien, die Zugänglichkeit der Texte - Amina schrieb auf englisch -, und die Wertegemeinschaft. Eine bloggende syrische Lesbe - das war der denkbar einsamste Außenseiter, eine Pionierin des westlichen Pluralismus in einer islamischen Gesellschaft.

Der Nahe Osten ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien, Propaganda und moderne Märchen. Für Journalisten ist es unmöglich, jede gezielte Desinformation zu durchschauen, jede Behauptung zu prüfen. Selbst Videos sind kein Beweis. Im Sommer verbreiteten die ägyptischen Islamisten Videos von getöteten Kindern, nachdem es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften gekommen war. Das Video stammte aus Syrien.

Umgekehrt wirken manche Berichte zu gut, um wahr zu sein - und sind es doch. Im Frühjahr 2012 beispielsweise las die fassungslose Öffentlichkeit die E-Mail-Korrespondenz zwischen dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und seiner Frau Asma. Assad, der sich "Sam" nannte, schickte seiner Frau Countrysongs. Diese wiederum erwies sich als qualitätsbewusste Einkäuferin im Internet, gab ein Vermögen aus für Möbel, Schmuck, Louboutin-Stilettos oder ein Schokoladen-Fondue. Das Präsidentenpaar in Totalverleugnung des Aufruhrs, bedröhnt durch Trallala und Glitzerkram, das klang wie eine Fantasie der Aufständischen. Aber es stimmte.

Ähnlich wüst klangen die Anschuldigungen gegen den libyschen Diktator Gaddafi - und stimmten nicht. Während des Krieges, hieß es, verübten seine Viagra-konsumierenden Soldaten Massenvergewaltigungen. Jedenfalls verbreitete sich die Nachricht von Al-Jazeera über westliche Medien bis zum Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Luis Moreno-Ocampo, der insistierte, "Viagra ist ein Mittel für zahlreiche Vergewaltigungen". Allerdings rückte Scherif Bassiuni, UN-Ermittler in Menschenrechtsfragen, das Ganze im Juni 2011 zurecht: Die Viagra-Geschichte sei Teil einer "Massenhysterie". Er verwies auf eine Aktivistin, die angegeben hatte, sie habe 70000 Fragebögen verschickt und 60000 Antworten bekommen, in denen von 259 sexuellen Missbrauchsfällen die Rede war. Wie die Post dies in einem Land im Kriegszustand fertiggebracht hatte, blieb offen. Bassiuni forderte die Fragebögen an - und erhielt sie nie.

Sex, Islam und Krieg, das bleibt ein fast sicherer Köder für die Medien. Zuletzt nutzte dies der tunesische Innenminister Lotfi bin Dschido, als er im September eine haarsträubende Kunde tat: Junge Frauen aus Tunesien reisen in Scharen nach Syrien, um den unterversorgten Dschihadisten dort zu Willen zu sein, in einem "sexuellen Dschihad". "Tunesische Mädchen werden zwischen 20, 30 und 100 Rebellen getauscht und kommen zurück mit der Frucht dieser sexuellen Kontakte im Namen des sexuellen Dschihad", sagte er. Die Geschichte verbreitete sich lawinenartig, Time, Huffington Post, AFP, auch die Bild ergingen sich in haarsträubenden Berichten. Nur: Es gibt für die massenhaften Sex-Dschihad nur sehr, sehr wenige Beweise. Das syrische Staatsfernsehen führte die 16-jährige Rawan Kadah vor, die von Orgien mit den Radikalen berichtete. In Wahrheit war sie verschleppt worden, weil ihr Vater, ein Oppositioneller, nicht greifbar war. Reporter brachen nach Tunesien auf, um die Opfer des Sex-Dschihad zu suchen und fanden keine. Plötzlich spielten andere Überlegungen eine Rolle, strategische, politische: Tunesien schlägt sich ebenfalls mit den Hardcore-Islamisten herum, die sich gern mal als rein und tugendhaft geben. Dass ausgerechnet aus ihren Reihen fromme Jungfrauen in Scharen zu Orgien geschickt wurden, wäre ein herber Schlag für ihre Glaubwürdigkeit gewesen.

In jedem Fall hatte die Kombination von Islam, Sex und Krieg erneut gewirkt.

Schauplatz Berlin

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Immer wieder tauchen Einfälle auf, die so absurd wirken, dass man sie nicht ernst nehmen will, sie leichtfertig dem Grundrauschen aus Anmaßung und Aberwitz zurechnet, ohne den keine Großstadt gedeiht. Der Vorschlag, den östlichen Teil des Tiergartens einzuzäunen, war einmal ein solcher Einfall. Inzwischen hat er Fürsprecher in der Polizei und der Feuerwehr gefunden, der Bezirk Mitte hat Planungsunterlagen eingereicht. 2,40 Meter hoch soll der Sicherheitszaun werden, möglicherweise 3,5 Millionen Euro kosten. Die Absperrungsmaßnahme wäre Teil eines umfassenden Ausbaus der Straße des 17. Juni, die vom Brandenburger Tor zur Siegessäule führt. Damit auf dieser 'Festmeile' alles geordnet zugeht, muss investiert werden. Noch zögert der Senat. Der DFB drängele, heißt es. Wer wäre stark genug, solchem Druck standzuhalten?



Wie lange man so ein Idyll im Berliner Tiergarten noch beobachten kann ist fraglich.

Die Berliner Zeitungen überraschen immer wieder mal mit neuen technischen Details. Jetzt werden die Kosten für einen versenkbaren Zaun ermittelt. Auf diese Weise verwandeln sich absurde Einfälle in ärgerliche Tatsachen.

Festmeile? Muss jedes WM-Spiel mit Schadows Quadriga im Rücken angeschaut werden? Muss die Straße zu jedem Jahreswechsel abgesperrt werden? Will man das? Wäre public viewing nicht besser im Olympiastadion aufgehoben, die Silvesterfeier entspannter, heiterer auf dem Tempelhofer Feld? Die Stadtöffentlichkeit stürzt sich auf Kostenvoranschläge und Expertenvoten. Berlin ist nicht mehr arm (und nicht mehr sexy), aber die Gewohnheit, sich am Beifall derer zu berauschen, die sich einmal richtig gehen lassen wollen, blieb.

Im Tiergarten ist viel von dem entstanden, was Berlin auszeichnete. Da Friedrich der Große das Jagen verabscheute, konnten die Berliner herumspazieren, Affären anknüpfen, zeigen, schauen, protzen, motzen - ohne Zaun und in heiterer Urbanität. Der Aufklärer Friedrich Nicolai hat in seinen besseren Stunden als erster eine Berliner Bürgergesellschaft imaginiert, selbstverständlich im Tiergarten, wo an einem Sonntag Spaziergänger aller Stände sich vergnügten. Im Grunde ist das bis heute so, einer joggt, einer sonnt sich, Familien grillen, der Rest schlendert herum und sucht was oder auch nichts, Fahrräder rollen.

Na klar, eine Großstadt braucht Platz für Allotria. Doch gibt es davon in Berlin wohl genug. Warum einen wunderbaren Freiraum umbauen und zurüsten? Weil es ja schon regelmäßig gemacht wird, aber mit teuren, unsicheren Bauzäunen. Als Nicolai seinen Romanhelden Sebaldus Nothanker im Tiergarten so viele vergnügte Leute erblicken ließ, runzelte Nothankers Begleiter die Stirn. Die Menschen gehörten doch in die Kirche, meinte der Pietist. Heute winken die Sauertöpfischen mit Bundesgeldern, Umsatzzahlen, Fernsehbildern, Massenbelustigungen. Der Zaun soll her, das Feiergewerbe muss geordnet werden.

Straßekehren für Bier

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Die meiste Zeit des Tages sind sie betrunken. Schlafen auf Parkbänken, beleidigen Spaziergänger, prügeln sich. Nun geht die Stadt Amsterdam gemeinsam mit der Regenbogen-Stiftung gegen die Alkoholiker im Oosterpark vor. Mit Bier.

Es ist ein Deal, der international für Aufsehen sorgt: Wer sechs Stunden lang Straßen kehrt, bekommt fünf Bierdosen, ein halbes Päckchen Tabak und zehn Euro. Mit diesem Angebot wirbt die staatlich finanzierte Stiftung seit einem Jahr gezielt Suchtkranke als Straßenkehrer an. Jahrelang hatte eine Gruppe von knapp 40 Alkoholabhängigen im Oosterpark im Osten der Stadt randaliert, die Polizei war hilflos, die Stadtverwaltung ebenso. Zu Sozialarbeit ließen sich die Männer nicht motivieren. "Bis wir ihnen als Gegenleistung Alkohol angeboten haben", sagt eine Sprecherin der Initiative. "So beschäftigen wir sie. Wir vermitteln ihnen aber auch mehr Selbstachtung."



"Würden wir hier kein Bier bekommen, Würden wir nicht mehr herkommen". Wie die Stadt Amsterdam ihre Probleme mit Bier für Alkoholikern löst.

Für das Projekt der Regenbogen-Stiftung haben sich 19 Männer freiwillig gemeldet. An drei Tagen in der Woche fegen sie die Bürgersteine, sammeln Müll auf und säubern die Parkanlagen, stets von 9.30 bis 15.30 Uhr. Morgens werden ihnen die ersten beiden Dosen Bier gereicht, und, wenn sie wollen, eine Tasse Kaffee. In der Mittagspause dürfen sie die nächsten beiden Dosen trinken, die letzte nach Feierabend. Begleitet werden sie von einem Sozialarbeiter. Für jeden Teilnehmer gibt die Stiftung täglich 19 Euro aus.

Dass das Bier der wesentliche Anreiz ist, um Straßen zu kehren, verheimlichen die Teilnehmer nicht. "Wir brauchen Alkohol, um zu funktionieren", sagte einer von ihnen der AFP. "Das ist der Nachteil am Alkoholismus." Er lobte, dass das Projekt seinen Alltag strukturiere, gestand aber auch: "Ich denke, da kann ich im Namen der ganzen Gruppe sprechen: Würden wir hier kein Bier bekommen, würden wir nicht mehr herkommen."

In Amsterdam, einer der liberalsten europäischen Städte, geht die Politik mit entspanntem Pragmatismus auf Süchtige zu. "Wir akzeptieren Drogenkonsum, aber wir wollen die Folgen kontrollieren", sagt die Stiftungssprecherin. Neben den berühmten Coffeeshops für Kiffer gibt es auch Räume, in denen Fixer Nadel wechseln können, um sich anschließend unter Aufsicht Heroin zu spritzen.

Während sich die niederländische Hauptstadt über saubere Straßen und die Obdachlosen aus dem Oosterpark über Kippen und Bier freuen, wird in der Öffentlichkeit heftig darüber gestritten, ob es ethisch vertretbar ist, Alkoholiker mit Bier zu bezahlen. Dass Amsterdam seine Straßenfeger nicht aus ihrer Abhängigkeit befreien will, ist offensichtlich. Andererseits hat sich die Strategie, Alkoholiker kontrolliert trinken zu lassen, in anderen Städten bereits bewährt. Einer Suchtberaterin der Stadt München zufolge ist es eine fachlich anerkannte Methode, Schwerstabhängigen unter Aufsicht Alkohol zu geben. "Das ist nicht von vornherein Mist." Gerade bei Obdachlosen sei es nicht mehr realistisch, dass sie abstinent werden könnten. In Begleitung von Suchtberatern griffen Alkoholiker immerhin nicht zu Schnaps. Hochprozentige Getränke, sagt die Münchner Suchtberaterin, "zerstören Geist und Gehirn im Zeitraffer". Auch in Bayern hat die Suchtberatung Projekte angeboten, in denen Alkoholiker Bier trinken durften, aber keinen Schnaps. "Den Abhängigen überhaupt keinen Alkohol zu geben, wäre gefährlich. Sie müssen ihren Pegel halten, sonst drohen Krämpfe und Delirium", sagt die Münchner Suchtberaterin.

Deshalb bezahlt die Regenbogen-Stiftung ihre Straßenkehrer auch mit Bier, verteilt über den Tag. Mit ersten Erfolgen. "Manche Teilnehmer erkennen, dass sie mehr auf ihren Körper achten müssen - und auf ihr soziales Umfeld", sagt die Stiftungssprecherin. Weiter abhängig sind die Straßenkehrer dennoch. "Wir trinken jetzt bestimmt strukturierter", sagt ein Teilnehmer. "Aber nicht weniger." Wenn die Straßenfeger nachmittags ihren Besen abgegeben und ihren Lohn erhalten haben, gehen sie weiterhin zum nächsten Supermarkt. Dort kaufen sie das nächste Bier. Und hin und wieder, erzählt die Sprecherin, kauft einer eine Postkarte für seine Oma.

"Die Größe der Bühne ist mir egal"

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jetzt.de: Jake, du warst 17, als du zum ersten Mal beim berühmten Glastonbury-Festival aufgetreten bist. Fandest du deine Songs damals schon gut genug, um damit eine große Karriere zu starten?
Jake Bugg: Damals war ich eigentlich noch voll damit beschäftigt, meinen Stil zu festigen. Dass ich mal Karriere machen und die schon so früh beginnen würde, konnte ich nicht abschätzen. Meine Songs fand ich dafür weder gut genug noch zu schlecht. Das einzige, was ich damals sicher wusste, war dass ich nach der Schule nichts anderes machen wollte als Musik.

Es heißt, du hättest schon mit zwölf eigene Songs geschrieben ...
… und gleichzeitig aufgehört mit Fußballspielen, ja. Ich habe da einfach mein Hobby getauscht. Allerdings war das noch nicht wirklich gut. Die ersten vernünftigen Songs habe ich mit 14 geschrieben.

Heute bist du für Texte über das Kleinstadtleben bekannt. Worüber hast du mit 14 geschrieben?
Es gab keine speziellen Themen. Es waren einfach Dinge, die mir beim Songschreiben spontan in den Kopf kamen, meist kleine Geschichten darüber, was meine Freunde und ich so machten und wie es uns dabei ging.



"Ich könnte in zwei Minuten einen Song schreiben": Jake Bugg.


Du hast mal gesagt, das Schreiben habe dich in deiner Jugend davor bewahrt, verrückt zu werden...
… was es bis heute tut, ich glaube, das wird sich nie ändern. Wenn ich zur Gitarre greife, ändert das meine Gefühlswelt. Plötzlich ist alles anders. Und besser. Das Songwriting ist gut für meine Seele. Gut dass ich das habe, denn abseits der Musik war ich noch nie gut darin, über meine Gefühle zu sprechen.

Welche Stimmung brauchst du, um einen Song zu schreiben?
Ich kann das tatsächlich immer. Ich könnte genau jetzt die Gitarre nehmen und in zwei Minuten einen Song machen. Die Frage ist bloß, ob der dann gut wird.

Ahnst du schon beim Schreiben, ob ein Song erfolgreich wird?
Es gibt Songs, die im ersten Moment fantastisch klingen – aber eben leider nur in diesem einen Moment. Ich hab die Erfahrung gemacht, dass man die Erfolgschancen eines Songs erst dann einschätzen kann, wenn man im Studio war und ihn professionell eingespielt hat. Erst dann kann man sagen, ob etwas wirklich stark ist – oder doch nur Standard.

Im Studio warst du zuletzt mit Rick Rubin, dem wohl legendärsten Rock-Produzenten der Welt. Wie kam es dazu?
Ich war selbst überrascht, als seine Einladung kam, ich solle doch mal zu ihm kommen und ein paar Songs mit ihm aufnehmen. Ich war neugierig genug, sie anzunehmen.

http://vimeo.com/78288462 Das Video zu Jakes aktueller Single "Slumville Sunrise".

Was hast du von ihm gelernt?
Ich glaube, ich bin in der Zeit in seinem Studio grundsätzlich ein besserer Musiker geworden. Was aber nicht nur an ihm liegt, sondern auch daran, dass ich von vielen richtig guten Musikern umgeben war. Mein Umfeld war einfach professioneller denn je.

Zu diesem Umfeld zählte zum Beispiel Chad Smith, der Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers. Wie hast du dich mit diesen Legenden gefühlt?

Eigentlich haben wir die ganze Zeit nur Musik gemacht. Wenn wir Pause hatten, saßen wir mit unseren Gitarren auf den Sofas, haben dort weitergespielt oder zumindest übers Gitarrespielen gesprochen. Leute wie Chad Smith sind so cool, die brauchen dir nicht viel von sich zu erzählen, damit du etwas von ihnen lernst. Es reicht, in ihrer Nähe zu sein.

Mittlerweile bist du selbst international erfolgreich. Dein Landsmann Noel Gallagher sagt: „Jake Bugg ist die Zukunft der Musik.“ Wie fühlst du dich angesichts so viel Lobes?
Grundsätzlich sollte man es mit den Lobeshymnen zwar nicht übertreiben. Aber es macht mir auch nichts, so viel Zustimmung zu bekommen. Das bedeutet ja vor allem, dass ich weiterhin machen kann, was ich am liebsten mache. Dass ich weiter Lieder schreiben kann. Dass sich manche Leute mit ihnen besser fühlen.

Die Bühnen, auf denen du auftrittst, werden immer größer. Macht dir das eigentlich manchmal ein bisschen Angst?
Die Größe der Bühnen ist mir egal. Mir ist wichtig, dass die Leute Platz zum Tanzen haben. Das Publikum soll im Vordergrund stehen und den Abend genießen können. Vor den Auftritten bin ich manchmal ein bisschen nervös. Aber sobald ich da oben stehe, ist eigentlich immer alles gut.

„Shangri La“ von Jake Bugg ist vergangene Woche erschienen.

Mein Haus, mein Auto, mein Museum

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Da denkt man, dass der Selbstdarstellung auch irgendwann mal ein Ende gesetzt sein könnte, wenn erneut ein erfolgreicher Fußballer seiner eigene Unterwäsche-Kollektion vorstellt. Nicht für Cristiano Ronaldo, denn eine Unterhosenserie und das Image eines Fußball-Superstars reichen ihm noch nicht.
 


Museen berühmter Persönlichkeiten zeigen was sie berühmt gemacht hat, aber wie würde aber dein Museum aussehen?

Das Posieren in Unterwäsche ist ja spätestens seit David Beckham eine beliebte Fußballer-Strategie sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das lässt Ronaldo natürlich nicht unversucht. Aber um das noch zu toppen, bringt er nun sein unglaublich riesig wirkendes Ego mit einem geplanten Museum auf eine neue Ebene. Laut Medienberichten sollen in Zukunft auf 300 Quadratmetern in seiner Heimatstadt Funchal auf der Atlantik-Insel Madeira sämtliche Trophäen, Trikots und selbstverständlich auch Bilder von ihm ausgestellt werden. Ein enger Familienfreund hat in einem Interview mit einer portugiesischen Zeitung beteuert, dass Ronaldo bei der Errichtung nicht in erster Linie an sich denke, sondern es eher als eine neue Touristenattraktion einplane. Trotzdem macht der Plan es einem nicht gerade leichter ihn zu mögen.  

Unabhängig davon, ob sich diese Pläne nun auf die stark ausgeprägte narzisstische Ader Ronaldos zurückführen lassen oder ob er der Insel Madeira damit tatsächlich aus der Wirtschaftskrise helfen möchte, ist die Idee ein eigenes Museum über sich selber zu besitzen doch schon etwas ziemlich abgefahrenes. Was dich in Museen berühmter Menschen erwartet, kannst du dir ja vielleicht noch vorstellen. Was aber, wenn nun ich und nicht jemand weltberühmtes auf die Idee kommen würde, unbedingt ein Museum über mich errichten lassen zu wollen? Weil ich kein Talent nachweisen kann, dass mich in meinem bisherigen Leben immer begleitet hat, würde es wohl eher eine Art Zeitreise durch mein Leben darstellen. Angefangen mit dem ersten Ultraschallbild, dem Lieblings-Teddy ohne den früher gar nichts ging, weiter über meinen ersten Liebesbrief und die Scherben der Vase, die ich nach dem Scheißkerl geworfen habe, bis hin zu einem Schul- oder Hochschulabschluss. Da würde es sich offensichtlich noch lohnen ein bisschen mit dem Museum zu warten.  

Vielleicht hast du dir ja auch schon mal Gedanken darüber gemacht, was in deinem Museum stehen würde. Eine Ausstellung sämtlicher ersten Male, die du bis jetzt erlebt hast? Oder siehst du nur einen leeren Raum und findest Museen eh doof? Würdest du überhaupt ein Museum über dich haben wollen?

Was bisher geschah...

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Schule für Spione

Was bewegt einen jungen Menschen dazu, für den Verfassungsschutz zu arbeiten? Und wie bereitet er sich darauf vor? Jetzt-Mitarbeiterin Kathrin Hollmer hat mit Julian gesprochen. Er lebt und lernt im Agenten-Internat. Erzählen darf er davon beinahe niemandem.

Über Drelfies, Shelfies und Welfies
„Selfie“ wurde diese Woche zum Wort des Jahres ernannt. Nachdem es uns schon seit einer Ewigkeit im Internet nervt. Aber was steckt eigentlich dahinter? Wer macht Selfies und warum? Ein ABC.

Tänzer vs. Zuhörer
Es ist heiß und stickig. Die Musiker auf der Bühne geben ihr Bestes, die Musik ist mitreißend und eigentlich könnte alles ganz schön sein. Eigentlich... aber egal ob man jemand ist, der starr auf die Bühne starrt, oder sich lieber im Takt der Musik in Ekstase tanzt - ihm muss sich jeder stellen: dem Alltagsduell eines Konzertes.   

Nabelschau in Münchner Küchen
Jeder hat ein Lieblingslokal. Diesen einen Ort, an dem man sich am liebsten mit Freunden trifft, an dem man die Speisekarte auswendig kennt und die Bedienung einem die Lieblingspizza auch ohne Anfrage schon extrascharf serviert. Trotzdem bleibt es immer ein Mysterium, was im Herzstück des Restaurants passiert, in der Küche. Jetzt-Mitarbeiter Juri Gottschall hat es jedoch bis dorthin geschafft und den Köchen ihre Geheimnisse entlockt.  

Kann in nur zwei Minuten einen Song schreiben:
Jake Bugg. Der 19-Jährige ist die Hoffnung der Singer-Sonwriter-Musikbranche. Mit jetzt-Mitarbeiter Erik Brandt-Höge hat er sich über sein neues Album „Shangri La“, die Musiklegenden Rick Rubin und Chad Smith und die heilende Wirkung des Songwritings unterhalten.   

Die politische Wochenlage:
Wie auch schon in den letzten Wochen kamen die Koalitionsverhandlungen nicht großartig voran. Ebenso geht es auch dem Prozess, dem sich der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff wegen 719,40 Euro stellen muss. Schwierigkeiten bei der Annäherung an die Wahreit zeigten sich auch wieder im NSU-Prozess: Da Beate Zschäpe nicht selber über sich reden wollte, lud das Gericht Zeugen aus dem direkten Umfeld der Angeklagten. Diese Woche mit dabei: der Jugendfreund André Kapke, der immer wieder betont, dass der NSU nicht wirklich organisiert war und die eigentliche Motivation nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern Hass auf die Atomkraft. Außerdem kam auch Uwe Böhnhardts Mutter Brigitte zu Wort. Sie erklärte, Zschäpe sei ein freundliches und liebenswertes Mädchen und bedankte sich auch gleich bei ihr, sie angerufen zu haben, als Sohn Uwe starb. Den anwesenden Angehörigen der Opfer des NSU hatte sie nichts zu sagen.  

Das Video der Woche
In der letzten Woche kam kaum jemand an der neuen Volvo-Reklame vorbei: Selten hat man auf YouTube etwas Männlicheres gesehen, als Jean-Claude Van Damme, der zwischen zwei Rückwertsfahrenden Trucks einen Spagat macht. Musik epischen Ausmaßes wird nur übertönt von der tiefen Stimme des Akrobaten. Selten hat man aber auch gesehen, dass auf YouTube in so kurzer Zeit so viele Parodien erschienen )Justin BIeber ausgenommen). Und so vollführt nun ein Bananen-Split Kunststücke, während er auf zwei Trucks rückwärts in den Sonnenuntergang fährt. Lecker!
http://www.youtube.com/watch?v=sX29o-2fmKU 

Und dann war da noch...
... die Warnung des französischen Außenministers Laurent Fabis vor einem drohenden Massenmord in der Zentralafrikanischen Republik: Seitdem die muslimische Rebellenkoalition Séléka unter dem jetzigen Staatschef Michel Djotodia im März putschte, geraten ihre Kämpfer immer mehr außer Kontrolle und ziehen mordend und plündernd durch das Land. Auch die christliche Gegenmilizen gegründet, die gegen die „Macheten“ kämpfen, terrorisieren die Bürger. Hunderte von Menschen sind bereits ums Leben gekommen. Die Kämpfe haben inzwischen auch religiöse Gründe. Anfang Dezember wird ein Beschluss der NATO erwartet, der das Eingreifen französischer Streitkräfte und Soldaten der Afrikanischen Union vorsieht. Bis dahin wird das Morden zwischen Muslimen und Christen wohl viele weitere Opfer fordern. 
In Deutschland wird in der Zwischenzeit demonstriert: Am Samstagmorgen ab 8 Uhr findet in Leipzig ein Protestmarsch von Antifa, Jusos und Piraten statt. Grund dafür ist die Versammlung „Für die Zukunft der Familie! Werden Europas Völker abgeschafft?“ der rechtsorientierten Zeitung „Compact“. Sprecher auf dem Kongress sind unter Anderem  Thilo Sarrazin und die Sprecherin der AfD, Frauke Petry. Im Mittelpunkt der Vorträge steht die Homo-Ehe.

Das zweite Gesicht

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Pascal sagt, meine Mutter war irgendwie nicht so da, am Anfang. Die hat viel gepennt und so. Die Oma hat dann oft Pfannkuchen gemacht. Scheiße war das eigentlich, sagt Pascal. Dass die Mutter sich so selten um uns gekümmert hat.

Der Betreuer sagt, Frau Schneider war süchtig, als Pascal zur Welt kam. Süchtig nach einem Computerspiel, das "World of Warcraft" heißt. In ihrem Leben gab es nichts, nur dieses Spiel. Frau Schneider hat drei Söhne.



"Das wird mal was, wo ich Spaß habe" - Eine Radtour durch Deutschland verändert Pascals Leben.

An einem Mittwoch im Oktober 2013 läuft Pascal barfuß durch den Sand und springt in die elf Grad kalte Ostsee. Einen weiten Weg hat er hinter sich, er ist aus dem bayerischen Hof bis an die Küste geradelt, mit 40 Kilo Gepäck auf dem Fahrrad, gegen Wind, durch Regen und Schnee. Und der Weg davor war noch viel weiter.

Frau Schneider sagt, der Mann, den ich liebte, hat mich genauso verprügelt, wie mein Vater das auch schon getan hat. Trotzdem, sagt sie, konnte ich nicht weg von ihm. Am heftigsten schlägt der Mann sie, als sie zum dritten Mal schwanger ist. Er will das Kind nicht. Frau Schneider verliert nicht das Kind, aber sich selbst. Sie sieht keinen Platz mehr für sich, außer vor dem Computer. Sie vergisst ihre Kinder, sich, alles. Jahrelang. Ich habe versagt, sagt sie.

Die Grundschullehrer sagen, Pascal und seine Brüder kommen unpünktlich zur Schule, haben verdreckte Kleidung an und sind aggressiv. Pascal ist manchmal so außer sich, dass ihn drei Lehrer festhalten müssen, schweißgebadet ist er dann und völlig verkrampft. Frau Schneider lässt ihre Kinder verwahrlosen, sagen die Lehrer. Pascal und sein kleiner Bruder kommen auf eine Förderschule für Erziehungshilfe. Obwohl ein Test ergibt, dass Pascal einen IQ von mehr als 140 hat.

Pascal teilt seine Welt in richtige Tage ein. Und in Scheißtage. In der Grundschule, sagt er, gab es irgendwann gar keinen richtigen Tag mehr. Auf der neuen Schule, sagt Pascal, habe ich mich total verändert. Ich hab" mich ja nicht so gut benehmen können und ich hab" mich da auch noch mal geprügelt, aber es war eigentlich erst mal ausgeglichen. Mit zwölf bekommt Pascal die erste Anzeige. Weil er mit einem Kumpel Schaumstoffschwerter klaut.

Das Jugendamt droht Frau Schneider, ihr die Kinder wegzunehmen. Da bin ich aufgewacht, sagt Frau Schneider. Sie hört von einem Tag auf den anderen mit dem Computerspiel auf, nimmt Familienhilfe in Anspruch. Sie versucht, etwas gutzumachen.

Als Pascal 13 Jahre alt ist, klappt einen ganzen Monat lang nichts. Pascal kommt in die Psychiatrie. Da kam ich gut mit den Kindern klar, sagt Pascal. Am Anfang habe ich mir jeden Morgen das gleiche Brötchen geschmiert, immer ein Brötchen mit Schmierkäse und zwei Gläser Milch. Aber dann geht es da auch wieder schief. Jede Nacht um vier bin ich aufgestanden, sagt er, konnte nicht mehr schlafen. Ich konnte mir nicht mal mehr ein Brot richtig schmieren. Warum? Das weiß er nicht. Er bricht die Psychiatrie ab. Danach läuft es die ersten Tage besser. Ich hatte richtig gute Noten, sagt Pascal. Aber dann gab es halt wieder diese Tage, die haben alles zerstört. Wo irgendwas nicht gepasst hat.

Ein Tag ist nicht mehr richtig, wenn Pascal etwas machen soll, was er nicht machen will. Wie einmal beim Sport. Da ärgert es ihn, dass sich alle aufwärmen sollen. In der Pause wärmen wir uns doch sowieso auf, sagt Pascal. Die wollen uns mit so kindischen Sachen nur schikanieren. Pascal sagt, es macht mich rasend, wenn so Respektspersonen den längeren Hebel haben. Wenn die das ausspielen, dann raste ich aus. Ich hasse Pädagogen, sagt er. Das sind dann die Tage, an denen Pascal nach Hause geschickt wird.

Der Betreuer sagt, weil Pascals Mutter jetzt so ein schlechtes Gewissen hat, lässt sie Pascal alles durchgehen. Wenn die Schule sie um Hilfe ruft, stellt sie sich auf Pascals Seite, weil sie denkt, sie muss ihn beschützen. Pascal weiß das. Er kennt die Knöpfe, die er drücken muss.

Pascal sagt, wenn er ein Betreuer wäre, würde er sagen, sind schon Scheißkinder. Ist er ein Scheißkind? Ja, sagt Pascal. Es gebe ein Lied, von Peter Fox, "Das zweite Gesicht" heißt es. Das passt total zu mir, sagt er. In dem Lied heißt es: "Es steckt mit dir unter einer Haut und du weißt, es will raus ans Licht. Die Käfigtür geht langsam auf und da zeigt es sich: Das zweite Gesicht." Das zweite Gesicht müsste man irgendwie umbringen, sagt Pascal. Das wär"s.

Wenn er umschaltet, von dem einen, sanften Gesicht, zu dem zweiten, aggressiven, dann sieht er nichts anderes mehr, sagt Pascal. Ich denk" dann, was soll schon Schlimmes kommen? Einmal bin ich auf "ne Lehrerin los, und dann haben die die Polizei gerufen. Ein andermal packt er einem Schüler eine ganze Ladung Schnee ins Gesicht und verprügelt ihn so, dass der eine blutige Lippe hat. Wieder kommt die Polizei. Das fand ich doof, sagt Pascal, dass die die Polizei riefen. Das hätte man auch anders lösen können.

Der Betreuer sagt, Pascal hat eine Bindungsstörung. Weil er als Kind keine Bindung zu seiner abwesenden Mutter aufbauen konnte, gelingt ihm das nun mit niemandem mehr. Deswegen wirkt er auf andere manchmal verstörend wenig empathisch. Die Lehrer sagen, Pascal macht den Schülern Angst - und ihnen auch. Als Pascal sagt, er will alle umbringen, darf er nicht mehr zur Schule kommen. Pascal gilt nun als eine Gefahr für sich selbst und andere. Pascal ist eine Weile still, dann sagt er, man macht manchmal Dinge im Affekt, die man dann nicht so meint, später. Die Schulkonferenz kommt zu dem Ergebnis, dass Pascal erst dann wieder beschult werden kann, wenn er an einer intensivpädagogischen Maßnahme teilgenommen hat. Pascal ist jetzt 14.

Als Pascal hört, dass er mit dem Rad zwei Monate lang durch Deutschland fahren soll, sagt er sich, ich pack" das. Vielleicht läuft"s danach. Er denkt auch, das klingt wie Urlaub. Pascal war noch nie im Urlaub. Er war überhaupt noch nie aus seiner Heimatstadt weg. Das wird mal was, wo ich Spaß habe, sagt Pascal.

Im September fährt Pascal im bayerischen Hof los, mit einem Betreuer. Es ist die intensivste Form an erzieherischen Maßnahmen, die es gibt, ein Pädagoge, ein Jugendlicher. Kinder brauchen Abenteuer, sagt der Betreuer. Seine Firma, ein Träger für intensivpädagogische Angebote, hat er deshalb Expedition Nordwind genannt. Nach uns, sagt der Betreuer, kommt nur noch geschlossene Unterbringung. Nach zwei verregneten Wochen sind die beiden im Harz angekommen. Dort pausieren sie auf einem Campingplatz. Pascal ist begeistert von der Tour. In Bayern war einfach alles schön, sagt er. Da bin ich fast von einem Auto überfahren worden, weil ich einen Bussard gesehen habe. So Natur tut mir richtig gut, sagt er. Der Betreuer sagt, es läuft gut. Er arbeitet viel über Metaphern mit Pascal. Er geht mit ihm eine Klippenwanderung, Pascal soll den Weg finden. Als er sich verirrt, lässt ihn der Betreuer wieder dorthin zurückgehen, wo er falsch abgebogen ist. Du musst nicht immer auf einem falschen Weg weitergehen, sagt der Betreuer. Du kannst zurückgehen, dich neu orientieren. Pascal soll so lernen, dass es Alternativen zu seinem konfrontativen Verhalten gibt.

Pascal springt während der Wanderung immer wieder an den Wegesrand, zeigt begeistert auf Spinnweben, Käfer, Pilze. Auch, als es zu regnen beginnt, nach 15 Kilometern, meckert er nicht. Als in seinen Schuhen das Wasser steht, sagt er nur, jetzt quietscht es schon. Wenn Pascal von der Radtour erzählt, klingt er sehr dankbar. Kein Wort darüber, dass es schon Bodenfrost gab. Für Pascal ist alles spannend. Wir haben Pflaumen gepflückt, die waren total süß, sagt er. Da hat die Natur uns einfach was ganz Tolles geschenkt!

Der Betreuer sagt, man solle sich davon nicht täuschen lassen. Pascal habe etwas sehr Richtiges beschrieben: Er habe zwei Gesichter. Das eine, sanfte. Und das andere, aggressive. Pascal hat erhebliche Probleme mit Autoritäten, sagt der Betreuer.

Pascal erzählt, dass der Betreuer ihm erklärt hat, dass es drei Verhaltensebenen gibt: konstruktiv, kooperativ und destruktiv. Ich bin destruktiv, sagt Pascal. Wenn ich weiß, der Lehrer hat die Macht, mich kaputtzumachen. Aber ich kann dann sagen, mache ich nicht, brauche ich nicht, will ich nicht. Dann seid ihr auch machtlos. Die Lehrer, sagt Pascal, drohen dann mit irgendwas, das die Schüler eh nicht interessiert. Wir rufen jetzt deine Mutter an oder so. Da denke ich, mach" doch, das geht mir so am Arsch vorbei.

Der Betreuer sagt, genau das sei der Grund, warum man mit einem Jungen wie Pascal rausgehen müsse. Weil es draußen unmittelbare Konsequenzen gibt. Die Natur, sagt der Betreuer, hilft mir dabei. Wenn ich am Abend sage, er soll seine Klamotten ins Zelt räumen, und er das nicht macht, dann sage ich das keine zehn Mal. Ich weise ihn deutlich darauf hin, was er zu tun hat, überlasse aber ihm die Entscheidung. Am nächsten Morgen sind seine Sachen dann nass. Solche Konsequenzen kennen diese Kinder im normalen Leben nicht. Wenn sie sich noch so sehr verweigern, sie werden doch immer zu essen und ein warmes Bett haben. Im Grunde passiert nichts. Hier lernt er, dass der Einzige, der leidet, wenn er sich verweigert, er selbst ist.

Als Pascal sieht, dass der Betreuer Kabelbinder dabei hat, für Reparaturen, fragt Pascal, ob er damit gefesselt wird, wenn er nicht gehorcht. Der Betreuer muss ihm immer wieder klarmachen, dass es Pascals freie Entscheidung ist, dass er die Tour mit ihm macht. Dass er es selbst in der Hand hat, in seinem Leben einen besseren Weg einzuschlagen. Für Pascal ist das schwierig, sagt der Betreuer. In seiner Welt ist so viel Negatives passiert, dass Kinder wie er Angst vor Erfolg entwickeln. Weil sie mit den Gefühlen nicht umgehen können, wenn mal etwas gut ist.

Pascal sagt, zu Hause mache ich mit meinem großen Bruder manchmal schöne Sachen. Nur einmal hat er mir fast eine Gehirnerschütterung verpasst. Gerade habe ich eine halbe Stunde mit ihm telefoniert, erzählt er. Da hat er mich sogar gefragt, wie es mir geht. Das ist schon ein schönes Gefühl, wenn sich mein großer Bruder wenigstens für mich interessiert, sagt Pascal. 17 oder 18 ist der. Pascal weiß es nicht.

Pascal erzählt, dass er sich in der vergangenen Woche den Magen verdorben hat. Irgendwas habe nicht gestimmt mit dem Kartoffelbrei aus der Packung, sagt er. Mir war so schlecht wie noch nie. So schlecht, dass der Betreuer ein Hotel reserviert. Zu dem Hotel müssen sie noch 35 Kilometer radeln. Pascal sagt, im Hotel sei er einfach umgefallen. In seinem ganzen Leben will er nie wieder Kartoffelbrei essen. Wenn er nur daran denkt, wird ihm schon wieder schlecht. Während der Wanderung im Harz dreht er sich auf einmal um. Mein ganzes Leben war bis jetzt eigentlich nur Kartoffelbrei, sagt er.

Das sind die Momente, von denen der Betreuer sagt, so etwas kommt aus Kindern nicht an einem Tisch raus. Dazu muss man in den Wald gehen. Etwas erleben mit ihnen. Dann fangen sie auf einmal zu reden an. Und dann kann man auch wieder mit ihnen reden. In der Fachsprache heißt das, sie sind pädagogisch noch erreichbar.

Der Betreuer sagt, draußen bleibt den Kindern nichts anderes übrig, als sich sozialverträglich zu verhalten. Sie müssen kommunizieren, mit dem Betreuer zusammenarbeiten. Der Betreuer hat den Kocher, Pascal die Gaskartusche - wenn sie essen wollen, müssen sie reden. Ein großes Thema für Pascal, das richtige Kommunizieren. Einmal versucht Pascal verzweifelt, im Regen sein Zelt aufzubauen, schimpft, flucht. Nach einer Stunde fragt ihn der Betreuer, was nun passieren müsste. Pascal sagt, dass der Betreuer ihm helfen soll. Der Betreuer fragt Pascal, warum er ihn das nicht schon vor einer Stunde gefragt hat. Pascal soll begreifen, dass es Lösungen gibt, dass er um Hilfe bitten kann - dass er das darf und sogar muss.

Es dauert drei Wochen, bis es auch auf der Tour eskaliert. Pascal soll Wäsche waschen, es kommt zu einer Diskussion, er rennt weg. Als er nach drei Stunden wiederkommt, ist er erstaunt, dass der Betreuer ihn nicht gesucht, sondern die Polizei gerufen hat. Pascal muss am Telefon mit einer Polizistin sprechen. Sie erklärt ihm, dass das Projekt jetzt vorbei wäre, hätte die Polizei ihn aufgegriffen. Dann wäre Endstation - er käme in die Inobhutnahme. Ob er das will, fragt der Betreuer beim allabendlichen heißen Kakao. Nein, sagt Pascal.

Der Betreuer sagt, Pascal schiebt die Schuld an seiner Situation gern anderen zu, Lehrern, Betreuern, nicht sich selbst. Er muss lernen, welchen Anteil sein eigenes Handeln hat. Der Betreuer übergibt Pascal langsam immer mehr Verantwortung. Er darf das Essen für eine ganze Woche verwalten, muss es richtig einteilen.

Pascal schafft den ganzen Weg bis an die Ostsee. 51 Tage lang, 1412 Kilometer auf dem Fahrrad und 170Kilometer zu Fuß. Die ganze Zeit hat er sich vorgenommen, dass er am Ziel ins Meer springen wird. Als der Betreuer sagt, er geht nicht mit ins Wasser, findet Pascal das blöd. Aber der Betreuer sagt, jetzt fängt der Weg an, den Pascal allein gehen soll. Pascal ist erst verunsichert. Aber dann rennt er in die Wellen. Er freut sich. Pascal ist stolz auf sich.

Als Pascal nach Hause kommt, sagt seine Mutter, sie hat ein neues Kind. Weil Pascal eine ganz neue Sprache verwendet. Keine Schimpfwörter mehr. Ich hoffe so sehr, dass es doch noch alles gut wird, sagt sie.

Ein Urlaub, sagt Pascal jetzt, war das nicht. Das war anstrengend. Ich hab" viel gelernt, über mich und die menschliche Psyche, sagt er, manchmal habe ich richtig gemerkt, wie in meinem Kopf alle Maschinen arbeiten. Ich bin jetzt ruhiger. Als er in der Schule fälschlicherweise beschuldigt wird, er habe etwas in die Klasse geworfen, gelingt es ihm zu klären, dass er das nicht gewesen ist. Ihm wird geglaubt. Früher, sagt er, wäre ich ausgetickt. Da wär" das wieder schiefgegangen. Und das zweite Gesicht? Das versuche ich jetzt zu bändigen, sagt er.

Zwei Wochen später schreibt Pascal eine Englischarbeit mit null Fehlern, es ist die fünfte Eins in seinem Leben. Seit seiner Rückkehr ist er kein einziges Mal aus dem Unterricht verwiesen worden - aber noch sitzt auch der Betreuer oft mit in der Schule. Er begleitet die kritische Phase der Rückkehr. Pascal hat mit ihm Ziele festgelegt. Eines davon ist die Mittlere Reife.

Im Nachhinein, sagt Pascal, bin ich meiner Mutter nicht böse. Wenn sie früher mehr da gewesen wäre für mich, dann hätte das auch nichts geändert.

Und nichts als die Wahrheit

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Erinnerungen können Folter sein. Hasan Nuhanovic kriegt diese Bilder nicht aus dem Kopf, obwohl sie so lange her sind: Der Moment, wo er von seinen UN-Vorgesetzten gezwungen wird, der eigenen Familie das Todesurteil in drei Wörtern zu übersetzen: "Ihr müsst gehen." Sein kleiner Bruder, der verzweifelt aufspringt und ruft: "Zur Hölle mit ihnen. Ich werd" sie nicht anbetteln. Ich gehe jetzt da raus." Hasan, der ihm hinterherlaufen und ihn begleiten will. Seine Eltern, die ihn anflehen zu bleiben. Ihr allerletzter Satz: "Mach Dir keine Sorgen, er ist ja bei uns, es wird uns nichts passieren." Und die Blauhelme, die auf den Boden sahen und denselben Satz sagten: "Es wird ihnen nichts passieren." Dabei hörte man draußen schon die Schüsse.



Ein Bosnier trauert neben dem Sarg seines Verwandten im Juli 2012. Zum Jahrestag des Massakers wurden kürzlich identifizierte Opfer bestattet.

Hasan Nuhanovic sitzt in einer Bar in Sarajevo, direkt gegenüber vom Parlamentsgebäude, wo er ein winziges Büro hat. Ein hagerer großer Mann, er raucht viel an dem Abend, manchmal zündet er eine Zigarette an, während die andere noch brennt. Er wirkt zerknittert, nicht wie ein großer Sieger. Obwohl er das ist, aber dazu später. Sie nennen ihn den Elie Wiesel von Sarajevo. Seine Freunde nannten ihn lange auch Don Quijote. Weil er allen Ernstes die Niederlande verklagte. Viele rieten ihm, aufzugeben. Auszuwandern. "Aber wozu hat Gott mir dieses Leben gegeben, das 8000 Menschen genommen wurde", fragt Nuhanovic.

8000. Zahlen sind der Tod der Vorstellung. 8000Menschen wurden im Sommer 1995 in der Nähe von Srebrenica umgebracht. Schlimm, sagte die Weltgemeinschaft damals, wirklich schlimm. Andererseits: Was willste machen, Balkan. Die sind so. Der britische Premierminister John Major sprach bezüglich des Bosnienkrieges von einem "uneuropäischen Krieg im Stile des Mittelalters."

8000 Menschen. Fünf Tage lang dauerten die Massaker, die von langer Hand vorbereitet worden waren: Die Killer hatten 10 000 Augenbinden vorbereitet, 10000 Drahtfesseln für die Hände, sie hatten in den Wochen zuvor mehrere Hundert Busse und Dutzende Bulldozer herbeigeschafft und Gebäude für ihre Massenexekutionen leergeräumt. Drazen Erdemovic, einer der Killer, sagte vor dem Haager Tribunal: "Ich konnte irgendwann einfach nicht mehr schießen, mein Zeigefinger wurde vom vielen Töten taub. Ich hab sie stundenlang getötet." Erdemovic wurden damals fünf Mark pro Leiche versprochen, also machte er bei den Erschießungen von 20 Busladungen mit. Ob Hasan Nuhanovics Eltern und sein Bruder zu Erdemovics Opfern gehörten? Nuhanovic wird es nie erfahren. "Ich kann ja schon froh sein, dass ich irgendwann ein paar Rippen von meiner Mutter gefunden habe."

Nuhanovic arbeitete während des Bosnienkrieges als Dolmetscher der UN-Truppen, die Srebrenica schützen sollten, schließlich galt die bosnische Enklave seit 1992 als Protektorat, weshalb immer mehr Flüchtlinge in die Kleinstadt geströmt kamen. Als die bosnisch-serbischen Truppen unter ihrem Oberbefehlshaber Ratko Mladic die Stadt am 11. Juli 1995 einnahmen, machten sich 12000 bis 15000 bosnische Männer auf den Weg durch die Wälder in Richtung bosnischer Gebiete. 6000 kamen am Ende an. Die übrigen wurden erschossen, verbrannt, erstochen. 30 000 Menschen aber flohen von Srebrenica aus ins fünf Kilometer entfernte Potocari, wo die UN-Blauhelme auf einem ehemaligen Fabrikgelände stationiert waren. Sie hofften dort auf Schutz. Ein Fehler. Die UN ließ vorübergehend 6000 Menschen auf das Gelände, 25 000 aber wurde von Anfang an der Zugang verwehrt.

Es gibt eine berühmte Videoaufnahme über die Einnahme von Srebrenica. Berühmt deshalb, weil Mladic darin die anschließenden Massaker offen ankündigt. Er geht durch die menschenleeren Straßen und befiehlt seinen Truppen, sofort nach Potocari weiterzumarschieren. Dann hält er an und sagt in die Kamera: "Ich übergebe Srebrenica hiermit dem serbischen Volk. Wir werden nun endlich die berechtigte Rache nehmen an den Türken." Mit den Türken meint er die bosnischen Muslime. Die "berechtigte Rache" bezieht sich darauf, dass die Türken einst die Besatzer dieser Gebiete waren. Wenige Stunden nach dieser klaren Ansage stimmte der UN-Kommandant Thomas Karremans der Übergabe all der zu ihm geflohenen Menschen an Mladics Truppen zu.

Mladic hatte im März mit der gezielten Einschüchterung der niederländischen UN-Truppe begonnen und keine Lebensmitteltransporter mehr in die Schutzzone durchgelassen. Zum Schluss wurden die "Dutchbats" von den Serben richtiggehend gedemütigt. Soldaten mussten ihre Helme und schusssicheren Westen an sie abgeben, ja einige mussten sich bis auf die Unterhose ausziehen. Mussten sie wirklich? Sie haben all das jedenfalls mit sich machen lassen. Karremans wurde von Mladic in ein Hotel beordert, wo das Foto entstand, das um die Welt ging: Karremans und Mladic stoßen miteinander an, während draußen das große Schlachten beginnt. Mladic redet mit dem UN-Kommandanten wie mit einem ungehörigen Schüler. Der sagt den unfassbar demütigen Satz: "I am a piano player, don"t shoot the piano player." Mladics Antwort: "You are a lousy piano player." Nach den Deportationen ließ Karremans die Serben dann auch noch sein Gebäude inspizieren, ob sich auch ja nicht irgendwelche Bosnier dort versteckt hielten.

Noch Wochen nach dem Abzug lobte Karremans Mladic wegen dessen Militärstrategie und sagte, die "Schlacht um Srebrenica war von Seiten der Serben eine korrekte militärische Operation". Im "Debriefing-Report", den der niederländische Verteidigungsminister im Oktober 1995 vorlegte, heißt es: "Als militärische Optionen nicht mehr möglich waren, konzentrierten sich die niederländischen Blauhelme darauf, die größte humanitäre Not unter den Flüchtlingen zu lindern. Dank ihrer Anstrengungen wurde eine größere Katastrophe verhindert."

Hasan Nuhanovic hat das anders erlebt: Seine Eltern und sein Bruder zählten zu den 6000 Menschen, die sich aufs UN-Gelände hatten flüchten können. Draußen im Dunkeln hörte man Exekutionsschüsse und Schreie, außerdem war zu sehen, dass Mladics Soldaten die Männer und Jungen von den Frauen trennten und abtransportierten. Eine deutsche Krankenschwester kam zu den niederländischen UN-Leuten und sagte, direkt vor dem Gelände lägen bereits neun Tote. Trotzdem lieferten Karremans" Soldaten alle Flüchtlinge aus und sagten Nuhanovic, er müsse endlich seine Familie wegschicken. Als er fragte, ob sie nicht wenigstens seinen Bruder in einem UN-Wagen rausschmuggeln könnten, schüttelten die UN-Soldaten den Kopf, sie hätten zu viel Gepäck und deshalb keinen Platz.

Nuhanovic ist heute 45 Jahre alt. Aber er wirkt viel älter. Nicht gebrochen. Er ist auch nicht hinfällig, sondern hat eine nervöse Drahtigkeit an sich. Aber man merkt ihm die ganze Zeit über an, dass er seit 1995 mit dem Tod zusammenlebt. "Jahrelang war da dieser Albtraum: Meine Mutter, die mir sagt, dass sie mich nicht mehr liebt, weil ich meinen Bruder nicht gerettet habe."

Nach dem Krieg machte sich Nuhanovic auf die Suche nach seiner Familie. Wenigstens die Leichen wollte er finden. Wenigstens eigene Gräber sollten sie bekommen. Die Suche dauerte 15 Jahre. 15 Jahre, nur um am Ende zu wissen, dass die Überreste seiner Mutter unter einer Müllkippe verrotteten. In einem Bach am Dorfausgang von Jarovlje. Zusammen mit den Überresten von sechs anderen Leichen. Das Wort Überreste hat in diesem Fall einen makabren Doppelsinn, schließlich haben die Serben die Massengräber immer neu geöffnet und die Leichenberge mit Baggern auseinandergerissen und umgeschichtet, um Spuren zu verwischen. Manche Skelette wurden so über fünf Gräber verteilt. Von seiner Mutter fand Nuhanovic nur einige Rippen. Von seinem Vater immerhin den Schädel. Das Skelett seines Bruder erkannte er an Adidas-Turnschuhen, die er ihm kurz vor dem Massaker geschenkt hatte und die 2010 zum Vorschein kamen.

Wohin mit dem Schmerz? Nuhanovic war zusammen mit einigen der Witwen von Srebrenica Mitbegründer des Memorial Centers in Potocari, für das er auch heute arbeitet. Und er fing seinen Prozess an. Erst gegen die UN. Die aber, so musste er vor Gericht lernen, genießen absolute Immunität. Dann eben gegen den niederländischen Staat. Zusammen mit den Hinterbliebenen von Rizo Mustafic. Mustafic war, obwohl er als Elektriker der UN-Einheit arbeitete, ebenfalls ausgeliefert und anschließend umgebracht worden. Karremans sagte vor Gericht bedauernd, man habe Mustafic "schlichtweg vergessen". Wenn Karremans von Spanien, wo er heute lebt, zum Prozess nach Den Haag flog, schickte er danach seine Flug- und Hotelrechnungen an Nuhanovic. Der musste dann jeweils über 2000 Euro zahlen. Eine niederländische NGO half ihm, er selbst hätte das Geld nie aufbringen können.

Und half ihm denn hier in Bosnien niemand? Gibt es in Sarajevo kein bürgerliches Bündnis, das die Vergangenheit aufarbeitet? Nuhanovic antwortet auf solche Fragen nur mit einem staubigen Lachen. Er hat ja recht, es gibt hier kaum so etwas wie eine bürgerliche Mitte, und "bürgerschaftliches Engagement" scheitert schon daran, dass es hier im Grunde genommen erst mal gar keine Bürger gibt, sondern nur Bosniaken (ein Synonym für Muslime), Kroaten, Serben und "Andere": Man wird ausgerechnet in diesem Land, das wie kein anderes europäisches Land in den letzten Jahrzehnten unter ethnischen Säuberungen gelitten hat, auch heute wieder von Amts wegen ethnisch unterteilt. Wer zu den "Anderen" gehört, also etwa Jude ist oder Roma, darf keine politischen Ämter bekleiden und ist von Verwaltungsposten ausgeschlossen.

Für Nuhanovic kommt hinzu, dass die meisten Menschen einfach nicht mehr an den Krieg erinnert werden wollen. Wenn Nuhanovic in der Parlamentskantine auf Nachfrage hin sagt, dass er für das Memorial in Potocari arbeitet, verstummen die Gespräche. "Klar, den Serben ist es peinlich, aber die Bosniaken wollen auch ihre Ruhe haben." Das stimmt, viele jüngere Leute in Sarajevo winken ab, wenn man ihnen mit dem Krieg kommt, es nervt, es ist vorbei. Dabei stimmt das natürlich nur bedingt: Während Nuhanovic von seinen Erfahrungen erzählt, werden in der Nähe von Prijedor, dort, wo seinerzeit das erste serbische Konzentrationslager stand, Massengräber ausgehoben. "12 Meter tief", sagt Nuhanovic. "12 Meter Körperreste, man muss hier meist sehr tief graben."

Nuhanovic hat selbst tief gegraben: Er hat ein Buch geschrieben, "Under the UN Flag", eine minutiöse Chronologie der Ereignisse in Srebrenica, in dem er das Versagen der UN-Truppen herausarbeitete. Und er hat seinen Prozess durchgestanden. Ein Willensmarathon. Seine Frau sagte irgendwann, er solle endlich aufhören, er alleine könne doch nie gegen ein ganzes Land gewinnen. Hat er dann doch: 2011 gab ihm ein Zivilgericht recht. Die Niederlande gingen daraufhin vor dem Hohen Rat in Den Haag in Berufung, dem höchsten niederländischen Zivil- und Strafgericht. Der aber bestätigte vor wenigen Wochen das Urteil und machte damit den niederländischen Staat für den Tod der drei Männer haftbar. Die Richter argumentierten, nach internationalem Recht sei der entsendende Staat mitverantwortlich für seine Friedenstruppe, auch wenn die unter UN-Mandat operiere. Eine juristische Sensation. Und ein weltweiter Präzedenzfall.

Der Prozess endlich gewonnen, die Überreste seiner Familie gefunden und zu Grabe getragen. Der Kriegsverbrecher Ratko Mladic sitzt in Den Haag im Gefängnis. Nuhanovic hat das Memorial in Potocari mitgegründet und sein Buch fertig geschrieben - ist denn nun für ihn der Kampf vorbei? "Wie sollte er?", sagt Nuhanovic und zeigt rüber zum Parlamentsgebäude. "Sechs Stockwerke über mir hat Radenko Stanic sein Büro." Nuhanovic starrt nach oben, als könne er Stanic über seinem Kopf herumlaufen sehen. "Der sitzt nur ein paar Meter über mir. Im Sicherheitsministerium."

Stanic war während des Krieges Polizeichef von Vlasenica, einer Stadt, in der Hunderte Bosnier ermordet wurden. Augenzeugen behaupten, Nuhanovics Mutter sei ebenfalls in Vlasenica getötet worden. "Wie halten Sie das aus, wenn Sie dem begegnen?" "Ich weiß zum Glück nicht, wie er aussieht. Ich will es auch nicht wissen. Weil ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren würde, wenn ich ihm gegenüberstehe. Aber es geht mir nicht um Stanic. Sondern darum, dass Hunderte Kriegsverbrecher in diesem Land unbehelligt herumlaufen dürfen."

Zwei Tage nach dem Treffen steht in den Zeitungen, dass zehn bosnisch-serbische Kriegsverbrecher "aufgrund von Verfahrensfehlern in ihren Prozessen" freigelassen wurden.

"Wie ein Kartenhaus"

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Während Helfer mit Spürhunden in den Trümmern noch nach Opfern suchen, haben Anwohner davor schon Kerzen und Blumen aufgestellt. Lettland steht unter Schock, seit ein Einkaufszentrum in der Hauptstadt Riga am Donnerstag eingestürzt ist. Mehrere Dutzend Tote und Verletzte wurden bis zum Freitag aus den Trümmern geborgen, viele weitere Menschen galten als vermisst. Der lettische Innenminister Rihards Kozlovskis sprach von einem "tragischen und schwarzen Tag in der Geschichte Lettlands", Regierungschef Valdis Dombrovskis forderte sein Volk im Fernsehen dazu auf zusammenzuhalten und kündigte eine dreitägige Staatstrauer ab Samstag an.



Trauer und Beileidsbekundungen vor der Ruine des Supermarktes.

Das Dach des erst 2011 eröffneten Maxima-Einkaufszentrums war am Donnerstagnachmittag zur Haupteinkaufszeit auf einer Fläche von rund 500 Quadratmetern eingebrochen. Das Gebäude stürzte daraufhin "wie ein Kartenhaus" ein, sagte der stellvertretende Bürgermeister Andris Ameriks. Zeugen berichteten von einem lauten Knall, danach sei es in dem Supermarkt dunkel geworden. Menschen brachten sich durch die Fenster in Sicherheit. Wie viele Opfer unter den Trümmern begraben wurden, wird man wohl erst nach Ende der Aufräumarbeiten wissen. Am Freitagabend schwankten die Angaben unterschiedlicher Behörden zwischen 33 und 43 geborgenen Toten. Die Polizei rechnete zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben mit bis zu 40 noch nicht gefundenen Verschütteten.

Internationale Fernsehsender zeigten den ganzen Freitag über Bilder von Helfern, die Opfer aus den Betontrümmern trugen, von Spürhunden, die zwischen zerborstenen Stahlträgern nach Vermissten suchten. Und von aufgelösten Kunden und Angestellten des Marktes auf der Suche nach Kollegen und Angehörigen.

Warum das Dach des neuen Gebäudes eingebrochen war, konnte zunächst niemand sagen. Medienberichten zufolge war es erst kürzlich renoviert worden. Einige Zeugen berichteten im lettischen Fernsehen von einer Explosion, andere von einem Alarmsignal, das vor dem Einsturz zu hören gewesen sei. "Wir untersuchen, ob dies möglicherweise von der Gebäudeverwaltung vernachlässigt wurde", sagte ein Polizeisprecher. Die Ermittlungen gegen den Markt-Besitzer seien eingeleitet.

Einen Terroranschlag schloss Innenminister Kozlovskis als Ursache aus. Er gehe davon aus, dass nicht eingehaltene Bauvorschriften zu dem Einsturz geführt haben. Die Behörden seien angewiesen, alle im Bau befindlichen Projekte des zuständigen Unternehmens zu überprüfen. Auch der lettische Polizeichef äußerte die Vermutung, das neue Gebäude sei falsch geplant oder konstruiert worden. Als weitere mögliche Ursache sind Bauarbeiten am Dach des Gebäudes im Gespräch. Kurz vor dem Einsturz sei eine große Menge Erde auf das Flachdach gebracht worden, weil dort ein bepflanzter Wintergarten entstehen sollte, berichten Medien.

Unter den Toten sind auch drei Feuerwehrmänner, mindestens zehn weitere Helfer wurden bei dem Einsatz verletzt. Sie sollen von einem weiteren Einsturz überrascht worden sein, als sie am Unglücksort eintrafen. Ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes sprach von einer sehr komplizierten und gefährlichen Hilfsaktion. Es sei noch immer nicht auszuschließen, dass noch stehende Teile einstürzen.

Das nächste große Ding

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Wer wissen will, ob es die Gründerszene in Berlin wirklich mit der im Silicon Valley aufnehmen kann, ist bei René Schuster ganz gut aufgehoben. Der Mann wurde in New York geboren, arbeitete lange im Silicon Valley, lebt nun in Deutschland - und schmiedet gerade als Chef von Telefónica Deutschland aus O2 und E-Plus einen der größten Mobilfunkanbieter des Landes.



Auch Twitter startete als kleines Start-up. Heute kommt keiner mehr daran vorbei. Warum gelingt deutschen Firmen kein solcher Aufstieg?

Also alles gut? Die Zahlen, die Schuster mitgebracht hat, sind ernüchternd: Fast die Hälfte des weltweit verfügbaren Wagniskapitals landet noch immer im Silicon Valley. Berlin? Weit abgeschlagen.

Dabei tut sich einiges in der deutschen Hauptstadt: Die Start-up-Szene beschäftigt in der Stadt inzwischen mehr als 60000 Menschen - und ist für die hiesige Wirtschaft somit schon heute wichtiger als das Baugewerbe. Bis 2020 könnten in Berlin laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey mehr als 100000 neue Arbeitsplätze durch junge Unternehmen entstehen.

Es gibt also auch in Deutschland inzwischen durchaus Menschen, die etwas wagen. Die sich statt für eine Karriere in einem Konzern für den eigenen Traum entscheiden, statt für den sicheren Bürojob für das Risiko. Und es gibt inzwischen durchaus auch einige Internetdienste, die von Berlin aus die Welt erobert haben. Und doch sind diese Unternehmen noch eine ganze Nummer kleiner als Amazon, Google oder Facebook. Woran das liegt? Das Geld der Risikokapitalgeber sitzt in Europa nicht so locker, wie Schuster sagt. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Internetunternehmen von Weltrang noch immer aus dem Silicon Valley kommen - und eben nicht aus Berlin. Immerhin, da tut sich was: Im vergangenen Jahr investierten deutsche und ausländische Wagniskapitalgeber in Berlin 133 Millionen Euro in Start-ups - so viel wie in keinem anderen Bundesland. Zum Vergleich: In Bayern waren es nur 19 Millionen Euro. Auf eine Betriebsgründung in München kommen 2,8 in Berlin. Auch wenn es um den Zuzug neuer Unternehmen aus dem In- und Ausland geht, zählt Berlin zu den führenden Regionen Europas. Markus Stiefel mag München trotzdem mehr als Berlin. Es ist die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Und es ist die Stadt, in dem er nun auch sein Unternehmen Pockets United gegründet hat, das Leuten hilft, Rechnungen per App gemeinsam zu begleichen, eine Art gemeinsame Geldbörse.

Stiefel teilt sich mit einigen anderen Tüftlern eine große Büroetage mit Blick auf die Frauenkirche. Laptops und bunte Stellwände; Küchenzeile und sogar eine Sprossenwand. Das Büro sowie einen Zuschuss von bis zu 50000 Euro stellt der Mobilfunkkonzern Telefónica Stiefel und den anderen Gründern natürlich nicht ganz selbstlos. Denn Telefónica ist, ebenso wie andere große Konzerne, auf die frischen Ideen angewiesen. Deshalb erwirbt Telefónica im Gegenzug für die Starthilfe einen Anteil an den Firmen. Schlägt die Idee ein, steigt dessen Wert rasant, und der Konzern kann den Anteil versilbern. Wagniskapital heißt das.

Bei Telefónica hat man durchaus auch überlegt, ob man das große Büro für Gründer, das sie Wayra Academy nennen, nicht in Berlin eröffnen sollte. Ob man dort nicht näher dran wäre an der Gründerszene. Warum sie sich schließlich für München entschieden haben? Weil sie, wie Markus Stiefel, davon überzeugt sind, dass auch an den Münchner Hochschulen gute Ideen geboren werden. Weil sie selbst ihren Sitz in München haben und ihnen der regelmäßige Austausch zwischen den Tüftlern und den Managern wichtig war. Und weil München insgesamt eben doch wirtschaftlich besser da steht als Berlin. Die Gründerteams sollen in dem halben Jahr auf der Wayra Academy nämlich Investoren für eine Anschlussfinanzierung finden. Und da ist es durchaus ganz praktisch, wenn man sechs Dax-Konzerne vor der Haustür hat. "Deutschland hat gute Ingenieure, aber zu wenige Unternehmer", sagt Schuster. "Wir müssen den Leuten auch beibringen, dass es keine Schande ist, wenn sie scheitern."

Frank Briegmann gehört zu denen, die sogar schon tot gesagt wurden. Er verantwortet das Europageschäft für den Musikkonzern Universal. Wenn ihm jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass in seinem Telefon Millionen von Songs stecken? Er hätte nichts davon geglaubt. Heute arbeitet sein Label auch mit Spotify zusammen, bei dem man einen Song nicht mehr kauft, sondern leiht. "Man muss sich trauen", sagt Briegmann. Klingt einfach, ist aber gerade für eine etablierte Branche wie seine ziemlich schwierig. Wie man diesen Wandel schafft? Man muss sich öffnen, sagt Briegmann. Partner suchen - und neue Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Merchandising, zum Beispiel. "Wenn jemand noch ein Justin-Bieber-T-Shirt für seine Kinder kauft, dann verdienen wir auch daran", sagt Briegmann.

Sehr britisches Alien

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Wenn man begreifen will, zu was für einem Generationen übergreifenden Pop-Phänomen sich die Fernsehserie Doctor Who in Großbritannien entwickelt hat, muss man nur dem Schulwegs-Gespräch zweier x-beliebiger englischer Neunjähriger lauschen. Da ist von Tardis die Rede, von Daleks, von Cybermännern und, natürlich, The Master. Für Uneingeweihte klingt das so undurchdringlich wie so ziemlich jedes spezialistische Fan-Gespräch. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Eltern und Großeltern (vor allem: Väter und Großväter) besagter Grundschüler auch "Whovians" sind und genau so gut Bescheid wissen über die Doctor-Who-Mythologie wie die Kinder.



Das verngesteierte Flugobjekt "Tardis" wurde von Otto Dieffenbach extra für den 50. Geburtstag von Dr. Who entworfen.

An diesem Samstag feiert die BBC-Serie mit einem luxuriösen Special ein halbes Jahrhundert ihres Bestehens. Damit wird eine Institution 50, die auf ihre Art so britisch ist wie Tee und Toast. Gerade hat die Royal Mail eine Doctor Who-Sondermarken-Edition herausgebracht. Die Serie mit ihren mittlerweile mehr als 800 Folgen hat sich zum Exportschlager entwickelt, Senderechte in mehr als 50 Ländern und eine unüberschaubare Flut von Merchandising-Artikeln spülen Hunderte Millionen Pfund in die BBC-Kassen. Nur Star Wars und Star Trek spielen in derselben Liga.

Die BBC sendete die erste Folge von Doctor Who 1963, dem Jahr, in dem das National Theatre gegründet wurde und die Beatles ihren ersten Nummer-eins-Hit landeten. Damals hätte kaum jemand vorhergesagt, dass diese Familienserie einmal im gleichen Atemzug mit solch einschneidenden Ereignissen der britischen Nachkriegskultur genannt werden würde. Am Tag vor der ersten Ausstrahlung am 23. November war der amerikanische Präsident John F. Kennedy ermordet worden; Doctor Whos Premiere schlug keine großen Wellen. Ursprünglich war die Serie als Kinderprogramm gedacht, das wissenschaftliche Themen und historische Ereignisse für ein junges Publikum unterhaltsam aufarbeiten sollte - "Science-Fiction" eben.

Die Grundidee hat sich bis heute nicht wesentlich geändert: Ein sogenannter Time Lord, ein humanoides Alien vom Planeten Gallifrey, reist durch Geschichte und All, und zwar mit einer Zeitmaschine namens Tardis, die von außen wirkt wie die in den Sechzigerjahren noch gebräuchlichen britischen Polizei-Notrufzellen. Dabei kämpft er, stets von wechselnden weiblichen Mitstreitern begleitet, gegen unzählige bizarre Gegner: feindliche Aliens, irre Wissenschaftler, steinerne Engel und vernunftbegabten Seetang. Seine wichtigste Waffe ist dabei sein "Schallschraubenzieher", mit dem er jede Maschine reparieren, verschlossene Türen öffnen und sogar Verletzungen heilen kann. Seine hartnäckigsten Gegner sind die Daleks, erzböse Cyborgs, deren größte Schwäche es ist, keine Treppen benutzen zu können. Der Doktor - sein Name ist ein Geheimnis - war bei der Schlacht von Hastings dabei, half Shakespeare, Hamlet zu schreiben, und wurde Zeuge des großen Londoner Feuers 1666. Letzteres wurde übrigens nicht, wie die Geschichtsbücher behaupten, von einem unbewachten Backofen, sondern von bösen Reptilien aus dem All verursacht.

Im Laufe der Jahre ist der Doktor von elf Schauspielern dargestellt worden. Für Kontinuität sorgt der erzählerische Kniff, dass sich ein "Time Lord" nach seinem Tod regenerieren kann. Wer der beste Doktor war, darüber führen die "Whovians" hitzige Debatten. Der erste wurde jedenfalls vom habichtgesichtigen William Hartnell dargestellt und war ein recht autoritärer Knochen. Favorit vieler ist der energiegeladene David Tennant, die zehnte Inkarnation. Der aktuelle Doktor, Matt Smith, schlüpfte als bisher jüngster Darsteller in die Rolle. Allen war gemein, dass sie den Doktor mit reichlich Exzentrik versahen: Er ist Inbegriff inspirierten Amateurtums, und er liebt Kricket. Ein sehr britisches Alien.

Ein bisschen geschummelt ist das mit den 50 Jahren allerdings schon. Denn 1989 waren die Einschaltquoten der Serie so gesunken, dass sie abgesetzt wurde. Erst 2005 startete der Drehbuchautor Russel T.Davies die Neuauflage. Mit ihrem großzügigen Budget und komplexen Drehbüchern ist die Serie seitdem der ganze Stolz der BBC. In Deutschland war dem Doktor vergleichsweise geringer Erfolg beschieden. Das ZDF entschied sich 1968 gegen einen Ankauf, die Ausstrahlung der neueren Staffeln bei RTL und Pro Sieben machten kaum Quote. Deutsche "Whovians" sind auf den Bezahlsender Fox angewiesen.

An diesem Samstag, dem "Day of the Doctor", werde sich die ganze Richtung der Erzählung ändern, hat der amtierende Drehbuch-Chef Steven Moffat angekündigt. Der Rest der Jubiläumsfolge ist so geheim wie der Name des Außerirdischen von Gallifrey.

Königreich der Sklaverei

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Nach der Enthüllung des spektakulärsten Falles moderner Sklaverei in der jüngeren britischen Geschichte werden im Land vor allen Dingen zwei Fragen gestellt. Erstens: Was genau ist den drei Frauen widerfahren, die 30 Jahre lang gegen ihren Willen im Süden Londons gefangen gehalten wurden? Zweitens: Könnte es sein, dass es im Vereinigten Königreich noch viel mehr Menschen gibt, die als Haussklaven und Zwangsarbeiter leben müssen? Das zumindest legen Mitarbeiter verschiedener Hilfsorganisationen nahe.



Antworten kann Scotland Yard noch keine geben. Auch nicht auf die Frage, warum die mutmaßlichen Täter bereits wieder in Freiheit sind.

Am Freitagnachmittag äußerten sich Ermittler von Scotland Yard erneut zu dem erschütternden und in Teilen rätselhaften Fall. Die Angaben der Polizisten brachten jedoch wenig Licht ins Dunkel, sie warfen sogar eher neue Fragen auf.

Sicher ist bisher, dass eine 69 Jahre alte Frau aus Malaysia, eine 57 Jahre alte Irin und eine 30 Jahre alte Britin jahrzehntelang in einem Wohnhaus im Londoner Stadtteil Lambeth in Gefangenschaft gelebt haben. Den Angaben zufolge wurden sie von einem nicht-britischen Ehepaar festgehalten. Die 67 Jahre alten Eheleute sind am Donnerstag festgenommen und in der Nacht zum Freitag gegen Kaution bis Januar wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Zu den Gründen für die rasche Freilassung machte die Polizei keine Angaben. Dafür teilte sie am Freitag mit, dass das Paar in den Siebzigerjahren schon einmal verhaftet worden sei, ohne jedoch den Grund für die damalige Verhaftung zu nennen.

Unklar bleibt, wie die Frauen in die Fänge des Paares geraten sind. Besonders rätselhaft ist das im Fall der 30 Jahre alten Britin. Ist sie in dem Haus in Lambeth geboren worden? Wer sind ihre Eltern? Offenbar hatte die junge Frau in ihrem bisherigen Leben keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Alle drei Frauen werden als "zutiefst traumatisiert" beschrieben. Sie sind nun in Obhut der "Freedom Charity", die sich um Opfer von Zwangsehen und moderner Sklaverei kümmert.

Die Gründerin und Chefin von Freedom Charity, Aneeta Prem, berichtet, seit Donnerstag würden mehr und mehr Frauen bei der Organisation anrufen, die erzählen, in ähnlichen Zwangslagen leben zu müssen. Die Anrufer seien durch die Berichterstattung über die Befreiung der drei Frauen ermutigt worden. Unter Umständen könnten also in Kürze weitere, ähnlich gelagerte Fälle ans Licht kommen. Einem Bericht des "Zentrums für soziale Gerechtigkeit" zufolge leben mindestens 1100 Menschen in Großbritannien als Sklaven; sie würden in Privathaushalten, auf Farmen oder in Bordellen zur Arbeit gezwungen. Es gebe jedoch eine hohe Dunkelziffer. Die Hilfsorganisation "Walk Free Foundation" schätzt die Zahl der Menschen, die als Sklaven im Königreich leben, auf rund 4500.

Bei der Befreiung der drei Frauen spielten Aneeta Prem und ihre Organisation Freedom eine zentrale Rolle. Die Frauen hatten Prem öfter im Fernsehen gesehen und Vertrauen gefasst. Schließlich rief die 57 Jahre alte Irin im Oktober die Hotline von Freedom an. In mehreren Gesprächen gelang es, die Irin und die Britin am 25. Oktober zum Verlassen des Hauses zu bewegen. Die Frau aus Malaysia wurde anschließend von der Polizei gerettet. Dass es danach so lange bis zur Festnahme des Ehepaars dauerte, erklärte die Polizei damit, dass die traumatisierten Frauen mit äußerster Vorsicht befragt worden seien. Noch immer versuche man zu rekonstruieren, was genau geschehen sei.

Laut Scotland Yard sind die Frauen regelmäßig geschlagen worden. Nach bisherigen Erkenntnissen wurden sie nicht sexuell missbraucht. Sie hätten das Haus zum Wäscheaufhängen verlassen dürfen, die beiden älteren Frauen durften wohl unter Aufsicht hin und wieder einkaufen gehen. Offenbar hat eine der Frauen in der Gefangenschaft einen Schlaganfall erlitten; medizinische Behandlung wurde ihr verweigert. Die 30 Jahre alte Britin sei zudem ohne jegliche Bildung aufgewachsen. Die Er-mittler sagten am Freitag, die Frauen hätten in großer Angst und mit "unsichtbaren Handschellen" gelebt. Aneeta Prem sagte, den Frauen stehe nun eine "lange Reise" auf dem Weg in die Normalität bevor: "Wenn man sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht hat, dann hat man keinen Begriff von Freiheit. Es wird ein schwieriger Prozess."

Die britische Regierung zeigte sich schockiert über den Fall. Bereits im September hatte sie die Einführung eines neuen Anti-Sklaverei-Gesetzes fürs kommende Jahr angekündigt - mehr als 200 Jahre, nachdem die Sklaverei im Vereinigten Königreich verboten worden ist.

Die Roboter von Amazonien

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„Work hard. Have fun. Make history" – das klingt doch eigentlich ganz gut.
Jean-Baptiste Malet: Dieser Slogan ist in allen Amazon-Lagerhallen der Welt plakatiert. Er ist geradezu symbolisch für das totalitäre Arbeitssystem, das Amazon errichtet hat. Er soll die Vorstellung von einem Arbeitgeber wecken, bei dem man zwar ordentlich schuften muss, der einen aber auch aufblühen lässt und zu historischen Taten beflügelt. In Wirklichkeit schafft das nur eine neue Form des Kollektivismus. Vor Arbeitsbeginn feuern die Manager die Arbeiter in euphorischen Reden an, „sich selbst zu übertreffen". Sie sollen „Top Performer" werden, denen dann alle applaudieren müssen. Und all das, obwohl es sich um eine anstrengende, unangenehme, unqualifizierte Arbeit handelt, die man nur sehr schwer länger als fünf Jahre durchhält. Viele der Amazon-Mitarbeiter sind körperlich ausgelaugt, vom Ingenieur bis zum Lagerarbeiter.

Und worin besteht dann das „Have fun"?
Darin, dass den Mitarbeitern Bonbons und Schokolade angeboten werden. Manchmal werden auch Tombolas veranstaltet, oder die Angestellten sollen verkleidet zur Arbeit kommen. Absurd. Doch neben diesem „Zuckerbrot" fehlt nie die Peitsche: Ihre Produktivität wird gespeichert. Und sie erhalten schriftliche Mahnungen, wenn sie sich nicht mehr steigern. Sie werden vorgeladen und müssen über ihre vermeintliche Langsamkeit Rechenschaft ablegen – oder gleich ihre Sachen packen. Da bringen auch diese Momente künstlicher guter Laune nichts.

„Die Vorgabe lautete: Arbeite schneller als am Tag zuvor."



Sie haben sich über eine Zeitarbeitsfirma bei Amazon einstellen lassen. Wie sah Ihr Arbeitsalltag dort aus?
Es gibt dort zwei Arten von Jobs: Die „Picker" sammeln die verschiedenen Produkte ein, die die „Packer" dann einpacken. Ich habe als Picker in der Nachtschicht gearbeitet, von 21.30 Uhr bis 4.50 Uhr bin ich oft mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Mein Stundenlohn lag bei 9,72 Euro brutto. Vor jeder Schicht kündigten die Manager die Produktivitätsziele an, im Schnitt sollte ich zwischen 120 und 130 Artikel pro Stunde erreichen. Die Vorgabe lautete: Arbeite schneller als am Tag zuvor.

Wie wird das überprüft?
Die Arbeiter werden ständig überwacht – durch einen kleinen Scancomputer, mit dem sie die Waren einlesen und die Standorte der Artikel abfragen. Die Maschine hängt an einem WLAN-Netzwerk und teilt dem Chef die exakte Position jedes Arbeiters mit. Auch der Arbeitsrhythmus und die Produktivität werden sekundengenau aufgezeichnet.

Nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Genau. Und weil jeder Amazon-Mitarbeiter als potenzieller Dieb gilt, wird er jedes Mal durchsucht, wenn er die Lagerhalle betritt oder verlässt. Das kann bis zu vierzig Minuten dauern und geht von der Freizeit der Angestellten ab.

Warum wissen wir denn so wenig über die Arbeitsbedingungen?
Amazon France weigert sich, mit der investigativen Presse zu kommunizieren. Das Unternehmen schweigt über zahlreiche Arbeitsunfälle und verweigert Besuche von Journalisten auf dem Firmengelände. Die Fabrikhallen liegen meistens weit abseits, versteckt vor den Augen der Internetkunden und geschützt durch Stacheldrahtzäune wie etwa in Bad Hersfeld in Hessen. Die Leute, die ich an den Werktoren in Montélimar befragen wollte, waren alle verängstigt und wollten nicht mit mir reden.

Verängstigt?
Laut Firmenordnung gilt für die Arbeiter die absolute Schweigepflicht. Dabei haben sie keinerlei Zugang zu irgendwelchen Betriebsgeheimnissen. Was sie verschweigen sollen, sind die Unerträglichkeit und die Härte der Arbeit. Mehrere Artikel im französischen Arbeitsgesetzbuch zeigen, dass Amazons Forderungen an seine Mitarbeiter illegal und unbegründet sind. Eine solche Schweigepflicht darf nur zum Schutz von Firmengeheimnissen angewendet werden – nicht zur Verschleierung schlechter Arbeitsbedingungen.

Deshalb haben Sie sich entschieden, selbst dort anzuheuern?
Ja, weil ich finde, dass der Internetnutzer das Recht und die Pflicht hat zu wissen, wie seine Bestellungen bearbeitet werden und worin das Geheimnis von Amazons Effizienz besteht. Und welchen Preis sie hat.

 „Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt."



Wie wirken sich die Arbeitsbedingungen auf das Verhältnis unter Kollegen aus?
Man begegnet nicht mehr wirklich Kollegen, sondern abgestumpften Robotern, die aussehen wie Menschen. Amazon verwendet das sogenannte 5S-Management in seinen Lagern. Dieses System stammt aus Japan und lässt sich auf Deutsch mit 5A übersetzen: Aufräumen, Aussortieren, Anordnungen befolgen, Arbeitsplatz sauber halten – und „Anomalien signalisieren". Das kann ein Karton sein, der einen Eingang verstopft – aber auch zwei Kollegen, die die Regeln missachten. Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt. Sie ist ein Mittel, um in der Hierarchie aufzusteigen. Das vergiftet das Klima unter den Arbeitern total, die meisten meiner Kollegen haben richtig schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Manche wurden von ihren Mitarbeitern verraten, weil sie während der Arbeit geredet haben, und stehen seither unter besonderer Beobachtung. Sie wissen bis heute nicht, wer sie angeschwärzt hat.


Manche Politiker sagen: Immerhin schafft Amazon Arbeitsplätze.
Das ist ein Trugschluss. Jedes Mal, wenn Amazon bei einer Lagereröffnung lokal Stellen „schafft", zerstört das Unternehmen gleichzeitig unzählige Arbeitsplätze im traditionellen Handel der Umgebung. Meine Studien zeigen, dass Amazon für dieselbe Anzahl an verkauften Büchern 18-mal weniger Arbeiter braucht als ein unabhängiges Buchgeschäft. Das ist vor allem schlimm für die Buchläden, aber diese Konkurrenz trifft den ganzen Einzelhandel – all die Geschäfte, die nicht nur Geldquellen für Arbeitnehmer sind, die Steuern zahlen, die Innenstädte beleben und vor allem soziale Kontakte möglich machen. Und keine Roboter beschäftigen.

Was zeichnet für Sie einen guten Arbeitgeber aus?
Ein guter Arbeitgeber geht auf die Bedürfnisse seiner Mitarbeiter ein, lässt sie Kollegen sein und nimmt sie nicht aus. Er etabliert keine Systeme, in denen Denunziation gefördert wird und der Einzelne in der Masse untergeht. Amazon ist nicht an einer humanen und sozialen Wirtschaft interessiert oder am Respekt gegenüber seinen Arbeitnehmern. Es geht nur um den maximalen Profit – auch wenn man dafür die menschliche Würde des Arbeitnehmers opfern muss.

Welche Auswirkungen wird es haben, wenn Amazon nichts an seinen Arbeitsbedingungen ändert?
Ich bin kein Hellseher, aber ich glaube, dass die Gewerkschaften sich immer mehr wehren werden. In Deutschland hat ver.di gezeigt, dass es möglich ist, viele Menschen dafür zu mobilisieren. Sie haben erkannt, welchen psychologischen Krieg Amazon führt, und widersetzen sich konsequent mit Arbeitsniederlegungen. Amazon hört seinen Arbeitern nur zu, wenn sie streiken. So wie es aussieht, wird dies das einzige Kampfmittel sein – zumindest solange die Internetkunden dort noch einkaufen.
 

Mädchen, wie beschimpft ihr euch?

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Die Jungsfrage:



Mädchen, kennt ihr eigentlich Reinhold Aman? Das ist ein interessanter Mann, er ist nämlich Herausgeber der Zeitschrift Maledicta und Sprachforscher mit ungewöhnlichem Spezialgebiet, er befasst sich vor allem mit Schimpfwörtern. Und ich würde ihn ganz gerne mal auf euch loslassen.  

Euer Umgang mit Schimpfwörtern, vor allem mit solchen, die sich gegen eure Geschlechtsgenossinnen richten, gibt mir nämlich Rätsel auf. Euer Schimpfwortschatz scheint mir wesentlich filigraner bestückt zu sein als unserer. Ich habe außerdem das Gefühl, als würdet ihr auch wählerischer damit umgehen.

Wenn wir andere Jungs anschnauzen oder schlecht über sie reden, tun wir vor allem eins: draufhauen. Unser Fluchverhalten lässt sich sowieso ganz gut mit dem Boxsport vergleichen. Da kann man soweit ich weiß eine rechte oder linke Gerade hauen, einen rechten Haken oder einen linken, und dann gibt es noch ein paar kleine Abwandlungen wie den Aufwärtshaken. Das sind nicht viele Varianten, und sie sollen, naja, weh tun halt. Sie sind austauschbar und unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, wie fest geschlagen wird. Ob wir jemanden ein Arschloch oder einen Wichser nennen, ist tendenziell egal. Es kommt darauf an, wie wir es tun.  

Bei euch, so vermute ich, ist das anders. Ich glaube, eure feiner ausgeprägten Menschensensoren machen sich auch bei eurer Schimpfwortwahl bemerkbar. Ihr teilt nicht einfach mit Fäusten aus, ihr wählt die passende Waffe.  

Nur wie läuft das genau ab? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Ziege, Zicke und blöder Kuh? Wann ist ein Mädchen eine Schlampe und wann eine Drecksau? Gibt’s da feste Eskalationsstufen? Falls ja: Kann es sein, dass die „blöde Fotze“ da ganz oben steht? Und warum eigentlich die und nicht zum Beispiel die „blöde Möse“? Ja wohl kaum wegen einer Beeinträchtigung der Klangästhetik aufgrund zu vieler „Ö“. Und scheut ihr euch eigentlich, euch mit maskulinen Schimpfwörtern zu versehen? Ich habe das Gefühl, ihr nennt einander sehr viel seltener Depp oder Idiot als wir. Also, Mädchen: Bringt doch mal ein bisschen Ordnung in das Fluchwirrwarr!

[seitenumbruch]
Die Mädchenantwort von martina-holzapfl



Einen filigraneren Umgang mit Ärger, Fluchen und Verfluchen würde ich uns nicht unbedingt attestieren. Wenn wir sauer sind, hauen wir raus, was raus will. Manchmal sagen wir „So'ne dumme Fotze, echt hey", merken aber erst später, dass das mindestens fünf Nummern zu groß war und wir eigentlich „Blöde Kuh" meinten. Wie ihr an diesem Beispiel schon seht: Ja, es gibt eine Hierarchie der Schimpfwörter.

Zuerst solltet ihr aber wissen, dass wir über die, die wir lieben, nicht sehr böse lästern. Jedenfalls nicht ohne es sofort danach reuig zu relativieren. Und ins Gesicht fluchen wir denen schon gar nicht. Na gut, vielleicht im engsten Familienkreis, unter Geschwistern zum Beispel. Da fallen wir sowieso in maximal-infantile Streitmuster zurück. Aber sonst wissen wir uns zu beherrschen. Wenn jemand, den wir eigentlich mögen, richtig Mist baut, bemühen wir uns eher um schnellstmögliche rationale Konfliktbehebung, und das klingt dann eher nach Therapeutenpraxis als nach RTL 2.

Das Böse-über-jemanden-Herziehen betrifft nur Leute, mit denen wir widerwillig und zwangsweise bekannt sind. Durch einen gemeinsamen Job oder eine Ausbildung etwa, oder weil sie Freunde von Freunden sind, mit denen wir uns nie im Leben befreunden würden, deren Gegenwart wir aber leider hin und wieder aushalten müssen. Bei ihnen ist es egal ist, wie wir sie finden und wie sie uns finden. Es ist egal, dass wir lästern und nicht die offene Konfrontation suchen. Wir wollen ja sowieso keinen gemeinsamen Nenner. Nennen wir sie hinterm Rücken Fotze, Schleimärschin, wichtigtuerische Brillenschlange, talentfreie Anbiederin, krasse Langweilerin, alte Uschi, öde Tante, Kuh oder sonstwie, kann das sehr wutlindernd sein. 

Nun zur Wortwahl selbst: Relativ weit oben steht natürlich unbedingt Fotze. Eine Fotze ist eine, die wir hinterfotzig finden - das sagt das Wort schon. Sie ist zickig und hinterhältig, eine, der man alles zutrauen würde. Fotze sagen wir nur, wenn wir jemanden hundertprozentig nicht leiden können. Trotzdem sagen wir es natürlich niemandem ins Gesicht, so wie man die meisten schlimmen Flüche niemandem mehr ins Gesicht sagt, wenn man älter als 15 Jahre ist. Das F-Wort ist uns trotzdem immer gleich nach dem Aussprechen ein bisschen peinlich, weil es schon ganz schön prollig ist. Das ist aber auch der Grund, warum ausgerechnet dieses Wort am oberen Ende unserer Fluchskala liegt und nicht irgendeine der vielen anderen Vaginalbezeichnungen. Es klingt schon aus sich selbst heraus fies und ein bisschen wie Rotze und Kotze - da kann ein etymologisches Weichei wie "Möse" nach Hause gehen.

Schauen wir weiter: Eine Schlampe ist etwas Ähnliches wie eine Fotze, aber das Wort ist so plump und sexuell konnotiert, dass wir es eigentlich nicht benutzen. Höchstens für eine, die uns auf mieseste Weise die Liebe unseres Lebens ausgespannt hat.

Bei der blöden Kuh wird es schon interessanter, weil viel differenzierter. Die blöde Kuh kann, abfällig betont, eine genauso schlimme Person sein wie die Fotze, nur nicht so fies und intrigenpotent. Von einer blöden Kuh geht keine Gefahr aus, sie ist einfach nur etwas doof, nervt und ermüdet. Blöde Kuh aber darf auch zu einer Freundin gesagt werden, und dann heißt es einfach nur: Oh nö, das tut mir weh/das nervt, sei nicht so/hör auf damit! Zum Beispiel, wenn sie einen erneut hängen lassen oder wieder was verloren hat, was man ihr geliehen hat. Es muss aber unbedingt milde ausgesprochen werden, etwas schlaff und traurig. Und das kann ihr dann auch, im Gegensatz zu anderen schlimmen Beschimpfungen, direkt ins Gesicht gesagt werden. Es darf nur wirklich keinesfalls vorwurfsvoll und beleidigt klingen, denn es muss ja eine Vorlage sein, um den Konflikt rational aus dem Weg zu räumen. 

Eine Zicke ist eine ziemlich spitzfindige, schnippische Person, die nur darauf wartet, eingeschnappt sein zu können. Das gehört bei so einer ein bisschen zum Lebensgefühl: Missverständnisse, Vorwürfe, Überheblichkeit! Zicke aber ist oft nur ein Charakterzug, etwas, das man jemandem, der sonst toll ist, schon mal verzeihen kann. Man kann einer Freundin deshalb höflich und liebevoll ins Gesicht sagen, dass sie manchmal eine ganz schöne Zicke ist.

Und dann gibt es noch die Ziege. Eine Ziege ist nicht so aufgeweckt wie die Zicke, sie ist eher tantig, etwas träge, aber dauernd kompliziert, hat über alles ziemlich versteifte Meinungen und kommt nicht auf die Idee, dass auch andere Standpunkte ihre Berechtigungen haben. Mit richtigen Ziegen will man eigentlich nichts zu tun haben. Man kann jemanden aber trotzdem liebevoll Ziege nennen, aber das muss dann schon wirklich ironisch betont werden oder sehr liebend. Und wenn man dann noch drüber lachen kann, dann ist man auch keine echte Ziege.

Das waren jetzt nur die Klassiker. Am meisten Spaß macht es immer noch, ein ganzes Hasspaket rund um eineder gemeinen Bezeichnungen zu schnüren. Zum Beispiel: "Diese hirnverbrannte Scheißkackfotzenhurenkuhbratze, ich kann sie nicht leiden, wer hat der eigentlich die Existenz erlaubt?!?" Viel zu krass, findest du? Harr! Ist es nicht. Fluchen ist nämlich herrlich gesund. Sagt auch Reinhold Aman. 

Jetzt dreht er durch, der Pharrell Williams!

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The Notwist – Close To The Glass
Zu allererst mal eine sehr gute Nachricht, die diese Woche in unser Redaktionsstübchen kam: The Notwist machen ein neues Album. Es soll im Februar erscheinen, samt Tour und allem. Vorab kann man ein bisschen was auf Soundcloud hören – gewohnt knack-, knister- und fieplastig. Aber halt auch wieder ziemlich super.  
http://soundcloud.com/subpop/the-notwist-close-to-the-glass    

Vögel die Erde essen – Hitchcock

Die Pedanten unter uns haben bemerkt, dass im Bandnamen ein Komma fehlt. Und gleich angemerkt, dass dieser Bandname ja eh seltsam sei. Aber wir bitten den Pedanten, jetzt bitteschön die Klappe zu halten. Weil irgendwie gefällt uns sehr, wie diese Vögel daherkommen und ein bisschen schreien und den Bass furzen lassen und Chaos propagieren. Das ist vielleicht keine musikalische Meisterleistung, aber sehr stimmig. Den Pedanten sei übrigens gesagt: Die Vögel sind ein neues Projekt (EP-Release 29.11.) von Moritz Bossmann. Der spielt sonst Gitarre bei Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi. Und das erklärt dann auch den Bandnamen und das fehlende Komma.
http://www.youtube.com/watch?v=HkN7vaW5rP8&feature=youtu.be

Mozes And The Firstborn - Gimme Some
Dieselben Pedanten würden dann übrigens noch darauf hinweisen, dass bei Käptn Peng ein Apostroph fehlt. Und dann weitermachen: Textlich gefällt uns „I Got Skills“ von Mozes And The First Born eigentlich noch etwas besser: „Wir haben die Fähigkeit, es durch deine Haustür zu schaffen“, skandieren die Niederländer da im schönsten Seemanns-Lall-Chor. „Gimme Some“ knistert, bitzelt und schrammelt aber noch etwas dreckiger und versteckt hinter Lo-Fi-Gerumpel noch etwas offensiver, was für ein geiler Pop-Ohrwurm der Refrain ist.
http://www.youtube.com/watch?v=ufGcZv-ZKTw

Pharrell Williams - "Happy"
Kollegin H. schickte jüngst dieses Bild rum:  



Kollegin H. mag Dinos noch etwas mehr als die meisten anderen Menschen. Um sie und den Tyrannosaurus also aufzuheitern, und auch etwas aus Chronisten-Pflicht soll hier auf Pharrell Williams Song „Happy“ beziehungsweise auf sein 24-Stunden-Ich-dudel-dir-das-Hirn-zu-Brei-Endlosschleifen-Video hingewiesen werden. "Klatsch mit, wenn du dich wie ein Zimmer ohne Dach fühlst“, heißt es da. Oder auch: „Klatsch mit, wenn du Frohsinn als die Wahrheit erachtest." Für das Video hat der Produzent eine eigene interaktive Seite ins Netz gestellt, für die die meisten ihren Browser aktualisieren müssen, und auf der man sich den ganzen Tag von tanzenden Menschen begleiten lassen kann. Wir vermuten, dass Williams das alles nur tut, um zu beweisen, dass er inzwischen auch im Winter noch einen Sommerhit lancieren kann. Und wir freuen uns auf Zeitraffer-Videos von Menschen, die die kompletten 24 Stunden durchgehalten haben. Wir selbst trauen uns nicht – aus Sorge, zum Ausgleich irgendwann niedliche Welpen schächten zu wollen. Oder Dinos.  

Ach so, hier der „Trailer“ zum Video (hat vier Stunden):  
http://www.youtube.com/watch?v=RVCCNaBaan4#t=257

Donny Hathaway – Little Ghetto Boy 
Und hier noch etwas ganz Altes und dazu gleich einer dieser ja eigentlich fragwürdigen Superlative: Kein Soul-Künstler sang bewegender als Donny Hathaway. Man muss das freilich nicht so unterschreiben – denn natürlich ist Stevie Wonder der markantere, der vielschichtigere Songwriter, hatte Baby Huey noch eine Schippe mehr Dreck im Seelen-Kohlenkeller, waren Bill Withers’ Gesellschaftsbetrachtungen noch etwas gnadenloser. Aber man wird lange (vergeblich) suchen, um jemanden hervorzutauchen, der eine größere emotionale Bandbreite abdeckt als der Sänger und Komponist aus Chicago. Mit „Never My Love“ ist gerade eine Anthology erschienen, die Hathaways Werk auf vier CDs abbildet: Live-Aufnahmen, bislang unveröffentlichte Studio-Sessions, seine Duette mit Roberta Flack. Viel von diesem Zeug treibt einem die Tränen in die Augen – vor Tragik (Hathaway stürzte sich im Januar 1979 aus einem Hotelfenster), und dann vor Glück, und dann wieder von vorne.  
http://www.youtube.com/watch?v=YLUh70zp0LE

Ausgepackt

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Nehmen wir mal Müsli. Ein Müsli ist verpackungstechnisch eine Katastrophe. Da ist einmal die Schachtel. Altpapier, immerhin. In der Schachtel befindet sich eine Tüte. Plastik, sehr schlecht. Und darin ist dann endlich das Müsli. Das man in ein hübsches Vorratsglas schüttet, weil die Schachtel nicht gerade dekorativ aussieht. Dabei könnte es viel einfacher sein. Man könnte mit dem hübschen Vorratsglas zum Einkaufen gehen und sich seinen Müslivorrat nachfüllen lassen. Kann man aber nicht.  



Sara Wolf, Milena Glimbovski und Sarah Pollinger

Zwei Freundinnen aus Berlin haben daraus eine Geschäftsidee entwickelt. Die Mediengestalterin und Kommunikationswissenschaftlerin Milena Glimbovski, 23, und Sara Wolf, 30, Absolventin in Internationalen Beziehungen, wollen im kommenden Jahr den ersten Supermarkt in Deutschland eröffnen, der weitgehend auf Einwegverpackungen verzichtet. "original unverpackt" soll er heißen.  

Auf die Idee kamen Milena und Sara, als sie an einem Abend zusammen gekocht haben, damals waren sie noch Arbeitskolleginnen in einer Agentur. "Plastiktüten zum Transportieren nehmen wir schon länger keine", sagt Sara, "aber das ist ja nicht alles. Als wir nach dem Einkaufen die ganzen Tütchen und Dosen ausgepackt haben, sprachen wir darüber, wie unsinnig das ist. Manche packen ja auch noch die Avocado oder die drei Tomaten in eine extra Tüte."

Weniger Müll, weniger Ressourcen-Verschwendung  


Über Müll, speziell in Form von Plastiktüten, wird zur Zeit viel diskutiert. Mehr als acht Milliarden werden jedes Jahr allein in Europa weggeworfen. Die Grünen forderten Anfang des Jahres, jede Plastiktüte mit 22 Cent zu besteuern. Dabei entsteht der Müll schon vorher, und das ist die Idee von Sara und Milena: Verpackungsmüll von vornherein vermeiden. "Precycling" nennen sie das. Das spart einerseits Ressourcen wie Wasser und Erdöl, die man für die Produktion braucht, und es wird weniger Müll produziert.

[plugin bildergalerielight Bild3="Nudeln werden zum Beispiel über sogenannte Gravity Buns abgefüllt" Bild5="" Bild4=" "]

Sara und Milena stellen sich ihren Supermarkt so vor: Die Kunden bringen Gläser, Mehrwegflaschen, Dosen oder waschbare Nylonsäckchen mit, oder kaufen beziehungsweise leihen diese in ihrem Geschäft. Die Behälter werden vor dem Einkauf ohne Inhalt gewogen, wie beim Erdbeerenpflücken. Und dann füllen die Kunden ihre Döschen mit allem auf, was sie so brauchen. Nudeln, Reis, getrocknete Erbsen und Bohnen oder Linsen könnten aus "Gravity Bins" (siehe Skizze in der Bildergalerie) rieseln. Milch und Öl könnten wie in einer Saftbar ausgeschenkt werden. Und Sachen, die man nicht ohne Einzelverpackung verkaufen darf, wie Fleisch? "Das würden wir dann umweltschonend verpacken, zum Beispiel in Bienenwachspapier", sagt Sara.  

Wenn Lebensmittel nicht mehr industriell verpackt sind, hat das noch einen zweiten Vorteil: Man kann nur die Mengen kaufen, die man wirklich braucht. Oft ist das nur ein Teelöffel Kardamom für ein Rezept, und keine ganze Dose. Die Franchise-Kette "Kochhaus" (die Gründerin im Interview mit jetzt.de) verkauft schon seit einer Weile mit Erfolg Zutaten nach Rezepten.  

Das Sortiment von "original unverpackt" soll ebenso nachhaltig sein wie die Idee, auf Verpackungen zu verzichten. Fleisch und Milchprodukte sollen Bio-Qualität haben, ansonsten ist ihnen regionale Herkunft wichtiger. "Es wird auch konventionell produzierte Lebensmittel geben. Bio aus Israel oder China ist für uns nicht Bio", sagt Sara. Auch Obst und Gemüse, das nicht den optischen Standards entspricht, wie es in Berlin die Culinary Misfits verarbeiten, könnten sie sich vorstellen zu verkaufen. Preislich soll ihr Laden etwa auf "Rewe-Niveau" kommen, sagt Sara. Eigentlich unvorstellbar für ein kleines Geschäft, wie ihres wenigstens am Anfang sein wird. Mit ihren kleinen Bestellmengen haben sie viel höhere Ausgaben als die großen Ketten. Doch das soll das Wegfallen der – nicht unerheblichen – Kosten für die Verpackung wettmachen, erklärt Sara.

Vorbilder in London und Texas  


Die Idee eines verpackungsfreien Supermarkts gibt es schon länger. Die Londonerin Catherine Conway betreibt seit 2007 das Lebensmittelgeschäft Unpackaged (in diesem Video sieht man ganz gut, wie das Konzept funktioniert). In Austin/Texas haben die Brüder Christian, Joseph und Patrick Lane 2012 ihren Lebensmittelladen in.gredients eröffnet. Sie verkaufen ausschließlich Produkte aus der Region und ebenfalls alles ohne Verpackung. In Deutschland ist das Konzept neu, wenigstens für Supermärkte.  

Vor kurzem besuchten Sara und Milena das Geschäft von Catherine Conway. "Wir haben uns mehrere Lebensmittelläden in London angesehen, dort ist die Stimmung ganz anders, viel herzlicher freundlicher, hilfsbereiter", sagt Sara. So stellen sich die beiden auch ihren Laden vor: als Treffpunkt, mit Veranstaltungen, Seminaren und Vorträgen über nachhaltiges Leben oder das Einkaufen der Zukunft.  



So könnte "original unverpackt" später aussehen. Der Entwurf kommt vom Architekturbüro NAU Berlin.

Auch wenn noch kein Eröffnungstermin steht, wurden die drei mit ihrer Idee schon mehrfach ausgezeichnet: Beim Businessplan Wettbewerb Berlin-Brandenburg belegten sie den ersten Platz im Bereich "Beste Idee und Marketing" und in der Gesamtbewertung Platz vier, außerdem erhielten sie den Nachhaltigkeitspreis des Wettbewerbes. Vom Bundeswirtschaftsministerium wurden sie als einer von 32 "Kultur- und Kreativpiloten Deutschlands" ausgezeichnet.  

Ihre Jobs in der Agentur haben Sara und Milena inzwischen gekündigt, und Sarah Pollinger, 26, als Unterstützung in Einkauf und Logistik dazugeholt. Im kommenden Jahr wollen die drei ihren Laden eröffnen, zunächst als Testmarkt, und am liebsten in Kreuzberg. "Da ist das junge kreative Leben, also genau unsere Zielgruppe", sagt Sara. Gerade suchen sie noch nach Investoren, auch Crowdfunding können sie sich vorstellen. "Das wird nur nicht reichen, wir brauchen etwa 100.000 Euro", sagt Sara. Im Moment arbeiten sie nebenbei zwei Tage die Woche in einem veganen Supermarkt beziehungsweise Café, um etwas dazuzuverdienen. Wenn alles klappt, wollen sie "original unverpackt" bald hauptberuflich machen. Und ihr Konzept auch in andere Städte bringen.

Die KW 48: Trier und Schluss mit der blöden Glückswoche

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Wichtigster Tag der Woche: Das ganze Wochenende wird superwichtig, da fahre ich nämlich zu einer Freundin in die Nähe von Trier. Sie wohnt da bestimmt schon seit drei Jahren und ich habe es bisher einfach nicht geschafft sie zu besuchen. Also hüpfen ich und eine weitere gute Freundin Freitagabend auf den Zug und freuen uns auf ein Wochenenende voller Weintrinken und Weihnachtsmärkte. Yippie!




Politisch interessiert mich: Die Zukunft der großen Koalition. Gestern habe ich gelesen, dass immer weniger Menschen noch davon überzeugt sind und immer mehr Neuwahlen wollen. Zwar glaube ich bei derartigen Studien auch nur die Hälfte, aber prinzipiell bin ich auch skeptisch, was den SPD-Mitgliederentscheid Mitte Dezember angeht.

Kino?
Unbedingt! Ich fand, dass es kinotechnisch im Spätsommer eine ziemliche Dünneperiode gab. Aber jetzt kommen lauter interessante Sachen. Letzte Woche habe ich "Jung & schön" von François Ozon gesehen und fand den ziemlich super. Nun läuft "Venus im Pelz" von Polanski und irgendwie mag ich ja das Herbe im Gesicht von Emanuelle Seigner. Nach dem Trailer wollte ich zunächst auch gern "Tage am Strand" nach einer Erzählung von Doris Lessing sehen. Den Kritiken zufolge ist das ganze aber doch eher zur Rosamunde-Pilcher-Schmonzette ausgeartet, von daher schenke ich mir den Film wohl und lese das Buch.
http://www.youtube.com/watch?v=ztasskFNOac

Wochenlektüre: Ich liege in den letzten Zügen von Wolfgang Herrndorfs "Sand". Mit Abstand bester Satz: Die Stimme einer großbrüstigen Blondine wird mit der eines "sprechenden Kaugummis" verglichen. Hat mich sehr unter der Decke kichern lassen.

Geht gut: Kinder Pingui. Esse ich mittlerweile täglich im Büro, obwohl Ferrero bekanntermaßen ja immer die bescheuertsten Werbungen von allen hat.

Geht gar nicht:
Diese dämliche Glückswoche, die in den öffentlich-rechtlichen letzte Woche in Dauerschleife zelebriert wurde. Bin ich froh, dass das vorbei ist. Reportagen aus Bhutan, Glücksforscher und Eckart von Hirschhausen - ich kann's nicht mehr hören und sehen.

Soundtrack der Woche:
Tatsächlich ein "Soundtrack" - nämlich der zum Film "Inside Llewyn Davis". Auf dem Folk-Album singen neben Darsteller Oscar Isaac auch Marcus Mumford und Justin Timberlake. Besonders schön, wenn man abends im Dunkeln nach Hause kommt und einfach nur noch rumliegen möchte.

Und sonst so? Die nächste Woche ist ja die letzte Woche vor Dezemberbeginn. Insgeheim hoffe ich also, dass meine Mama diesen Text liest und mir einen Adventskalender kauft. Das wäre so großartig.
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